Titelthema

Liebeserklärungen

Die Vielfalt der Liebe ist ein Fest: Da gibt es polyamouröse Menschen, die mehrere Menschen lieben, glückliche Ehen, Paare, die dasselbe Geschlecht lieben. – Viel wichtiger als die Form ist heute die Suche nach der ganz eigenen Wahrheit.von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #13/2012

»Liebe, und tue was du willst«, sagte der Kirchenvater Augustinus vor etwa 1600 Jahren. Was für ein Satz – radikaler und wahrer geht es nicht! Wahrscheinlich aber würde Augustinus sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was wir heute aus dieser Aufforderung gemacht haben. Er war ja ­bekannt für seine Leib- und Sexualfeindlichkeit.
Doch was in den letzten Jahrzehnten im Zug der »sex­uellen Befreiung« passiert, ist für mich tatsächlich ein heiliger Akt der Liebe. Neben allem, was dadurch hochgeschwemmt wird an Gewalt, Missbrauch, Kommerz und Banalisierung der Liebe, geschieht da ein Wunder. Es sieht manchmal aus wie ein Supermarkt der Eitelkeiten, Abseitigkeiten und Illusionen, doch es ist auch eine Feier des Lebens, eine schillernde Revolte, ein großer kultureller Aufbruch im Namen jedes Liebenden. Jeder Mensch ist heute aufgerufen, seinen eigenen Weg in der Liebe zu finden.
Aus der Fülle dieser individuellen Wege möchten wir mit den folgenden Liebesgeschichten einen kleinen Ausschnitt geben: Schlichte Erzählungen von Menschen, die den Mut haben, sie selbst zu sein. Eine Liebesentscheidung braucht immer den Mut, sich zu bekennen und einzulassen, dafür muss sie gar nicht spektakulär sein. Es kann heute schon – je nach den gesellschaftlichen Kreisen, in denen wir uns bewegen – viel Mut erfordern, zu heiraten und eine traditionelle Familie zu gründen. Oder dazu zu stehen, mehr als einen Menschen zu lieben. Und sexuelle Minderheiten wie Lesben, Schwule, Asexuelle, Intersexuelle usw. werden weiterhin diskriminiert. Wieviel Arbeit auf dem Weg zu einer freiheitlichen Kultur noch notwendig ist, zeigt die Forderung, im Pass neben »männlich« und »weiblich« ein »drittes Geschlecht« zuzulassen. Der Deutsche Ethikrat wird demnächst seine Empfehlungen zum Thema Intersexualität geben. Die Vorsitzenden des Vereins »Intersexuelle«, ­Lucie Veith, sagte am 12. Dezember vorigen Jahres in der ZEIT: »Geschlechtlichkeit ist kein Entweder-Oder. Ich vergleiche sie eher mit einer Weltkugel mit zwei Polen, und wir Intersexuellen leben einfach näher am Äquator.«
An extremeren Beispielen wie diesen können wir ermessen, wie sehr ein sexuelles Schicksal noch immer von den gesellschaftlichen Normen geprägt ist. Die Wirkung dieser Normen gilt auch und gerade für scheinbar normale Beziehungen. Beispielsweise regiert der Staat mit seiner steuerrechtlichen Begünstigung der Ein-Verdiener-Ehe, dem sogenannten Ehegattensplitting, die jährlich mit rund 20 Milliarden Euro subventioniert wird, in unsere intimsten Entscheidungen hinein. Und wie subtil wirken beispielsweise die verschiedenen Männer- und Frauenbilder in unseren Partnerschaften? Das differenziertere Bild von den Polen und den Kontinenten zwischen ihnen kann vielleicht auch uns »Normalos« helfen, unsere eigenen männlichen und weiblichen Seiten anders zu erleben. Der Weg zur eigenen sexuellen Identität ist sicherlich nicht nur ein kuscheliger Weg. Er ist eine Konfrontation mit den tiefsten eigenen Verletzungen und Ängsten. Es fordert vielleicht mehr Mut als alles andere, diesen Weg zu gehen. Nur ich selbst kann ihn gehen, aber alleine werde ich es nicht schaffen. In allen Bereichen der Liebe brauchen wir unterstützende Freunde und Netzwerke. Schließlich ist Partnerschaft die menschliche Herausforderung überhaupt: Zusammenleben mit einem Menschen, der nicht ich bin, der von mir verschieden ist. Jedes Paar ist bereits »Multikulti«.

