Bildung

Die Intelligenz des Spielens

Michael Mendizza, der in seinem Institut »Touch the Future« eng mit dem bekannten Autor ­Joseph Chilton Pearce zusammenarbeitet, sprach mit ihm über die kindliche Entwicklung beim kreativen Spiel.von Michael Mendizza, Joseph Chilton Pearce, erschienen in Ausgabe #18/2013
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Joseph, seit vielen Jahren verwende ich die Wendung »Intelligenz des Spielens«. In deiner Arbeit hat das Thema »Spiel« einen zentralen Stellenwert. Worin besteht eigentlich der Zusammenhang zwischen Spielen und Lernen?

Für ein Kind ist echtes Lernen ohne Spielen nicht möglich. Erst im wirklichen Spiel kommt es zu einem tatsächlichen Lernprozess. Natürlich können wir Konditionierungen – wie den bekannten Pawlowschen Reflex bei Hunden – oder Verhaltensänderungen auch durch andere Mittel bewirken, die wir sehr ernsthaft erwägen und allgemein »Lernen« nennen. Das ist aber kein Lernen, sondern Konditionierung. Echtes Lernen passiert in dem Zustand, den Maria Montessori wohl als den »absorbierenden Geist« des Kindes bezeichnen würde. Kinder nehmen ihre Welt in sich auf, werden eins mit ihr, und das geschieht über das Spielen – was die ernsthafteste Tätigkeit im Leben eines Kindes sein kann.
Die drei Ebenen des Geists – Gedanken, Gefühle, Handlungen –, der Körper: Jeder Aspekt des kindlichen Selbsts fokussiert sich vollständig darauf, seine Welt, seine Umgebung in sich aufzunehmen. Dadurch bauen Kinder buchstäblich ihr Weltwissen und ihr Wissen über sich selbst und die zwischen beiden bestehenden Zusammenhänge auf. Sie erschaffen so alle Grundlagen für die späteren Formen von Intelligenz. In all dem ist das Spielen die Aktivität an sich.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Zustand des Spielens optimal für Lernen und Leistung ist, was geschieht dann in der Schule, die so gar nichts Spielerisches hat?

Schulen dienen der Konditionierung. Einige Verhaltensaspekte sollen so antrainiert werden, dass das Kind auf eine bestimmte Weise reagiert. Dazu müssen wir stets den durch das Spielen des Kindes begründeten, eigentlichen Lernprozess unterbrechen, um die aus unserer Sicht wünschenswerten Konditionierungen zu etablieren.
Das heißt, unser Schulsystem ist weitgehend auf Konditionierung ausgerichtet – und nicht auf echtes Lernen, wie es beim Kind nur durch das von uns Erwachsenen so bezeichnete »Spielen« zustandekommt. Dazu gab es schon 1963 eine vielfach publizierte Aussage des Carnegie-Instituts, wonach Kinder nur etwa 3 bis 5 Prozent der gesamten von uns vermittelten Informationen oder Konditionierungen behalten. Nur 3 bis 5 Prozent!
Das im Zustand des Spielens Gelernte ist dagegen geradezu im Gehirn »eingebrannt« – dauerhaft und unverlierbar. Wenn wir also endlich den direkten Zusammenhang zwischen Spielen und Lernen und den Riesenunterschied zur Konditionierung erkennen und uns neu darauf ausrichten, könnten wir in unserem gesamten Schulsystem große Erfolge erzielen und vielleicht zu einem Anteil von 95 Prozent kommen. Wir müssen uns dabei aber vom natürlichen Lernprozess des Kindes leiten lassen.

Also gibt es einerseits das, was du als »echtes Lernen« bezeichnest, und andererseits Training, Konditionierung, Verhaltensänderung. Ist eigentlich Platz für beides?

