Titelthema

Ich male, also bin ich

Farah Lenser porträtiert den Brain-Painting-Künstler Adi Hoesle.von Farah Lenser, erschienen in Ausgabe #13/2012

Vor zwei Jahren treffe ich den Künstler Adi Hoesle im Café des Berliner Martin Gropius Baus und höre von seinem Projekt »Pingo ergo sum – Das Bild fällt aus dem Kopf«. In dem Stück »Emilia Galotti« von Gotthold Ephraim Lessing fragt der Maler Conti: »Ha! Daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! … Oder meynen Sie, Prinz, daß Raphael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?«

Mit seinem Projekt »Brain Painting«, das Kunst und Neurowissenschaften miteinander verbindet, knüpft Adi Hoesle an diese Vision des Malers Conti an. Meine Freundin Angela Jansen, die uns mitein­ander bekanntmachte, hatte mir schon geschrieben, dass sie bei einer geplanten Installation in der Rostocker Kunsthalle Bilder malen werde, die direkt aus ihrer Imagination heraus auf einer Computerleinwand erscheinen würden. Angela befindet sich in einem sogenannten Locked-In-Status, nur ihre Augen kann sie noch bewegen. Eine Störung des motorischen Nervensystems, genannt Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), blockiert die Kommunikation zu allen anderen willkürlichen Muskeln. Überrascht hat sie mich schon oft: Sie kann mit ihren Augen (und mit Hilfe angeschlossener Technik) E-Mails schreiben, im Internet surfen, Vorträge entwerfen, all das eben, wozu ich meinen Computer auch benutze. Aber allein mit der Kraft der Vorstellung ein Bild malen?
Im Dezember letzten Jahres lädt Adi Hoesle mich zu einer Demonstration in die neueröffnete »Denkerei« von Bazon Brock in Berlin-Kreuzberg ein. Während der Denker im Dienst und Künstler ohne Werk – wie Bazon Brock sich selbst gerne nennt – hochgelehrte Vorträge hält, sitzt Adi Hoesle mit einer roten EEG-Kappe und daran angeschlossenen Kabeln vor einem Computer. Auf dem an die Wand projizierten Computerbildschirm erscheinen langsam Farben und Formen: rote Punkte, grüne Striche, gelbe Flächen. Am Ende des langen Nachmittags soll Adi Hoesle einen Vortrag halten, über das, was er da gerade tut: Brain Painting. Durch die Konzentration auf die Entstehung des Bilds hat er alle seine Sinne nach innen gerichtet: »Das hat für mich etwas Meditatives, man verliert Raum und Zeit. Danach den Schalter umzulegen, ist schwierig.«
Das EEG an seinem Kopf misst die elektrischen Impulse seines Gehirns an der Kopfhaut, während er sich auf eine digitale Malerpalette konzentriert. Adi Hoesle entwickelte die Idee des Brain Paintings in Zusammenarbeit mit den Forschungsinstituten der Universitäten in Tübingen und Würzburg. Professor Niels Birbaumer forschte schon in den 90er Jahren zu Brain Computer Interfaces (BCI), um Patienten mit Locked-In-Syndrom eine Möglichkeit zur Kommunikation zu eröffnen. Die Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer ermöglichen über die Messung der sogenannten P300-Welle die Identifizierung eines bestimmten Buchstabens, auf die sich der Patient konzentriert. Wenn man lauter gelbe Kreise sieht und plötzlich ist einer rot, produziert das Gehirn ein »Aha-Erlebnis«, und die P300-Welle springt an.
»Auf Brain Painting habe ich gewartet. Diese Option der Bildgestaltung könnte ganz neue Wege in der Malerei evozieren«, sagte der 2007 an der Krankheit ALS verstorbene Jörg Immendorff. Die Begegnung mit dem Künstler hatte Adi Hoesle auf die Idee gebracht, Professor Birbaumer die Frage zu stellen: »Könnte man die Technik der Brain Computer Interfaces dazu benutzen, Bilder zu malen?« »Du darfst und kannst das fragen«, konterte der, »du bist ein Künstler.« Adi Hoesle, der selbst keine Ahnung hat, wie man eine Software programmiert, inspirierte mit seinen Fragen die Forscher. Denn für ihn als Künstler ist »das Scheitern in der Frage ein wesentlicher Bestandteil der Kunst«.

