Gemeinschaft

Selbstverwaltet wohnen

Das Wohn- und Kulturprojekt »Rigaer 78« in Berlin.von Juliane Rudloff, erschienen in Ausgabe #16/2012
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© Gregor von Glinski

 Die meisten Menschen verbinden Selbst­bestimmung mit dem Eigenheim im Grünen oder auf dem Land. Aber wie sieht es in der Stadt aus? Kann in den städtischen Mietskasernen in Eigenregie gewohnt werden? Und das noch dazu in Gemeinschaft, wo die Nachbarin ihren Nachbarn kennt? Das Wohn- und Kulturprojekt in der ­Rigaer Straße 78 in Berlin ist ein Beispiel, wie das möglich werden kann. Mit einer wechsel­vollen Besetzergeschichte ist das Haus heute für jeden, der genau hinsieht, eine gelebte Utopie, die das Potenzial hat, die Stadt zu verändern.
Etwas seltsam ist mir schon zumute, als ich mit den Leuten aus der Rigaer 78 Kontakt aufnehme. Sie sind nicht leicht zu erreichen und kommen sprachlich recht punkig daher. Und obwohl ich im Herzen bereits weiß, dass es ein schönes Treffen werden wird, denke ich »Oh je«, als ich vor dem bunt bemalten, ziemlich wilden Haus stehe. Aber mit Kristian und Tom in der Küche fühlt sich alles richtig an, wenn sie von ihrem Projekt erzählen. Tom (24) hat über die Auswirkungen des Kapitalismus auf das soziale Zusammenleben viel nachgedacht und sich gegen den bürgerlichen Weg seiner Eltern entschieden. Von Kristian (29) weiß ich nur, dass er wie Tom Zimmerer ist. Beide sind 2008 hier eingezogen, als das Projekt auf rechtlich stabile Füße kam.

Selbstverwaltet wohnen
Das Haus im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat intensive Zeiten hinter sich. Es wurde im Wendejahr 1990 besetzt, vier Jahre später erhielten die Bewohner Mietverträge durch die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain. Als der Verkaufswert des Objekts gesteigert werden sollte, wurde das Haus mit mehreren Räumungsklagen »entmietet«. Drei Mietparteien widersetzten sich erfolgreich und blieben. 2006 wurde die Rigaer 78 an die Jewish Claims Conference rückübertragen, die es versteigern ließ. 2007 bot der neue Eigentümer das Haus den Bewohnern zum Kauf an. Eine Bank erklärte sich bereit, Kredite zu geben. Um das Eigenkapital aufzubringen, starteten die Mieter eine recht erfolgreiche öffentliche Kampagne. So kam es, dass 2008 die anthroposophische Stiftung Edith Maryon Haus und Grundstück erwarb und den Bewohnern per Erbbaurechtsvertrag überließ. Die Schweizer Stiftung hat das Ziel, Grund und Boden dem spekulativen Immobilienmarkt zu entziehen und unter anderem sinnvollen sozialen Projekten zur Verfügung zu stellen.
Die Rigaer 78 fällt in der Stiftung wohl ziemlich aus dem Rahmen: Das Haus sieht eher aus wie eine Villa Kunterbunt und hat so überhaupt nichts mit der Art von Architektur zu tun, die Rudolf Steiners enge Mitarbeiterin Edith Maryon (1872–1924) mit ihren in Dornach gestalteten »Eurythmiehäusern« im Sinn hatte. Darin steckt Humor, und ich freue mich, dass die Stiftung sich trotzdem für das »Punk«-Projekt entschieden hat. Sie unterstützt das Ziel der Bewohner und des beteiligten »Mietshäuser Syndikats«: selbstverwaltet wohnen und einer Projektgemeinschaft langfristig Wohn- und Lebensraum sichern.
Alle, die hier wohnen, sind in einem Haus­verein organisiert. Dieser und das Mietshäuser Syndikat bilden die Rigaer78 GmbH. Da der Verein 51 Prozent der Gesellschaft hält, haben die Bewohner das faktische Stimmrecht über ihr Haus. Das Mietshäuser Syndikat sichert lediglich ab, dass das Haus nicht verkauft werden kann. Unter den 63 Hausprojekten, die zum Syndikat gehören, sind viele ehemals besetzte Objekte. Tom lacht: »Wir sind unsere eigene Hausverwaltung, und ich bin mein eigener Hausmeister.« Der Hausverein hält einmal pro Woche ein Plenum ab, wo über die wichtigsten Belange entschieden wird. Eine Bau- und eine Finanz-AG kümmern sich um Detailarbeit, eine andere Arbeitsgruppe um öffentliche Projektetage. Putz- und Küchenpläne gibt es nicht. Alles entsteht organisch im kreativen Tun und im Konsens. Konflikte kosten Nerven, aber meistens bekämen sie es hin, sagt Kristian. »Vielfach setzt sich die Erkenntnis durch, dass man einander braucht und wir zusammen stärker sind.«

