Titelthema

Kopfüber im Leben

Ein Portrait von Jekaterina Moshaeva alias Clown Antoschka.von Elena Rupp, erschienen in Ausgabe #15/2012
Photo
© www.malwinerafalski.com

Gebannt schauen zwanzig Augenpaare auf eine kleine, zierliche Frau. Mäuschenstill ist es, wo eben noch eine Gruppe junger Mädchen in bunten Leggings plappernd durch die Turnhalle in Bonn-Beuel gewuselt ist. Vorsichtig, neugierig und bewundernd verfolgen die Schülerinnen des Mädchengymnasiums jede ihrer Gesten. Antoschka ist in ihrem Element. Im Nu bündelt sie die Energien der jungen Artistinnen der Zirkus-Arbeitsgruppe, verwandelt die Stimmung in einen quirligen Übungsplatz für wundersame Zirkusnummern. »Boshaft!«, kommandiert sie. Die Mädchen legen ihr Gesicht in Zornesfalten. »Überrascht!« ­Antoschka weitet ihre Augen, atmet hörbar ein. »Verliebt!« Ein paar Mädchen kichern, klimpern mit den Wimpern, verziehen süßlich ihre Lippen. Und weiter geht’s im Fünf-Sekunden-Takt. »Euer Gesicht ist sehr, sehr wichtig!«

Schwarze Jersey-Hose, blau-weißes Ringelshirt, die langen, bordeaux-rot gefärbten, etwas verwuschelten Haare hastig durch ein Haargummi gesteckt – so sieht Antoschka nicht aus wie ein Weltstar. Wenig erinnert an den rothaarigen Lausejungen, als der sie sonst auftritt. Feine Gesichtszüge, heller Elfenbeinteint, grazile Bewegungen – die Balletttänzerin, die sie als Kind war, könnte man sich fast eher vorstellen, wären da nicht ihre energiegeladene Stimme und ihre zu Tränen rührenden und umwerfend komischen pantomimischen Faxen. »Gut!« Antoschka klatscht in die Hände. »Ihr seid fantastisch!« Stachelt an, treibt die Truppe weiter.
Verzaubern, Herzen öffnen, Potenziale in den Menschen wecken und ihnen zeigen, dass sie selbst die Welt gestalten können – diese Mission hat sich die Künstlerin zum Lebensauftrag gemacht. Zwanzig Jahre lang tourte Jekaterina Moshaeva, wie die gebürtige Russin mit bürgerlichem Namen heißt, mit dem Russischen Staatszirkus durch die Welt. Sie war mit Holiday on Ice und den großen europäischen Zirkussen unterwegs und hat in vielen Ländern der Erde Vorführungen gegeben. »Der Zirkus – das ist der Platz in der Welt, wo Wunder passieren.« Das Wort fällt oft in ihren Sätzen: »Wunder«. So viele Situationen gebe es im Leben, bei denen die Menschen Scheuklappen aufhätten. »Aber wenn man lacht, ist das Herz offen«, sagt sie, »und wenn sich die Menschen berühren lassen, dann passiert ein Wunder«. Als Clown kann Antoschka gedankliche Grenzen sprengen und zeigen, wie sich um die Ecke denken lässt. Ein Clown plumpst in die Situation hinein, probiert mit seiner kindlichen Arglosigkeit erst einmal munter aus, auf welchen Wegen er sie meistern kann. Ein spielerischer Ansatz, der auch Scheitern zulässt, führt zu ungewöhnlichen, kreativen Lösungen. Mit dieser Botschaft engagiert sich Antoschka seit einigen Jahren in sozialen Initiativen. Sie arbeitet in Zirkusprojekten mit Kindern, hat Schulklassen in Indien besucht und gibt Motivationsworkshops für die Bundeszentrale für politische Bildung.
Nun wirbelt sie leichtfüßig durch die Turnhalle zwischen den jungen Artistinnen hin und her, bleibt stehen, nickt anerkennend, korrigiert, ruft halb aufmunternd, halb streng erinnernd dazwischen: »Ihr wisst, dass der Körper Ausdruck eurer Gefühle ist!«
Ob sie nervös sei, frage ich sie vor der gemeinsamen Aufführung mit den Schulkindern. »Immer«, antwortet sie ohne hochzusehen auf meine Frage, während sie sich ihre übergroßen roten Clownsschuhe zubindet. »Sie hat«, erzählt ihr Mann Wolfgang Riehn, »selbst vor einer Situation wie dieser – ich möchte mal liebevoll sagen – ganz schön Muffe gehabt«. Riehn, Vorsitzender des Club of Budapest Deutschland e. V., ist persönlicher Manager seiner Frau und begleitet sie oft zu ihren Vorstellungen. In der Nacht zuvor hat Antoschka schnell noch drei Bücher zum Thema Improvisationstheater gewälzt. »Die kennt sie natürlich alle schon«, sagt Riehn. Doch alles will bei ihr perfekt vorbereitet sein.
»Ich bin ein Arbeitspferd«, gesteht Antoschka, »ein Workaholic. Wolfgang bremst mich. In der Manege, da schwimme ich wie ein Fisch im Wasser, aber im privaten Leben, da kann ich nicht so schwimmen wie bei der Arbeit.« Wie ein Zug sei sie da manchmal, werde »schneller, schneller, schneller, schneller – dann fahre ich und merke überhaupt nichts mehr. Wolfgang war nie ein Künstler, aber für mich ist er ein Lebenskünstler. Er kann das Leben so organisieren, dass er immer wieder Oasen schafft.«

