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Ausbau Ost

Leipzig steht leer – bauen wir es aus! Stefanie Müller-Frank über den Verein »HausHalten«, der es schafft, den Abriss historischer Architektur abzuwenden.von Stefanie Müller-Frank, erschienen in Ausgabe #16/2012
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© haushalter.org

Eine Ausbauwohnung – zu DDR-Zeiten war das so etwas wie der Hauptgewinn mit Haken. Man hatte endlich eine Wohnung, aber um überhaupt einziehen zu können, musste man sie erstmal notdürftig herrichten: Eine Heizung einbauen, die Leitungen reparieren oder sogar noch Kriegsschäden ausbessern. Trotzdem waren diese heruntergekommenen Altbauwohnungen begehrt. Wohnraum war schließlich Mangelware.
In Leipzig stehen heute ganze Straßenzüge mit Gründerzeitbauten leer – vor allem an lauten Ausfallstraßen und in vernach­lässigten Vierteln. Prächtige Eckvillen mit Stuck und Bogenfenstern, die eingeschlagen oder mit Sperrholzplatten zugenagelt sind. Die ortsüblichen Mieten sind so niedrig, dass es sich für die Eigentümer oft nicht lohnt, die verrottenden Baudenkmäler zu sanieren. Eigentlich müsste niemand in ein halbverfallenes Haus ziehen. Und doch ist die Warteliste für die Wächterhäuser lang: Über 1000 Interessenten stehen im Verteiler, zukünftige Hauswächter bewerben sich mittlerweile mit einem Nutzungskonzept. »Niemand muss gelernter Handwerker sein«, sagt Uwe Lotan vom Verein »HausHalten e. V.«, der die Wächterhäuser Ende 2004 ins Leben gerufen hat. »Aber wer hier einziehen will, der sollte schon enorm belastbar sein. Deshalb wählen wir die Leute gut aus.«
Knapp ein Dutzend sind es, die sich an einem sonnigen August­abend im Leipziger Osten eingefunden haben, um in das Ausbauhaus in der Bergstraße 30 zu ziehen. Ausbauhaus, so heißt das neue Modell des Vereins. Im Gegensatz zu den Wächterhäusern sind die Mietverträge hier nicht auf fünf Jahre begrenzt. Dort zahlen die Zwischennutzer allein die Betriebskosten, sollen die Räume aber nur als Ateliers und Arbeitsräume nutzen. »Wer eine Wohnung selbst ausgebaut hat, möchte aber oft auch einziehen und nicht nach fünf Jahren wieder raus«, erkärt Uwe Lotan. Deshalb hat sich der HausHalten e. V. an das neue Experiment Ausbauhaus gewagt.
Die zukünftigen Nutzer der Bergstraße 30 treffen sich heute Abend zum ersten Mal. Sie sitzen auf der Fensterbank oder auf den verrotteten Dielen zwischen Bauschutt und Tapetenresten, den Tabak vor sich auf dem Boden. Abendlicht fällt durch die geöffneten Holzkastenfenster und malt ein goldenes Viereck auf den Kachelofen in der Zimmerecke. Viele von ihnen sind zum ersten Mal hier in der Gegend, keiner weiß, wie das Viertel eigentlich heißt. In den kommenden Monaten werden sie sich nicht nur den Hausflur teilen – sondern wohl auch Schleif- und Bohrmaschine, Verteilerkabel und einen Schuttcontainer im Hof. Sie werden gemeinsam Wände einreißen, Tapeten abziehen, Rohre verlegen, Bäder und Küchen einbauen, Dielen abschleifen und die Kachelöfen und Fenster für den Winter funktionstüchtig machen. Sogar die Stränge für Elektroleitungen werden sie unter fachlicher Anleitung selbst ziehen müssen. Und zwar noch vor Wintereinbruch. Das ist der Deal – und im Mietvertrag festgelegt. »Wenn man das nicht sofort macht, lebt man ewig im Provisorium«, sagt Uwe Lotan. Also hat der angehende Architekt gleich zum ersten Treffen einen Elektriker vom Verein mitgebracht. Das ist deshalb so wichtig, weil der Hauseigentümer nur für die Grundsicherung sorgt – also dafür, dass das Dach geflickt ist, das Treppenhaus gesichert, Wasser- und Stromleitungen angeschlossen sind.
»Immer mehr Leute wollen alles selbst machen und Räume ­haben, um sich auszuprobieren«, sagt Uwe Lotan, der auch das Konzept der Ausbauhäuser mitentwickelt hat. Genau diese Nischen sind in vielen deutschen Großstädten heute wieder Mangelware. Leipzig hat sie noch – aufgrund eines enormen Leerstands, ratloser Eigentümer und dank eines Vereins, der ein konstruktives, pragmatisch-ostdeutsches Modell entwickelte, um sie vor dem Abriss zu retten.   

www.haushalten.org

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