Titelthema

Schule der Souveränität

Auf die Walz zu gehen, war früher ein ­klassischer Bildungsweg. Aber auch heute gibt es Möglichkeiten, als »Fahrender« zu ­lernen. Diese Erfahrung machte Aurel Pauleit im »­Omnibus für Direkte Demokratie«von Elena Ball, erschienen in Ausgabe #19/2013
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Der »Omnibus« unterstützt regionale Volksabstimmungen und initiiert Kampagnen wie »Schule in Freiheit!« für die Gleichberechtigung aller Schulformen oder »Aktion Volksabstimmung!« für einen Volksentscheid auf Bundesebene. Der ehemalige Berliner Doppelstockbus, der ausgebaut mit Essraum und fünf Betten seit 2001 durch Deutschland reist, ist auch schon bis zur Wiege der Demokratie nach Athen gekommen, um seine Ideen zu verbreiten.
Um den theoretischen Teil seiner Jahresarbeit mit der Schilderung handfester Erlebnisse zu ergänzen, war Aurel als 17-Jähriger eine Woche durch seine Heimatgegend in Nordrhein-Westfalen im Omnibus auf Tour. Danach ging es nochmals für zweieinhalb Wochen durch die neuen Bundesländer. »Ich habe diese Gegend von Deutschland erstmals richtig kennengelernt, das war genauso spannend, wie wenn ich nach Australien geflogen wäre,« erzählt Aurel. »Man erlebt die Städte, Straßen und Menschen ganz unmittelbar, weil man ja selbst auf der Straße lebt.«
Die Arbeit im Omnibus folgt einer festen Tagesstruktur: gemeinsames Frühstück, Aufstellen der Tische vor dem Bus, Gespräche führen, einkaufen, abendliches Kochen. »Dieser Rhythmus hat geholfen, mich in dieses ungewöhnliche Arbeitsumfeld einzufinden. Abends war ich müde, doch zugleich innerlich regeneriert.«
Eines Morgens reinigte Aurel die den weißen Bus im oberen Bereich umlaufende Messingschiene. Die Landschaft spiegelte sich darin wie Gold. Später beobachete er, wie Omnibus-Fahrer Werner Küppers den Bus so platzierte, dass die geheimnisvoll schimmernde Goldkrone schon vom gegenüberliegenden Eingang eines Bahnhofs aus zu sehen war. »Die Bürgerinnen und Bürger sind der Souverän und tragen eine Krone«, ist die Botschaft. Während Aurel an diesem Tag vor dem Omnibus Gespräche führte, wurde Beuys Begriff der »Sozialen Plastik« für ihn erstmals greifbar. Mit den anderen Mitfahrenden – Künstlerinnen, Studenten, Autodidakten, Politikwissenschaftlerinnen – entstanden über diesen Aspekt und andere Themen seiner Arbeit immer wieder Gespräche.
Im Dialog mit interessierten Menschen vor dem Bus war es für ihn erst eine große Herausforderung, auf überflüssige Füllwörter wie »Ähm« oder »Also« zu verzichten. »Jeder Griff muss sitzen«, meinte Joseph Beuys, und das wird auch im Omnibus kultiviert, ob beim Einräumen von Bioessen in den Kühlschrank oder beim Verstauen der persönlichen Habseligkeiten unter den Betten, damit das Zusammenleben auf kleinstem Raum angenehm bleibt.
»Vor allem durch die Erfahrung, ›offensiv gesprächsbereit‹ vor dem Omnibus zu stehen, ohne Ablenkung durch Zeitung oder Handy in der Hand, und mit jedem über Direkte Demokratie zu sprechen, war sehr eindrucksvoll«, erinnert sich Aurel. »Ich habe geübt, offener zu werden, aufmerksam zuzuhören und frei zu sprechen.« Oft ging es darum, wie sich die Lebenswelt ändern würde, könnten die Menschen direkt über ihre Belange entscheiden.
Zu erleben, welche Kraft eine Idee freisetzen kann, lässt Aurel heute anders durch den Alltag gehen: »Ich weiß, ich entscheide mich selbst dafür, morgens aufzustehen, auch wenn es vielleicht Überwindung kosten mag, und es ist meine eigene Entscheidung, wie ich meinen Tag gestalte.« Diese Gestaltungsmacht in die Gesamtgesellschaft einzubringen, will die Direkte Demokratie ermöglichen – das ist mehr, als eine Blankovollmacht für eine Partei auszustellen. Eine Politik, in der, jenseits von Parteiengezänk, Bür­gerinnen und Bürger im Bewusstsein, als souveräne Menschen zu handeln, über Sachfragen entscheiden, wäre eine ganz andere.
Dieser Gedanke veränderte Aurels Haltung zur Schule. Nachdem er erlebt hatte, dass sie nicht der einzige Ort zum Lernen ist, fragte er sich, ob und warum er einen Schulabschluss erwerben wolle. Er wiederholte ein Schuljahr, um Zeit zu haben, sich an anderen Orten mit anderen Dingen zu beschäftigen, mit elektronischer Musik zum Beispiel, die er zusammen mit Freunden produziert. Nun steht er kurz vor den Abiturprüfungen – und vor der Frage, wie es danach weitergehen soll, ob er etwa die Musik zu seinem Beruf machen will. Nach dem Abitur wird er jedenfalls wieder einen ganzen Monat lang mit dem Omnibus mitfahren.  
 

Aurels Musik: www.dorfjungs.org
Wer im Omnibus mitfahren will: www.omnibus.org

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