Zuhause im »House of Smile«
Mit ihrem Mann hat sie sich vor einigen Jahren ein Haus im beschaulichen Korschenbroich bei Düsseldorf gekauft, das »House of Smile«, in dessen Erdgeschoß Antoschkas Atelier und ein Veranstaltungsraum ist. Dass sie einmal mehr als ein paar Wochen an einem Ort verbringen könnte, hat sie früher in ihrem Reiseleben nie geglaubt. »Aber Wolfgang ist so ein interessanter Mensch, und das Leben mit ihm so vielfältig, dass ich nicht wirklich sagen kann, dass ich an einem Platz lebe, solange ich mit ihm bin.«
Eine knarrende Treppe aus hellem Holz, in der die Holzwürmer schon ihre Spuren hinterlassen haben, führt hinauf zum gemütlichen, in kräftig warmem Rot gestrichenen Wohn-Esszimmer. An uns Dreien ist der Tag nicht spurlos vorübergegangen, als wir am späten Abend dort ankommen. Doch ins Bett gehen kommt nicht in Frage. »Jetzt essen wir!«, erklärt Antoschka bestimmt und winkt mich zum Tisch mit einem dampfenden Topf Hühnersuppe. Halb elf Uhr abends, normalerweise eine Tageszeit, zu der die Künstlerin noch auf Hochtouren läuft, Geige übt, Gitarre spielt … Sie wisse einfach nicht, wann sie das sonst machen solle, erklärt sie mir.
Ein wenig verschlafen erscheint sie dann auch am nächsten Morgen in der Küche. »Warum hast du nur zwei Eier gekocht?«, fragt sie ihren Mann mit Blick in den Topf. »Sie wollte keins.« Er zuckt die Schultern und meint mich. Stirnrunzeln: »Was hast du gegen Eier!?« Widerspruch zwecklos, fünf Minuten später habe ich ein Ei auf dem Frühstücksteller. Schließlich müsse ich noch von Düsseldorf nach Berlin fahren, da bräuchte ich Kraft. Punkt. Slawisches Erbe, ihre Gastfreundschaft? »Ich kann das nicht abstellen!«, sagt sie schulterzuckend, halb entschuldigend, halb schmunzelnd.
Im Esszimmer hängt ein Porträt des Airbrushers Meinrad Froschin: Antoschka als strahlender, lachender Clown, und unten links ganz klein eine auf einem Stuhl zusammengekauerte Jekaterina Moshaeva, den Kopf auf die Arme gelegt. »Das, was manchmal nach der Vorstellung bleibt«, bekennt sie, nachdenklich lächelnd, und wirft einen Blick in ihre Kaffeetasse.

