Die Kraft der Vision

Weltbürgerschaft

Eine commonsbasierte Gesellschaft entsteht durch souveräne Weltbürger.von James Bernard Quilligan, erschienen in Ausgabe #20/2013
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© global commons trust

Spätestens seit der Finanzkrise besteht Einigkeit darüber, dass die globale Wirtschaft bessere Regulierungen, Gesetze und Institutionen braucht. Doch wie kann ein neues Wirtschaftssystem fair und gerecht werden? Niemand weiß es genau. Sicher ist, eine Ökonomie des Teilens darf nicht auf politischen Interessen oder Ideologien beruhen. Sie muss sich daran orientieren, wie die Welt und ihre Teilsysteme tatsächlich funktionieren.
Fast jeder versteht den Unterschied zwischen privaten Gütern – Waren und Dienstleistungen, die von Unternehmen produziert werden – und öffentlichen Gütern – Erziehung, Straßen oder Rechtssystem. Ebenso klar lässt sich zwischen Privateigentum und Gemeineigentum differenzieren – man denke bloß an den Unterschied zwischen Beeren, die auf dem Markt verkauft werden, und jenen, die wir im Wald sammeln. Doch die Unterschiede zwischen den beiden Grundformen kollektiven Eigentums – zwischen öffentlichen Gütern und Gemeingütern – verschwimmen. Gemeingüter (»Commons«) sind Dinge, die Menschen gemeinsam nutzen und verwalten, indem sie, basierend auf Traditionen oder sozialen Normen und Praktiken, ihre eigenen Regeln aushandeln.

Wenn Produktion und Konsum zusammenfallen
Die Unterscheidung zwischen Gütern und Commons trägt auch dazu bei, die theoretische Trennung von Produzenten und Konsumenten aufzuheben. Dies ist von größter Wichtigkeit. Im derzeitigen System erzeugt die Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Konsumenten eine hierarchische Struktur, die angeblich ökonomisch effizient, produktiv und qualitätsfördernd sei und zugleich die Kosten von Gütern und Dienstleistungen senke. Doch viele Gemeinschaften haben ihre eigenen Regeln und Normen entwickelt, mit deren Hilfe sie ihre Ressourcen nachhaltig nutzen können: seien es traditionelle Commons – Flüsse, Wälder oder indigene Kulturen – oder neu entstehende – ­Solarenergie, soziale Innovationen oder das Internet. Diese Nutzergemeinschaften funktionieren im Grund nach Produktions- und Managementprinzipien, die im Neoliberalismus geradezu idealisiert werden: Spontaneität, sich selbst regulierende Freiheit (»der Markt«) und regelbasierte Gleichberechtigung (»der Staat«). Wenn aber aus Konsumenten Co-Produzenten von Gütern und Dienstleistungen werden, die sie selbst brauchen, dann überwindet ihr verbindendes Tun nicht nur Privatisierung und Zentralisierung, sondern auch die Vorstellung, dass Institutionen nur von oben verändert werden können. Wenn Ressourcennutzerinnen und -nutzer direkt in Produktionsprozesse eingebunden sind, gehen ihr Wissen, ihre Erfahrungen, ihre Visionen und ihre Überlegungen unmittelbar ins gemeinsame Handeln ein. Durch die kooperative Herstellung und Handhabe von Dingen bleibt die Entscheidungsfreiheit der Individuen gewahrt. Direkt und lokal organisierte Commons sind also produktive Systeme und eine Governance-Form jenseits der modernen Arbeitsteilung.
Die Unterscheidung zwischen Commons und öffentlichen Gütern ist unerlässlich, wenn wir Commons-Institutionen schaffen wollen, die von all jenen getragen werden, deren Existenz und Wohlergehen von einem bestimmten Gut abhängen. Wenn eine Gruppe, verbunden durch eine soziale Praxis oder regionale Beheimatung, Verantwortung für die Erhaltung ihrer Ressourcen übernimmt, kann sie dies mit einer Sozialcharta formalisieren. Sozialchartas umreißen die Rechte und Anreizstrukturen für die gemeinsame Ressourcennutzung. Auch die Beziehungsmuster zwischen der Ressource und den Menschen, die sie nutzen, verwalten und produzieren, werden darin beschrieben. Damit diese Sozialchartas wirksam werden können, schaffen die Produzenten und Nutzer von Ressourcen eine Rechtsperson: den »Commons-Trust«. Trusts dienen dazu, nicht erneuerbare Ressourcen zu erhalten. Aber auch soziale, kulturelle und geistige Gemeingüter können im Rahmen von Trusts verwaltet und erneuert werden. Die Mitglieder des Trusts definieren eine Obergrenze (»cap«) für den Abbau beziehungsweise die Entnahme einer Ressource. Diese Grenze wird nach nicht-monetären, generationsübergreifenden Maßstäben wie Nachhaltigkeit und Lebensqualität bestimmt. Ist die Erhaltung für nachfolgende Generationen gesichert, kann der Trust einen Teil seiner Ressourcen und Produktion innerhalb der festgelegten Obergrenze an den Privatsektor oder den Staat verpachten. Ein Teil dieser Pacht wird vom Staat besteuert und den Bürgern als Dividende oder Grundeinkommen ausgezahlt und in die Regeneration übernutzter Ressourcen investiert.
Durch Trusts kann ein umfassendes Commons-basiertes Wirtschafts- und Governance-System entstehen: Commons werden langfristig geschützt, der private Sektor profitiert von der Produktion mit Ressourcen, die er pachtet, und der Staat besteuert dies, um übernutzte Gemeinressourcen wiederherzustellen.
Welcher Teil der Gesellschaft könnte am besten dafür sorgen, dass Commons unabhängig von privaten und öffentlichen Gütern bestehen? In den vergangenen Jahrzehnten hat die organisierte Zivilgesellschaft begonnen, sich als »dritten Sektor« jenseits von Markt und Staat zu definieren. Durch ihren Einsatz für die Rechte unterrepräsentierter Gruppen sind globale Netzwerke, NGOs, Vereine und soziale Bewegungen zu einer authentischen und weltweit wahrnehmbaren Stimme geworden. Viele ihrer Themen – Nahrung, Wasser, saubere Luft, Umweltschutz, erneuerbare Energie, Informationsfreiheit oder die Rechte indigener Menschen – lassen sich am besten mit commonsbasierten Ansätzen bearbeiten.