Erkennende Liebe
Und wir stehen erst am Anfang der Reise. Die Suche nach Liebe als Grundlage von Paarbeziehungen nach dem Muster der abendländischen Kultur ist historisch noch sehr jung. Die »Liebesheirat« ist eine Idee, die erst unter dem Einfluss der Romantik um das Jahr 1800 zum Ideal des Bürgertums wurde. Lesen wir heute bei Wikipedia unter »Liebe« nach, findet sich folgende Definition: »Liebe wird häufig als eine auf Freiheit gegründete Beziehung zwischen zwei Personen gesehen, die ihren Wert nicht im Besitz des adressierten Objekts findet, sondern sich im dialogischen Raum zwischen den Liebenden entfaltet.«
Das klingt irgendwie gut und zeitgemäß, aber auch nach einer Idealisierung. Liebe wird oft als eine wärmende Insel, als romantisches Gegenmodell zu den Funktionalisierungen der kapitalistischen Gesellschaft empfunden. So wird stillschweigend akzeptiert, dass unsere Gesellschaft jenseits des Privaten eine weitgehend »liebesfreie Zone« ist. Dabei belastet die Hoffnung auf individuelles Liebesglück in einer funktionalisierten Gesellschaft die Partnerschaften selbst. Auch hat die Ökonomisierung massive Auswirkungen auf die Art und Weise, wie heute Paarbeziehungen gelebt werden. Anspruchsdenken dem anderen gegenüber, gestylte Selbstbilder und Konsumdenken tragen den Kapitalismus bis ins Innerste hinein: Wenn es einem nicht mehr passt, trennt man sich eben und versucht beim nächsten, die eigenen Bedürfnisse besser zu befriedigen.
Rainer Maria Rilke hat mit seinem Bild der »guten Ehe« stellvertretend für alle partnerschaftlichen Beziehungen eine achtsame Haltung beschrieben: »Es handelt sich bei der Ehe für mein Gefühl nicht darum, durch Niederreißung aller Grenzen eine rasche Gemeinsamkeit zu schaffen, vielmehr ist die gute Ehe die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat. Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welche einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt. Aber, das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen!«
Kann also Liebe, statt »blind zu machen«, in unserer Zeit zu »erkennender Liebe« werden? Zu einem Übungsweg, der unserer eigenen Selbsterkenntnis und unserer Fähigkeit zu Kommunikation und Wahrnehmung dient? »Lieben heißt, sich mit der Wirklichkeit begnügen.« Dieser Satz stammt von Stefan Napierski (1899–1940), einem homosexuellen polnischen Lyriker. In ihm ist die Essenz einer erkennenden, sich selbst weitenden Liebeskultur ausgedrückt. Lieben lernen, bedeutet sehen lernen, und dieser liebende Blick kann sich nicht abwenden, egal auf wen oder was wir gerade schauen. Hier grenzt die mystische an die alltägliche Liebe. Es ist die harte, ehrliche Schule, ohne die es keine Revolution und keine Erleuchtung geben kann. Wie kann ich mich und den anderen lieben, in all unseren Facetten und Schattenseiten? Vor dieser Herausforderung sind wahrscheinlich alle Beziehungsformen gleich – es ist unsere Menschheitsaufgabe.