Zunächst müssen wir anerkennen, dass wir von Anfang an auf bestimmte Weise das Prinzip der Konditionierung beim Kind anwenden müssen – da gibt es gar keinen Zweifel. Das gilt besonders in unserer modernen Welt, in der viele Dinge für das Kind einfach außer Reichweite sein müssen. Kinder müssen lernen, dass sie sich auf bestimmte Weise bewegen und verhalten können, auf andere dagegen nicht, da sie sich damit möglicherweise in Lebensgefahr begeben. Genauso wichtig ist aber, dass die Erwachsenen für die Kinder und ihre Welt des Spiels einen sicheren, geschützten Raum schaffen, so dass sie sich wirklich öffnen und entfalten können.
Wenn wir diese zwei Aspekte verwechseln, sind wir uns nicht darüber bewusst, dass das Kind beides braucht: sowohl den Freiraum zum Spielen als auch eine gewisse Konditionierung. Wenn wir das Spielen zur Konditionierung machen, oder umgekehrt, führt das in der gesamten neuronalen Entwicklung zu einem großen Durcheinander.

Der Zustand des Spielens mit seiner Neugierde und dem Staunen bleibt immer gleich. Was sich dagegen ändert, ist die Art der jeweils altersangemessenen Aktivität. Beginnen wir also an einem ganz frühen Punkt der kindlichen Entwicklung …

Wenn wir uns das Alter von ein bis vier Jahren anschauen, so kommt darin dem spielerischen Nachmachen eine entscheidende Rolle zu. Die Kinder schauen sich um, erblicken ihre Bezugspersonen, wie sie bestimmte Handlungen ausführen, und sie wollen dann das Gleiche in ihrer eigenen Welt tun. In diesem Prozess findet ein Großteil des metaphorischen, symbolischen Lernens statt: Das Kleinkind nimmt einen Gegenstand in die Hand, der für einen anderen in der Welt der Erwachsenen steht. So wird der Deckel des Marmeladenglases zur Rührschüssel, welche die Mutter gerade benutzt. Etwas anderes repräsentierende Gegenstände, metaphorisches, symbolisches Denken – all das ermöglicht es dem Kind, die riesengroße Welt der Erwachsenen in seiner kleinen Welt nachzubilden, die es selbst erfassen und kontrollieren kann. Also bildet das imitative Spielen die Grundlage für metaphorische, symbolische Gedankengänge, die wir in abstrakten Sprachen, in der Mathematik, in chemischen Formeln usw. anwenden. Dann kommt es aber – etwa im Alter von vier Jahren – zu einer Veränderung, die ich als »Traumkind« bezeichnen möchte. Es beginnt die faszinierende Periode des intuitiven Denkens und des Ausdenkens eigener Welten, die keine »Imitationen« mehr verkörpern. Jetzt bewegt sich das Kind innerhalb der von ihm selbst erdachten Welt und schafft sich ständig selbst neue Welten.

Wie ändert sich die spielerische Aktivität zwischen sieben und elf Jahren?

Jetzt geht es darum, Dinge selbst herzustellen. Kinder schauen auf ihr Lebensumfeld, entwickeln eigene Ideen und wollen damit die sie umgebende Welt verändern. Da geht es um ganz einfache Dinge, zum Beispiel Plätzchen zu backen aus vielen verschiedenen Zutaten, die miteinander verrührt und dann erhitzt werden – und alles wandelt sich grundlegend, zu einem Wunderwerk namens »Plätzchen«, das aus für sich genommen völlig »unschuldigen« Zutaten besteht. – Es geht also um diese Art von Spiel, darum, Dinge zu erschaffen. In diesem Sinn ist jede Art von Kunst eine Form des Spiels.

Was du beschreibst, hat viel mit Fantasie zu tun und damit, wie wir durch die Entwicklung unserer Vorstellungskraft buchstäblich unsere Beziehung zur Welt verändern. Was geschieht, wenn diese Kompetenz gar nicht oder verzögert entwickelt wird?