Disziplin und Lebenskraft
»Beim Publikum entsteht manchmal der Eindruck, es sei alles nur Spiel«, erklärt die Künstlerin, »aber dahinter steckt harte Arbeit«. In der strengen Artistenschule des Russischen Staatszirkus hat sie gelernt, als Clownin alles zu können: Jong­lage, Artistik, Pantomime – und nebenbei noch mit dem Publikum zu scherzen. Mit viel Neugier, doch auch mit schier unerbittlichem Ehrgeiz treibt sie sich immer wieder an, Neues zu lernen: »Ich mag es nicht laienhaft!« Sie hat nebenbei ein Diplom als Theater-Regisseurin an der Russischen Akademie für Theaterkunst in Moskau erworben, hat später begonnen, Geige, Gitarre und Klavier zu lernen, nimmt Gesangsunterricht und spricht neun Sprachen.
Bleibt bei so viel Disziplin noch Platz für spielerische Leichtigkeit? Ja, denn Spiel und Disziplin sind keine Gegensätze. Sie treibt die Liebe an, so scheint es mir, die Liebe zum Beruf, zu den Mitmenschen, zur Welt. Bei all der harten körperlichen Arbeit strahlt sie auch mit Ende fünfzig eine erstaunliche Vitalität aus. Bloß die feinen Fältchen um die stets wachen, hellblauen Augen verraten eine Lebenserfahrung, die wohl nur mit vielen Jahren zu gewinnen ist. »Menschen multiplizieren Freude«, sagt sie. Sie habe diese Lebenskraft, weil ihr das Publikum Kraft gebe. Auch nach einer ihrer größten Niederlagen gewann sie Halt durch ihre Arbeit. In den 70er Jahren steigt sie mit ihrem damaligen Mann als »Anton & Antoschka« zum wohl bekanntesten Clownsduo der UdSSR auf. Nach mehr als zehn Jahren wird sie quasi über Nacht von ihm verlassen, verliert mit einem Mal Liebe, Arbeit und Wohnsitz, landet mit einem siebenjährigen Sohn auf der Straße. Doch sie hat Glück: Ein Zirkusdirektor bietet ihr eine Rolle beim Moscow Circus on Ice an. Auf Schlittschuhen hatte sie zuvor allerdings nie gestanden. »Ich habe so hart gearbeitet, dass ich mir auf dem Eis die Haut bis auf die Knochen abgewetzt habe. Ich konnte nicht mehr denken. Aber danach war ich kuriert von meinem Liebeskummer.«
Ob ich noch einen Kaffee wolle, fragt sie nach einer Pause. »Nein danke«, verneine ich nach der zweiten Tasse. »Also gut, warte. Dann mach’ ich uns noch einen schwachen Kaffee.«
Antoschka bleibt dem Eis noch eine Weile treu. Ab 1990 tourt sie in Deutschland mit Holiday on Ice, sie ist Mittelpunkt der Show »Antoschkas Traum«. Nach einer letzten Tournee mit dem Moskauer Staatszirkus 2005 durch Mittelamerika traut sie sich im nächsten Jahr ihre eigene Solo-Tournee zu. Der »kleine Anton« steht nun auf eigenen Beinen. Antoschka als Figur ist weder Junge noch Mädchen. Alle Clownsfiguren schillern. Sie haben die Weisheit eines alten Menschen, doch auch die naiven Augen eines neugierigen Kindes, das die Welt entdeckt, und so darf ein Clown auch Gesellschaftskritik üben. Bereits beim Russischen Staatszirkus singt Antoschka in ihrem »Marionettenlied«, einer Satire auf das politische System der UdSSR: »Der Faden, der ist schuld daran, dass ich mich nicht bewegen kann …« Ihre späteren Soloshows transportieren die Botschaft der Selbstermächtigung: jeder Mensch kann die Welt auf einem Finger drehen.