Freiheit in der Kunst
Wie und wo entsteht Kunst? Und wer ist eigentlich der Künstler? Auf dem Kunstfestival Ars Electronica in Linz 2003 schließt Adi Hoesle Besucher an ein EEG an, während sie durch die Ausstellung wandern und die Kunstwerke betrachten. »Dann habe ich mir live mit ihnen das EEG angeschaut, das war wie ein Feedback. Durch diese Intervention in das Gehirn der Besucher hinein habe ich die Qualität der Rezeption verändert, weil alle sich beim Betrachten der Werke besonders konzentriert hatten. Ich fragte mich: Ist vielleicht das Kunstwerk das, was in ihren Köpfen vorgeht, was sich auf abstrakte Weise in den EEGs manifestiert?«
Als nächsten Schritt zeichnet er bei einigen Künstlern deren Hirnströme auf, während sie malen, um aus diesen EEGs Skulpturen fräsen zu lassen. Fasziniert hat ihn die Reaktion der Künstler: Alle begannen sofort, die Skulptur zu berühren, achtsam, fast zärtlich darüber zu streichen: »Du meinst, du streichst über dein eigenes Gehirn. Das ist eigenartig, obwohl es so abstrakt ist und nichts über deine Gedanken verrät, so scheint es doch die dreidimensionale Form davon zu sein.«
Als ausgebildeter Krankenpfleger war Adi Hoesle einige Jahre in der Anästhesie und Neurochirurgie tätig: »Da sieht man Hirnmasse, graue und weiße Substanz, und entwickelt ein Gespür dafür, was sich da abspielt. Da differenziert man zwischen dem, was man als physiologische Basis wahrnimmt, und dem, was uns als Mensch auszeichnet, das Mentale und der Geist.«
Sein Freiheitsdrang und seine Lust am Fragen führten ihn zum Kunststudium, erst in München, später an der Freien Kunsthochschule Nürtingen. Eigene Fragen zu stellen und keine fertigen Antworten zu akzeptieren, brachte ihn schon während seiner Schulzeit in Konflikte mit Autoritäten, denn in dem katholischen Internat, das er ab der 5. Klasse besuchte, herrschte eine strenge Hierarchie. Da wurde Kunst für ihn zum Freiraum: »Ich bin nicht an Normen, Regeln und Formen gebunden. Kunst ist dynamisch und bewegt sich an den wesentlichen Fragen des Lebens entlang. Es geht um das Existenzielle – und gleichzeitig kannst du einen doppelten Salto machen, dich vom Kleinsten zum Größten bewegen, über den Raum hinaus.«
Gerade die abstrakte, ästhetische Form deckt wieder auf, was durch konkretes Tun verschüttet wurde. Sie erschließt ihm auch die eigene Biografie: Als Adi zusammen mit seinem Bruder nach dem Tod ihres Vaters 2004 dessen Malerwerkstatt ausräumt, macht er eine überraschende Entdeckung: »Erst als alles leer war, entdeckte ich die abstrakten Schätze, die mein Vater unbewusst hinterlassen hatte, das, was von ihm, seinen Lehrlingen und Gesellen auf den Boden verspritzt wurde, umgefallene Kübel mit Farbe. All das erschien mir wie ein Gesamtporträt der ganzen Familie, denn das sind ja drei Generationen lang Maler gewesen.« Fotografien dieser Pinselbilder auf den Bodenbrettern und Fotos des familiären Umfelds präsentierte Adi Hoesle in einer Ausstellung: »Da begegnete ich auch meiner eigenen Biografie, projiziert auf einer abstrakten, ästhetischen Ebene.«
Die Suche nach der ursprünglichen Qualität, nach der Quelle, aus der jeder produktive Akt entspringt, hat ihn eine eigene Berufsbezeichnung finden lassen. Als Re­trogradist (retro bedeutet lateinisch »rückwirkend, rückbildend« und gradus »Schritt, Grad«) zeigt er, dass Rückbau ein kreativerer Akt sein kann als das Schaffen selbst. »Ein Gedanke, der sich beim retrograden Tun eingeschlichen hat und auch beim Brain Painting zum Tragen kommt. Der Rückbau der manuellen Tätigkeit, das Nichttun oder Nichtmehrtun als reine geistige Handlung – ich meine damit ›das Nichttun tun‹ – da verknüpft sich alles miteinander.«