Die Zivilgesellschaft als systemverändernde Kraft
Diese im eigenen Auftrag tätigen Gruppen besitzen jedoch nicht die Autorität global repräsentativer Institutionen. Da sie nicht durch Wahlen legitimiert sind, gelten sie nicht als gleichberechtigte politische Akteure. Die Zivilgesellschaft mag die globalen Machtverhältnisse anprangern, kann die ihnen zugrundeliegende Struktur jedoch kaum verändern. Indem sie die institutionellen Voraussetzungen des Neoliberalismus akzeptieren (wie das Primat von individuellen Rechten, Privateigentum und nationalen Grenzen), halten die meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen die Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Konsumenten aufrecht und unterstützen damit sogar die Einhegung der Commons. Viele Gruppen, die sich für Ökologie oder Armutsbekämpfung einsetzen, suchen nach Lösungen, die auf Eigentumsrechten und staatlicher Regulierung beruhen. Deshalb bleibt die Zivilgesellschaft in einer Art Co-Abhängigkeit von Unternehmens- und Regierungspolitik und von Vereinnahmung bedroht. Die Herausforderung für die Zivilgesellschaft besteht nicht darin, sich als Gegenkraft zu Markt und Staat zu profilieren, sondern wirklich systemverändernd zu wirken. In dieser Hinsicht kann sie von Commons-Aktivisten lernen, wie wichtig es ist, die Ressourcennutzer in den Produktionsprozess einzubeziehen. Wenn Ressourcennutzer zugleich Co-Produzenten sind, werden ihre Motivation, ihr Wissen und ihr Können Teil der Produktion. Dies ermöglicht neue Interaktions- und Koordinationsformen in Wirtschaft und Gesellschaft.
Zivilgesellschaftliche Organisationen könnten dann als Katalysatoren für die Integration von Produktion und Konsum wirken und zu Commons-Trusts werden. Die Menschen bekämen durch Trusts mehr Möglichkeit zu Partizipation und Mitgestaltung; dies würde wiederum ökonomische, soziale und politische Entscheidungen verändern – von der lokalen bis zur globalen Ebene.
Commons von öffentlichen Gütern zu unterscheiden, ist also entscheidend, wenn unsere Grundrechte als »Weltbürger« an Commons anerkannt werden sollen. Heute sind diese Rechte nicht abgesichert, weil die Bürger auf der überstaatlichen Ebene kaum vertreten sind. Als Bürger übergeben wir unsere Macht qua Gesellschaftsvertrag an Regierungen und bekommen im Gegenzug öffentliche Güter wie Sicherheit und Infrastruktur. Indem wir unsere persönliche, subjektive Entscheidungsmacht den Regierungen überlassen – die wiederum Unternehmen mit Rechten ausstatten –, verlieren viele von uns ihr Gefühl für Identität und Sinnhaftigkeit.