Schwedische Kinderärzte sind als erste zu dem Schluss gekommen, dass Kinder mit entwickelter Vorstellungskraft keine Zuflucht zu Gewalt nehmen, da ihnen eine nahezu unendliche Vielfalt anderer Szenarien zur Verfügung steht, die sie durchspielen können und von denen sie wissen, dass sie sich auf irgendeine Weise auf ihre Außenwelt auswirken. Dagegen müssen sich Kinder ohne Fantasie auf die direkte sinnliche Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks verlassen. Um auszuschließen, dass diese bedrohlich oder herabwürdigend ist, können sie dann nur versuchen, sich von der Quelle dieser Erfahrung abzuschneiden.
Andererseits kann das »fantasiebegabte« Kind diese niederen, unmittelbaren Verteidigungsmechanismen durch die höheren, von Vorstellungskraft geprägten Aspekte modulieren oder steuern, die im Neokortex ablaufen. Auch hier geht es wieder um etwas ganz Einfaches: Die Garnrolle steht für die Straßenwalze, das Auto oder einen ähnlichen Gegenstand. Durch diesen Prozess moderieren oder modulieren Kinder das sinnlich erfahrbare Objekt Garnrolle, nehmen es für die Straßenwalze oder das Auto stehend wahr und wollen stundenlang damit spielen. Später können diese niederen Sinneswahrnehmungen, das Streben nach Überleben, Schutz usw., durch dieselben höheren kortikalen Strukturen gesteuert oder moduliert werden, die das innere Bild erschaffen und es dem äußeren überlagern, so dass sich die Natur des letzteren im Sinn des ersteren verändert.
Wenn wir es also versäumen, diese natürlich angelegten Strukturen, Fähigkeiten und Kompetenzen auf einer angemessenen Stufe zu entwickeln, so fehlt uns nicht nur die Fähigkeit zum metaphorischen, symbolischen Denken, wie in Zahlensystemen, Formeln und vielen von uns verwendeten Sprachen. Uns ist es dann auch nicht möglich, unser eigenes Verhalten zu steuern.

Es gibt die Aussage, dass das Spielen erlernt werden muss und Kinder, mit denen nicht gespielt wird, nicht spielen können. Was bedeutet das nach deiner Auffassung?

Ich komme darauf zurück, dass wir mit dem Begriff des »Spielens« den von der Natur vorgesehenen Weg des Lernens bezeichnen. Wenn wir also davon ausgehen, dass ein Kind, mit dem nicht gespielt wird, das Spielen nicht lernen kann, dann bedeutet das, dass der Lernprozess des Kindes schwerwiegend behindert ist. Wenn Kinder extrem gewalttätig werden, kann man sagen, dass sie keinen Lernprozess durchlaufen haben. Damit meine ich das Sich-Öffnen und die Entwicklung der höheren kortikalen Strukturen, welche die niederen evolutionären Strukturen des Gehirns moderieren und steuern können – im Grund ein ganz einfacher Ansatz. Bei diesen Kindern kam es nicht dazu, weil mit ihnen nicht gespielt wurde. Das Spielen als Lernen und Lernen als »Anzapfen« der Bausteine der menschlichen Intelligenz, die in diesen Bereichen des Gehirns genetisch angelegt sind, in einer ganz bestimmten, im Zug der Evolution herausgebildeten Reihenfolge, das findet in solchen Fällen einfach nicht statt.

Was geschieht, wenn Kinder von Erwachsenen umgeben sind, die nicht spielen und die für die Kinder keine sicheren, zum Spielen einladenden Orte schaffen?