Individualität und Gemeinschaft
Während wir in der Küche sitzen, sehe ich in den Augen von Kristian und Tom viel Wärme und eine Spur von Unsicherheit: Sie haben etwas zu sagen, möchten etwas vermitteln. Aber ich spüre auch, dass da eine große Vorsicht sitzt. Zu brutal und irreführend ist meist die mediale Darstellung der Geschehnisse rund um die (ehemals) besetzten Häuser in Berlin. Dinge werden verdreht, Ängste geschürt. Hinter der kämpferischen Häuserfassade finde ich jedoch Sanftmut und Frieden. Tom erzählt, dass sie hier – bis auf zwei Ausnahmen, die den Bedürfnissen der alten Mieter geschuldet sind – nicht in trennenden Wohneinheiten leben, sondern dass jedes Zimmer einzeln vermietet wird. Die zwei Küchen (eine dritte ist im Bau), die Bäder und die Projekträume werden gemeinschaftlich genutzt. Das ist ihnen wichtig: gemeinschaftlich und individuell über sich selbst zu bestimmen und zusammen zu wohnen. Sie wollen sich dem gegenwärtigen Konsum-, Verwertungs- und Ausbeutungsparadigma nicht unterwerfen und gehen einen anderen Weg: den des Selbermachens, der Selbstverantwortung – und immer authentisch.
Tom, der häufiger als Kristian das Wort ergreift, sagt: »Um dem alten System Alternativen entgegenzusetzen, muss Verantwortung übernommen werden, indem das eigene Verhalten gemeinschaftstauglich gemacht wird.«
»Das ist ein Lernprozess. Jeder hat seine Macken, aber das ist es wert«, ergänzt Kristian. Die anderen im Haus, die nach und nach in der Gemeinschaftsküche eintreffen, müssen es ähnlich machen, denn ich spüre deutlich drei Qualitäten im Haus: Freiheit, Klarheit, Wärme. Erst später wird mir klar, woran das liegt. Diese Gemeinschaft basiert nicht auf Angst. Die Menschen, die hier leben, haben sich für Offenheit entschieden: Die Privatsphäre in den Zimmern wird respektiert, aber das Leben der derzeit 44 Bewohnerinnen und Bewohner spielt sich in den Gemeinschafts­einrichtungen und im öffentlichen Bereich ab: Eine Selbsthilfe-Fahrradwerkstatt, ein Atelier und die Holzwerkstatt sind schon in Betrieb, eine Siebdruck- und Nähwerkstatt sowie die Vereinsräume sind gerade im Umbau, ein Umsonstladen und ein Tattoostudio in Planung. Die Sanierungsarbeiten werden weitgehend in Eigenregie erledigt. Tom legt Wert darauf, die Ausbeuterlöhne für osteuropäische Billigarbeiter nicht zu unterstützen. Manchmal lässt es sich nicht umgehen, Firmen zu beschäftigen, aber lieber machen sie alles selbst. Genau deswegen entscheiden sich viele für das Wohn- und Kulturprojekt: weil sie hier noch vieles eigenständig gestalten können. »Das Haus wächst mit den Leuten und mit den Ideen. Wir tauschen Fähigkeiten und Wissen aus und lernen voneinander«, erzählt Tom. Und: »Wir müssen uns auch gegenseitig Grenzen aufzeigen, wenn Kompetenzen überschritten werden. Wir wollen nicht autoritär sein.«
Gestaltungsfreude kommt vor durchstrukturierter Planung. So dauert es zwar länger, ist aber qualitativ hochwertiger und viel lebendiger – das wird bei unserem Rundgang deutlich. Welches Haus hat schon eine Fachwerkkonstruktion im Zimmer oder eine Turnhalle? Der öffentliche Bereich umfasst etwa ein Viertel der 2166 Quadratmeter Nutzfläche. Kristian erzählt, wie wichtig ihm die Nachbarinnen und Nachbarn sind: Sie sollen Teil in einem Gemeinschaftskiez sein, der auf Eigeninitia­tive statt auf passiven Konsum baut. Tom und Kristian glauben, dass selbstverwaltete Häuser die Stadt verwandeln können. Das abgeschottete Vereinzelungsdasein hätte so ein Ende – alle hätten wieder miteinander zu tun.

Ein Geschenk
Ich denke, dass hier, an den scheinbaren Rändern der Gesellschaft, ein Geschenk liegt: eine gelebte Idee von persönlicher Freiheit, das Einüben von Gemeinschaft, eine Rechtsstruktur für Selbstbestimmung. Der Zimmerer Tom sagt: »Ich will Freiräume bauen.« Fremdbestimmtes Arbeiten und Wohnen könnten der Vergangenheit angehören, wenn in der ganzen Stadt solche Räume entstünden. Eine schöne Vision? Ich finde schon. Und ich empfinde große Freude und Dankbarkeit für die Menschen, die in einem von Angst und Abhängigkeiten geprägten System den Mut aufgebracht haben, ihren eigenen Weg zu gehen. Für mich ist dieses Wohn- und Kulturprojekt wie ein leuch­tender Keim, der den Kern für eine neue Zukunft enthält.
Für Kristian, Tom und die anderen wünsche ich mir, dass die Gesellschaft das Geschenk erkennt, das sie zu geben haben. Ich wünsche mir, dass Menschen sich nicht von tendenziösen Medienberichten ­abschrecken lassen, sondern in diese Häuser gehen, hinschauen und fühlen. 


Juliane Rudloff (33) hat als Referentin für ­Modellprojekte und demografischen Wandel im Innenministerium gearbeitet und ist derzeit auf der Suche nach neuen Wegen.


Wohnen als Gemeingut
www.rigaer78.org

www.maryon.ch
www.syndikat.org

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