Sonnenaufgang
Wie kann ich die Welt retten, wenn ich noch nicht einmal einen Menschen lieben kann? Oft habe ich mich für das Gute engagiert, doch meine Beziehungen waren voller Konflikte. Ich habe fünfzig Jahre gebraucht, um eine Ahnung davon zu bekommen, was Liebe ist. Ich musste meine Angst, verlassen zu werden, noch einmal durchleben. Meine Geliebte ging. Doch meine Liebe blieb, auch nach der Trennung. Sie blieb, denn meine Liebe wollte geben, nicht nur nehmen. Solange ich die Liebe wollte und brauchte, konnte sie mir niemand geben. Ich erlebe das als ein Paradox: Ich muss selbst ganz werden, um den fehlenden Teil zu finden. Es geht um die einfachen Dinge, die so schwer zu leben sind: Zuhören, Verzeihen, Fühlen, Ehrlichsein – all das geht erst, wenn wir von der bedürftigen zur gebenden und erkennenden Liebe kommen.
Und dann ist da noch die magische, unerklärliche Essenz, die unentbehrliche Zutat der Anziehung, ohne die gar nichts geht. Wie schön, dass es immer wieder funkt! Und wie schön, dass die Wege der Liebe so göttlich unerklärlich sind. Es ist nie zu spät dafür, und du weißt nie, wann und wie es passieren wird. Ein Schüler fragte einmal seinen Meister, warum wir ständig lernen sollten, wenn, wie der Meister sage, die Veränderung ganz von selbst, wie ein Sonnenaufgang kommen werde. Darauf erwiderte der Meister: Wir bemühen uns, um dann wach zu sein, wenn die Sonne aufgeht.
Während ich dies schreibe, kann ich den Sonnenaufgang mit meiner wiedergefundenen Geliebten erleben. Es macht mich glücklich und gibt meinen Worten Sinn. Es verbindet mich mit allen Liebenden und ihrer Suche. Das Schönste wäre, wenn wir wie in einer nicht zu zerstörenden Verliebtheit zum Leben selbst still sein und lauschen könnten, wann und wie die Liebe kommen möchte. Manchmal ist es ein Augenblick, manchmal ist es für eine Nacht, manchmal für eine Zeit, manchmal aber auch für ein Leben. 


Unsere Lebenswege sind seit 18 Jahren in Liebe miteinander verbunden. Ich glaube, wir haben uns einfach gefunden. Es war nicht immer leicht, aber es gab eine klare Entscheidung: Wir gehen zusammen weiter. Ich hab gelernt, dass hinter jeder mir noch so unverständlichen Handlung oder Äußerung Hennings eine wirklich gute Absicht steht. Ich vertraue ihm. Heute sind wir enger verbunden denn je: Vier Kindern durften wir das Leben schenken. Sie sind zwischen einem und zehn Jahren alt und lenken unseren Alltag in feste Bahnen. Manchmal geht es bei uns turbulent zu. Da gibt es kaum Ausflüchte, der Laden muss laufen – Hand in Hand, wir schnurren wie zwei Rädchen, die in dieselbe Richtung rollen. Manchmal holpert das eine und darf sich mal aushängen. Wir gönnen uns gegenseitig möglichst vieles, damit der andere auftanken kann. Zweisame Stunden sind Sternstunden, die wir genießen – wenn wir nicht müde sind. (Simone)

Ich bin ich als Elfjähriger mit meiner Mutter in die Gemeinschaft Tamera gezogen. Zuerst habe ich rebelliert, doch jetzt, mit 22 Jahren, bin ich dankbar, hier meine ersten Erfahrungen mit Liebe und Sex gemacht zu haben. Das war hier nie nur ein Privatthema, sondern ein globales und politisches. Ich musste nie den Schmerz einer zu Bruch gegangenen »normalen« Beziehung erfahren, noch habe ich unverbindlichen Partnerwechsel erlebt. Ich habe verschiedene Freundschaften zu mehreren Frauen und einen zweijährigen Sohn. Manchmal hilft mir der Kontakt zu vielen Frauen, den Kontakt mit einer Frau zu vertiefen – und umgekehrt. Für die Zukunft wünsche ich mir noch mehr Mut und eine Gesellschaft, in der es natürlich sein wird, dass man Liebe und Sex lernen kann. (Ludwig)