Der Grund dafür, dass die erwachsene Person schon mit dem ganz kleinen Kind, also zum frühestmöglichen Zeitpunkt, das Spielen einüben sollte – und danach sucht das Kind ja ständig und nimmt aus diesen Hinweisen sehr schnell Entwicklungsimpulse auf –, liegt darin, dem Kind zu vermitteln, dass es nichts Falsches gibt. Dass ein sicherer Raum vorhanden ist, in dem dieses Lernen stattfinden kann.
Später, in der Periode des vier- bis siebenjährigen »Traumkinds«, gibt es lange Zeiträume, in denen das Kind scheinbar nur in die Luft starrt und abwesend ist. Tatsächlich aber bewegt sich das Kind in die von ihm selbst erdachte Innenwelt und bedient sich seiner Kompetenz der Erschaffung innerer Szenarien, die es dann auf seine Außenwelt projiziert. Das ist ein fortlaufender Prozess, die eigene Schöpfung des Kindes, das sich eine sichere Welt erschafft. Kinder erschaffen keine Welten, in denen sie sich selbst Schaden zufügen, in denen sie Fehler begehen und dafür bestraft werden. Wir wissen, dass sich durch diese Prozesse die neuronalen Strukturen ausdehnen, die Nervenbahnen im Gehirn wachsen und neue Verbindungen schaffen müssen, um diese spielenden Aktivitäten auszuführen.
Bei all diesen Vorgängen bewegt sich das Kind in einer Welt, in der es keine Fehler machen kann und in der es keine Urteile und Bewertungen gibt, da es sich nur seine eigene Welt baut. Wenn Kinder der Welt, mit der sie eins werden sollen, nicht vertrauen können, sind sie nicht in der Lage, eine Wissensstruktur über die Welt, wie sie ist, aufzubauen. Sie betrachten dann die Welt als ihren Feind und kreieren eine Verteidigungsstruktur, um sich vor ihr zu schützen. Das führt dann tatsächlich zu einer drastischen Reduzierung der Sinneswahrnehmungen, die sie von dieser Welt erfahren. Da sind zum Beispiel die von Ängsten gepeinigten Kinder, die unter Vernachlässigung leiden und deren sinnliche Aufnahmefähigkeit im Vergleich zu Kindern, die in einem sicheren, emotional nährenden Umfeld aufwachsen, um 25 bis 30 Prozent gemindert ist.

Sprechen wir über das Kind im mittleren Alter von sechs bis acht Jahren − und wie dieser Lebensabschnitt eine geradezu explosionsartige Ausweitung der körperlichen Aktivität mit sich bringt …

Alle im Körper ablaufenden Prozesse sind jetzt weitgehend im Nervensystem angelegt, und die Kinder beherrschen nun ihren Körper wie nie zuvor. Im Alter von sechs bis sieben Jahren gibt es daher Perioden intensivster körperlicher Betätigung auf einer neuen Ebene. Da sind die kleinen Mädchen, die am liebsten 10 000 Mal hintereinander Seil springen. Oder die kleinen Jungen, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit losrennen, auf jeden hohen Baum klettern und ihre körperlichen Fähigkeiten auf jede nur erdenkliche Art ausprobieren wollen – mit dem letztlichen Ziel der Körperbeherrschung. Jede Art von Interaktion unterein­ander hat mit dieser Beherrschung des eigenen Körpers zu tun.

Wie verändert sich das Spielen, so dass es der Entwicklung des Kindes auf dieser ­Altersstufe dient?