Weltparlament der Clowns
Ihr eigener Weg wird politischer. 2006 gründet sie das World Parliament of Clowns als Initiative für eine emotional reifere Gesellschaft. Dazu hat sie so berühmte Clowns der Zeit wie Patch Adams, David Larible, Oleg Popov und Gardi Hutter eingeladen. Über 60 Persönlichkeiten wurden inzwischen zu Ehrenclowns ernannt, dar­unter Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu oder Filmemacher Wim Wenders.
Ihr Blick wird eindringlich, als sie beim dritten Kaffee von einer Veranstaltung im Rahmen des zweiten World Culture Forums 2009 in Dresden erzählt. Hier hatte sie mit Mitgliedern des World Parliament of Clowns einen Auftritt zum Thema »Intelligent oder mit Dummheit Zukunft gestalten«. Antoschka wirkt berührt, als sie ein Bild aus einem Dokumentarfilm beschreibt, den der Clown und Arzt Patch Adams zeigte: Ein Arzt zupft einem afghanischen Mädchen mit schlimmsten Verbrennungen die Haut ab, während ein Violine spielender Clown versucht, es zu beruhigen. »Den Zuschauern ist das Lachen im Hals stecken geblieben«, sagt sie. »Wir wollten das zeigen, damit die Leute wissen: Auch das gehört zu unserer Arbeit.«
Auch zum jährlich stattfindenden Symposium »Ethics in Business« im Brüsseler EU-Parlament wurde sie mit Patch Adams eingeladen. »Patch hat ein paar Abgeordnete in eine riesige Feinripp-Unterhose gesteckt, um zu demonstrieren: Wir sitzen alle in einem Boot. In schwierigen Situationen müsst ihr zusammenhalten. Versuchen Sie mal, aggressiv zu sein, wenn Sie gemeinsam mit fünf anderen in einer überdimensionalen Unterhose stecken!« Das müde Publikum war aufgewacht und bog sich vor Lachen. »Das war so geil!«, platzt es aus Antoschka heraus. »Mit erhobenem Zeigefinger erzielst du Gegenwehr. Aber wenn du im Spiel die Schwächen eines Menschen projizierst, dann versteht er im Tiefsten seiner Seele, dass er über sich selbst lacht.« Sie verstummt kurz. Ja, das sei die Aufgabe eines Clowns, dieser Spiegel zu sein. Er zeigt kein strenges Gegenüber, sondern ein lächelndes Gesicht – tolpatschig und voll Weisheit zugleich, das einlädt: Komm! Du bist gerade auf die Nase gefallen. Aber hey! Steh auf und probier’s noch einmal. Und wenn du fünfmal Handstand machst und fünfmal hinfällst: Am Ende wirst du auf den Händen stehen, die Welt andersherum sehen können. Und sie kann wunderschön aussehen, diese Welt. 


Elena Rupp (29) studierte Kulturwissenschaften und Journalismus und fand als Musikerin mit slawischen Wurzeln schnell Zugang zu Antoschkas künstlerischer Welt.


Der Königin der Clowns mal zusehen oder zuhören?
www.antoschka.de
Youtube: Suchwörter »Clown, Antoschka«
Antoschka: Ein Clown singt Geschichten. Tritonus Musikverlag, 2012 (CD)

weitere Artikel aus Ausgabe #15

Die Kraft der Visionvon David Abram

Erdgeschichten

In unserer Begeisterung für das Internet sollten wir nicht vergessen, dass sich unser linguistisch und intellektuell staunenswert leistungsfähiges Gehirn nicht erst angesichts des Computers oder in der Wechselbeziehung zum geschriebenen Wort entwickelt hat. Das menschliche Gehirn

Permakulturvon Markus Gastl

Wiesen-Wissen

Bücher zur Pflanzenbestimmung gibt es in großer Auswahl. Jedoch ist nicht jedes Buch für alle Zwecke gleich gut geeignet. Der Klassiker »Was blüht denn da?« teilt die Pflanzen nach Blütenfarbe und untergeordnet nach Anzahl der Blütenblätter ein, ein

(Postwachstums-)Ökonomievon Lara Mallien

Die verrückte CO2-Kurve

Beim Klimaspiel »Cooling Down«, das in der Tradition von Frederic Vesters Spiel »Ökolopoly« aus den 80er Jahren steht, gewinnen Kooperation und Weitblick.

Ausgabe #15
Spielen? Spielen!

Cover OYA-Ausgabe 15
Neuigkeiten aus der Redaktion