Noch vor ziemlich genau 14 Monaten konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich lieben könnte. Es hat mir Angst gemacht, wenn mir jemand körperlich nahegekommen ist, da war das Gefühl, dass ich dann nicht mehr spüre, was ich will. Nun war ich doch schon 33 Jahre alt – und würde wohl als alte Jungfer sterben. Mit einem Bein war ich schon im Kloster gewesen. »Das ist doch wahre Hingabe«, dachte ich. Ich bin zwar nicht dort gewesen, um den Männern zu entfliehen, dennoch wäre ich recht elegant darum herumgekommen, mich meinen Verletzungen zu stellen. Irgendwie wusste ich aber genau, was ich zur Heilung brauchte: eine Heilmassage für meinen Schoßraum. BeimKlingeln an der Tür der Frau, die diese Massagen anbot, dachte ich noch, ich drehe sofort wieder um. Dann war ich erstaunt, wie es sich anfühlen kann, so achtsam und zärtlich berührt zu werden. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass Sexualität heilig ist, dass der Körper und die Seele einer jeden so gewürdigt werden können. Langsam, sehr langsam schmolz Scham, wandelte sich die Missachtung in Stolz, brach die Lust auf das Leben in all seiner Fülle hervor und damit auch der versteckte Schmerz.
Meinem Geliebten begegnete ich beim Tanzen. Ich habe mit ihm Hingabe und Vertrauen entdeckt. Wir gehen immer tiefer in unserer Hingabe aneinander. Ich lerne, gleichzeitig auf ihn zu achten und für mein Bedürfnis zu sorgen - ihm wirklich »mich« zu geben. (Christina)

In meiner Familie wurde den 68er-Ideologien gefolgt. Wir Kinder genossen eine freie Sexualerziehung, doch unter diesem Deckmantel fand ein sexueller Missbrauch an mir statt, der nicht frei war und der geleugnet wurde. Seitdem ist mein Leben davon geprägt, meine Intimgrenze zu finden und selbst zu bestimmen. Wohl eher unbewusst trug ich schlabberige Pullover statt enge Kleider und probte, die Kleider nicht auszuziehen, sondern sie anzuziehen, z. B. beim damals obligatorischen Nacktbaden. In meinem Beziehungsleben hatte ich neben meinem Partner Sex mit anderen Männern und Frauen, und meine Partner ebenfalls. Ich gründete eine »tantrische Lebens- und Liebesgemeinschaft«, um der Welt diese einzig wahre »freie Liebe« nahezubringen. Dabei spürte ich meine eigenen inneren Grenzen nicht. Durch das Ausblenden meiner Gefühle tat ich mir im Namen der Liebe Gewalt an. Mehr und mehr wurde mir deutlich: Eigentlich will ich eine – in den Augen der 68er – »stinknormale, spießige Zweierkiste« und als Frau am liebsten auch noch geheiratet werden! Es brauchte meinen ganzen Mut, dazu zu stehen. Heute bin ich froh, immer mehr mich selbst zu leben, meine alten Wunden zu spüren und sie langsam zu heilen. Indem ich mich fokussiere, begrenze und einlasse, fühle ich mich mehr und mehr echt und wirklich frei. (Connie)

Seit 26 Jahren bin ich mit meinem Partner verheiratet. Die Führung unseres landwirtschaftlichen Betriebs und unsere drei Kinder bestimmten unsere Partnerschaft. Dadurch haben wir uns individuell in der Sexualität sehr zurückgenommen. Doch ein innerer Ruf, dass es mehr gibt im Leben, hat mich schon immer begleitet. Der Rebell in mir ist nun, da ich die Kinder loslassen konnte, wieder erwacht. Seit vier Jahren sind wir auf dem Weg, uns neu kennenzulernen. Ich erfuhr erstmalig Eifersucht, sah und fühlte schmerzlich meine Rolle als Opfer. Die Achterbahnfahrten der Emotionen waren schwer auszuhalten. Ich bin sehr dankbar, das mein Partner viel Toleranz besitzt. Die Freiheit des Menschen steht bei ihm an erster Stelle. Sexuell haben wir unsere Partnerschaft für andere geöffnet. Dies war und ist eine große Bereicherung, neue Situationen entstehen, die wir gemeinsam angehen. Es gibt keine Garantie, wie lange unsere Partnerschaft hält, doch wir gaben uns das Versprechen, aufeinander aufzupassen und in Krankheit und Not uns beizustehen. Es ist so herrlich altmodisch und doch so zauberhaft. (Hildegard)