Hier müssen wir uns erneut verdeutlichen, dass wir als Kind im Alter von sieben bis elf Jahren eine große Veränderung durchlaufen: vom Bezug zu den unmittelbaren Familienangehörigen hin zur größeren »Familie« der Gesellschaft und zur Interaktion mit ihr, mit den dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienenden Verhaltensweisen. Das geschieht innerhalb einer Gruppe kooperativer Menschen, die gemeinsam daran arbeiten, in ihrer Welt ganz konkrete, sichere Grenzen zu definieren. Darin besteht der große Wandel: im Aufkommen des sogenannten »sozialen Egos«. Das Spielen dient diesem Zweck. Gleichzeitig wollen wir unseren eigenen Körper beherrschen lernen und mit diesem neuen Werkzeug in der Welt spielen. All dies ist im Spielen in dieser Entwicklungsperiode angelegt. Um dann Lernen zu ermöglichen, müssen die Kinder Zugang zu einer sicheren, überschaubaren Welt haben, einer veränderten, klar umrissenen Welt, in der es so etwas wie »Fehlermachen« nicht gibt, in der das Falsche als Faktor einfach nicht existiert. Um sich also wirklich zu verbinden und zum Teil des sozialen Gefüges zu werden, muss die Möglichkeit von Fehlern ausgeschlossen werden. Die Kategorien »richtig« oder »falsch«, Gewinnen oder Verlieren spielen in der von der Natur vorgesehenen Entwicklung keine Rolle. Es geht darum, zu lernen, in sozialen Kontakt zu kommen, um ein Miteinander. Gleiches gilt für den körperlichen Ausdruck. Im Verein organisierter Sport ist Wettkampf, Konkurrenz, einer gegen den anderen. In diesem Alter ist so etwas aber völlig unangemessen und wird der Entwicklungsphase nicht gerecht.
Ein Kind, das ganz mit sich im Einklang ist, würde aus eigenem Antrieb nie auf diese Art spielen. Wenn wir Erwachsenen mit Vereinssport, mit Regeln und Vorschriften und dem ganzen Training der Kinder ankommen, setzt die Konditionierung ein. Diese Art von Intervention schafft keinen Raum dafür, dass sich die natürliche Intelligenz der Sozialisation in ihrer ersten Form, dem operationalen Denken, entfalten kann.

Für Kinder und Jugendliche ist es ganz natürlich, sich in Gruppen zusammenzuschließen, gemeinsame Aktivitäten zu organisieren, Regeln aufzustellen. Ich erinnere mich, dass Spiele unter den Kindern in unserem Wohnviertel die Runde machten. All das gibt es aber nicht mehr – heutzutage wird die ganze Organisation von den Erwachsenen erledigt.

Als wir Erwachsenen uns einmischten, zuerst in der Phase des Sandplatz-Baseball oder -Football, und so etwas wie einen kleinen Ligabetrieb organisierten, widersprach das natürlich grundlegend dem Zweck des Spielens für die Kinder. Als Kinder wären wir spontan zusammengekommen und hätten Mannschaften gebildet, uns zu Spielen verabredet, eigene Regeln aufgestellt. Durch das Aufstellen eigener Regeln ist überhaupt erst ein Spiel möglich. Ein Spiel besteht darin, die durch die Regeln gesetzten Grenzen auszutesten; wenn vorher keine Regeln vereinbart sind, gibt es keine Grenzen für das Spiel und damit kein Spiel als solches. Kinder und Jugendliche machen das alles unter sich selbst aus. All das ist erlaubt, und darauf kommt es an. Das berührt aber schon einen sehr spezifischen Punkt der Sozialisierung. Im Alter von sieben bis elf Jahren ist das dagegen noch sehr allgemein und umfassend.

Ziel von Wettkämpfen ist es, Erster zu werden, zu gewinnen. Wie passt das mit der von der Natur vorgesehenen Entwicklung zusammen?

Ich glaube nicht, dass Kinder in Kategorien wie »Gewinnen« oder »Verlieren« denken, bevor im Alter von elf oder zwölf Jahren die operationale Phase einsetzt. Davor ist das im Denken und Fühlen des Kindes überhaupt nicht natürlich. Gewinnen und Verlieren wären zu diesem Zeitpunkt eine verfrühte pubertäre Aktivität. Solches Denken würde auf ein Verteidigungssystem hinweisen, auf ein Kind, das auf der Hut ist gegenüber einer Welt, der es nicht vertrauen kann. Dann würde das Kind bei bestimmten Handlungen, die es ausführt, gewinnen, also in einem noch sichereren Raum ankommen, oder verlieren, was dann hieße, selbst den vorher vorhandenen sicheren Raum zu verlieren. Auf diese Weise kann man das Kind zu verschiedensten Aktivitäten bewegen, das kann man bis ins Extrem treiben. Es trägt aber nicht zur Entwicklung bei und schafft keine Grundlagen für die angestrebten Fähigkeiten.