Weltbürgern Souveränität geben
Der Souverän, das sind jedoch die Menschen, nicht die Regierungen. Die unveräußerlichen Rechte der Menschen leiten sich nicht aus der Herrschaft über ein Territorium ab, sondern aus einer traditionellen oder sich neu entwickelnden Identifikation mit der Welt, in der sie leben; aus einer kollektiven Tätigkeit; einer gemeinsamen sozialen Praxis; einem gemeinsamen Bedürfnis oder einer gemeinsamen Überzeugung; aus der besonderen Kultur einer Region; einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Verwandtschaft oder aus einer historisch gewachsenen Identität.
Wenn Menschen erkennen, dass ihre Commons ihren Lebensunterhalt nicht mehr sichern, beginnen sie vielleicht, ihr angeborenes Recht als Bürger dieser Erde einzufordern, lokal wie global. Diese Rechte auf alle Ressourcen – Atmosphäre, Ozeane, Wälder, Artenvielfalt, Nahrung, Wasser, Energie, Gesundheitsversorgung, Technik, Medien, Handel, Finanzen etc. – sind darin begründet, dass das Überleben und die Sicherheit einer Gemeinschaft von ihnen abhängen und wir gemeinsam für das Wohl nachkommender Generationen verantwortlich sind. Die Notwendigkeit der Existenzsicherung stattet uns mit einer neuen moralischen und sozialen Verantwortung aus: Ressourcennutzer müssen direkt in die Erhaltung und Produktion ihrer Commons einbezogen werden.
Selbstbestimmung über die Co-Produktion und Co-Verwaltung von Ressourcen (Ressourcensouveränität) beinhaltet also, dass Menschen unmittelbar an Entscheidungen über ihre Subsistenzmittel und ihr Wohlergehen beteiligt sind. Dazu gehört auch das Recht, externe Herrschaft, Einhegung, Kommodifizierung und Zerstörung spezifischer Commons zurückzuweisen. Statt individuelle oder bürgerliche Rechte vom Staat einzufordern, erklären Commoners ihre souveränen Rechte auf Zugang zu den Gemeinressourcen, die sie erhalten, produzieren, verwalten und nutzen. Die Souveränität der Menschen über den Commons wird durch ihre »Weltbürgerschaft« legitimiert, und diese wiederum legitimiert sich durch die lokale Souveränität über die Commons. Menschen werden so als Treuhänder anerkannt, die gemeinsamen Besitz im Interesse heutiger und künftiger Generationen sowie anderer Arten verwalten.
Das neue globale Wirtschaftssystem und der neue Gesellschaftsvertrag werden nicht auf den Unternehmensansprüchen oder auf staatlicher Souveränität gründen, sondern auf den souveränen Rechten der Menschen auf ihre Commons. 
  

Bearbeitete Fassung aus: Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung: Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript 2012.
 

James Bernard Quilligan (62) ist seit vier Jahrzehnten als Experte in Finanz- und Wirtschafts­fragen im internationalen Kontext tätig. Er beriet Regierungen in sechsundzwanzig Ländern; unter anderen arbeitete er mit François Mitterrand, Olof Palme, Jimmy Carter und Prinz Hassan von Jordanien zusammen. Von 1978 bis 1984 wurde Quilligan in die »Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen« unter Vorsitz von Willy Brandt berufen. Seine Artikel, unter eigenem Namen oder für Politiker verfasst, ­erschienen in international bedeutenden Publikationen. Für zahlreiche Projekte der Vereinten ­Nationen und internationaler Entwicklungsorganisationen war er beratend tätig.
Während seiner Mitarbeit an den UN-Millennium-Entwicklungszielen wurde ihm bewusst, dass »die Entwicklungsagenda der Welt nicht funktionieren kann, weil sie ausschließlich nach Top-Down-Prinzipien von oben nach unten propagiert« werde; vielmehr lasse sich »menschliche, soziale und ökologische Entwicklung am besten durch Commons-Ansätze ­erklären«. Derzeit leitet James Quilligan das aus der Brandt-Kommission hervorgegangene »Centre for Global Negotiations« in Philadelphia und steht dem von ihm ­begründeten »Global Commons Trust«, einer Initiative zur Schaffung selbstverwalteter ­Gemeingüter-Trusts, vor.
www.globalcommonstrust.org

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