Bis vor drei Jahren bestand mein Leben nur aus Arbeit, für meine Kinder ein guter Vater zu sein und mich ansonsten in meine Magersucht und Bulimie zu flüchten. Dann habe ich erfahren, dass man als Baby leider nachgeholfen hatte, mich auf die männliche Seite zu bringen. Ich wurde zum Mann umoperiert, obwohl ich alle Anteile einer Frau hatte. Ein Arzt, den ich wegen meines Unwohlseins aufgesucht habe, hat das entdeckt. Seit zwei Jahren darf ich diese weibliche Seite von mir endlich ausleben. Eine große Hilfe bei diesem Wechsel war das Tantra. Nach einer Massage fühle ich mich als Frau noch tiefer geerdet, einfach wohl in meinem Körper und geehrt in meinem Sein als Frau. Der Schmetterling darf endlich fliegen! (Leonie)

Als ich meine Freundin vor zwei Jahren kennenlernte, hatte ich mich gerade in meinem Studium in einer neuen Stadt zurechtgefunden und es zum ersten richtigen Job in einer Redaktion gebracht. Ein ziemlich großer Teil meines Lebens veränderte sich in ganz kurzer Zeit – und ich glaubte, mich könne kaum noch etwas aus der Bahn werfen. So unspektakulär das klingen mag: Dass ich in dieser Situation plötzlich eine bestimmte Kollegin mit anderen Augen sah, dass ich ihre Hände auffallend schön fand, machte mir keine Sorgen. Auch nicht, dass ich jeden Dienstplan durchforstete, um herauszufinden, ob wir vielleicht zusammen arbeiten, dass ich anfing ihr zu mailen und stundenlang
ungeduldig auf eine Antwort wartete. Es verwirrte mich nicht einmal besonders. Für mich war es nie eine Frage, ob ich nun heterosexuell bin oder nicht. Ich gestand mir schnell ein, dass ich mich offensichtlich in eine Frau verliebt hatte. Viel schwieriger als dieses Outing vor mir selbst war – wie in vielen anderen Partnerschaften auch – das Zusammenfinden. Wir verstanden uns großartig, verbrachten, so oft es ging, Zeit miteinander, und irgendwann war klar: Das ist mehr. Aber wir lebten beide auch noch in Beziehungen – sie mit einer Frau, ich mit einem Mann. Jede von uns musste für sich entscheiden, ob das, was zwischen uns nach seitenlangen Mails und einigen durchgemachten Nächten passiert war, reichte, um alles andere aufzugeben. Wir entschieden uns füreinander. Heute leben und arbeiten wir zusammen, sind umgeben von Menschen, die uns den Rücken stärken. Und
 das fühlt sich sehr gut und richtig an. (Jette)

Schon am ersten Tag meines Umzugs ins Ökodorf Sieben Linden habe ich mich in jemanden verliebt, mit dem ich dann drei Jahre zusammen war. Er wollte »freie Liebe«, das war für mich völlig neu. Anfangs war ich vor allem mit Eifersucht, Schmerz und Ängsten beschäftigt, aber dann begann ich, eigene Wege zu gehen. Ich liebte zwei Männer. Es gab Momente, wo alles aufzugehen schien, am schönsten, wenn sich die beiden Männer gut verstanden. Letztlich ist dann aber die erste Beziehung zugunsten der neuen zuendegegangen. Mein Anspruch, es allen recht machen zu wollen, hatte mich von mir selbst entfernt. Heute bin ich hier mit einem dritten Partner zusammen, und das schon fünf Jahre. Wir leben in einer Wohngemeinschaft aus acht Personen zusammen. Wir teilen viel, machen Kunst zusammen oder politische Projekte. Es gibt Freundinnen in seinem Leben, denen er in Liebe verbunden ist. Kuscheln ja, Sex möglich, aber unwahrscheinlich. Es kommt nicht oft vor, dass er sie trifft, aber meistens kann ich mich mit ihm freuen. Mit ihm kann ich vom immer gleichen Alltag bis hin zum Ausnahmezustand alles intensiv durchleben. Wir wollten auch lange ein Kind, das nicht kam. Das war sehr schmerzvoll, aber ich kann es jetzt akzeptieren.
Ich freue mich jeden Tag neu, wenn ich diesen Mann sehe, und verliebe mich aufs neue in ihn. (Julia)

 

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