In einem von Konkurrenz geprägten Umfeld gibt es den Glaubenssatz »Je früher, desto besser.« Wir neigen dazu, unsere Kinder frühzeitig »in die Spur zu bringen«, damit sie später so gut wie möglich abschneiden. Was ergibt sich daraus für die Gesamtentwicklung des Kindes?

Heutzutage bekommen unsere Kleinkinder schon mit drei oder vier Jahren einen Tennisschläger in die Hand und werden von eigenen Trainern gedrillt. Und die Eltern applaudieren den Kindern, überhäufen sie mit Vorschusslorbeeren. Im Verhältnis zu den Eltern entsteht der sichere Raum dann dadurch, dass die Eltern zufriedengestellt werden. Also ist die gesamte Energie des Kindes, all sein Bemühen darauf konzentriert. In der natürlichen Entwicklung ist so etwas aber nicht vorgesehen. So kommt es dazu, dass so oft frühreife Kinder, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt bestimmte Aktivitäten verfolgen, schnell ausbrennen, weil es keine umfassenden, fundamentalen Strukturen gibt, die dieser Art von Aktivität zugrundeliegen. Es kommt aber darauf an, die Entfaltung der einzelnen Entwicklungsstufen in ihrer jeweils eigenen Form zuzulassen. Dann wird der junge Mensch irgendwann automatisch seine Fähigkeiten im Wettstreit ausprobieren, wie es in späteren Phasen des Spiels nötig ist. Wenn man dagegen frühzeitig diesen Zwang auf das Kind ausübt, beraubt man es wiederum seines sicheren Lernraums. Es wird dann nicht in der Lage sein, sich in Richtung des freien Ausprobierens seiner Fähigkeiten mit anderen zu entwickeln.
Die Sicherheit – das von uns Menschen als sichere Lernumgebung empfundene Setting – ist von entscheidender Bedeutung: Wenn diese nicht vorhanden ist, muss man einen Teil seiner Energie für die eigene Verteidigung aufwenden. In einer Konkurrenzsituation oder wenn Erwachsene dem Kind ihre Ideen aufzwingen, reagiert es darauf, indem es sich sagt: Ich werde das vielleicht nicht schaffen, ich werde versagen, ich werde verlieren, ich werde bestraft, ich werde ausgeschlossen … Der Körper mit seiner ihm innewohnenden Weisheit ist dann nicht in der Lage, die Kräfte zu bündeln, die er für ein angemessenes Handeln braucht. In unserem Inneren sind wir im Zwiespalt mit uns selbst. Nur wenn diese Spaltung nicht vorhanden ist, können wir innerlich gesunden und das Heilige erfahren. Dann kann ein Lernprozess in Gang kommen.

Joseph, herzlichen Dank für das schöne ­Gespräch. •


Übersetzung aus dem Englischen: Steffen Walter.


Joseph Chilton Pearce (86), transdisziplinärer Forscher und Autor aus den USA, lehrt seit über 30 Jahren über die Bedürfnisse von Kindern und die Entwicklung einer humanen Gesellschaft.

Michael Mendizza (63), Autor, Lehrer, Dokumentarfilmemacher und Begründer des Lern­­zentrums »Touch the Future«. 
www.ttfuture.org

 

Erst lesen, dann spielen (lassen)
• Joseph Chilton Pearce: Biologie der Transzendenz: Neurobio­logische Grundlagen für die harmonische Entfaltung des ­Menschen. Arbor, 2004 
• Joseph Chilton Pearce, Michael Mendizza: Neue Kinder, neue Eltern: Die Kunst spielerischer ­Elternschaft und die Intelligenz des Spiels, Arbor, 2008
• Richard Louv: Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück! Beltz, 2011 

• Andreas Weber: Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur. Ullstein, 2011

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