Ästhetische Dimensionen
In seiner Kunst verbindet sich Adi Hoesle mit dem Schicksal von Menschen, deren Lebensäußerungen schicksalhaft eingeschränkt wurden, deren motorischer Rückbau durch Krankheit erzwungen wird. Doch sind sie deshalb auch geistig nicht mehr aktiv? Sind sie nur noch Gemüse, wie der englische Begriff »Vegetable« für Komapatienten im vegetativen Zustand andeutet?
Drei Jahre lang begleitete er einen Teenager, der mit elf Jahren an ALS erkrankte und mit achtzehn Jahren daran starb. Als er ihn 2006 kennenlernte, befand sich Sebastian bereits im Locked-In-Status: »Er war ans Bett gefesselt, er konnte sich gar nicht mehr bewegen, ein Hallo von ihm war zu dieser Zeit nicht mehr möglich, aber er konnte noch mit den Augen zwinkern.«
»Ich wurde damals Teil des Ganzen, reagierte emotional«, gesteht Adi Hoesle. Gerade um mit dieser Nähe produktiv umzugehen, schuf er mit seinen künstlerischen Intentionen eine objektive Distanz, die Räume für Kreativität öffnet: »Indem ich mich dem Leid des Jungen über eine ästhetische Dimension angenähert hatte, konnte ich ihn vielleicht besser verstehen, als wenn ich nur meine Betroffenheit gezeigt hätte.« Der Vater, der mit seinem Jungen Tag und Nacht zusammen war, erfasste intuitiv die Möglichkeit, den Kokon seines Leidens aufzubrechen. Zusammen installierten sie eine Kamera an den Kopf des Jungen: »Wie ein verlängertes Auge übernimmt die Kamera die Frage: Was sieht der Junge noch, was nimmt er wahr?« Der Vater baute sein Auto quasi in eine Intensivstation um und fuhr mit dem Jungen am Wochenende ins Grüne, in den Zoo und zu Popkonzerten. Für die Multimediainstallation »Styx«, die an den mythischen Fluss erinnert, der die Toten von den Lebenden trennt, sichtet Adi Hoesle 100 Filme und mehr als 8000 Fotos und entdeckt dabei wunderschöne Momente: »Wenn der Junge das ähnlich wahrgenommen hat, hatte er in dieser Intensität mit dem Vater die Möglichkeit, ein schönes Leben zu haben.«
Für den Vater des Jungen ist Adi bis heute eine wichtige Bezugsperson. Die Menschen mit ALS, mit denen er seit Jahren mit Brain Painting experimentiert, betrachtet Adi nicht als Patienten: »Ich spüre eine ganz hohe Achtsamkeit gegenüber diesen Menschen. Durch das euphorische Feedback, das ich von ihnen bekomme, eröffnet sich eine ganz andere Ebene der Kunst, die integral ins Leben zurückstrahlt.«
Als ehemalige Tänzerin sagt die an ALS erkrankte Angela Jansen: »Lange Zeit mochte ich keine Musik mehr hören, denn sofort fing ich im Kopf an, zu tanzen!« Heute aber sieht sie eine Chance, die im Gehirn durch die Musik ausgelösten Impulse auch umzusetzen. Adi Hoesle arbeitet mit ihr bereits an der Idee des Brain Dancing. So könnte sie mit Hilfe eines Avatars und eines Twin EEGs, dessen Entwicklung er angeregt hat, mit einem Tanzpartner über eine virtuelle Tanzfläche schweben.
Mit der Installation in der Rostocker Kunsthalle will Adi Hoesle kreative Begegnungen über gedachte Grenzen hinweg möglich machen, deshalb trägt das Projekt den Arbeitstitel Rostocker Synapse. In einem »art research lab« können Wissenschaftler und Künstler sich an gemeinsame Fragestellungen heranwagen und Besucher sich an Experimenten beteiligen. Der lebendige skulpturale Mittelpunkt dieser Installation ist Angela Jansen: »Sie kann sich nicht bewegen, und trotzdem hat sie eine unglaubliche Präsenz und etwas Geniehaftes. Sie verkörpert mit ihrer auratischen Ausstrahlung ein lebendiges Element und berührt damit viele Fragen, die auch in der Kunst virulent sind: Die Schnittstelle zwischen Körper und Geist, das Abtrennen der Motorik. Sie bringt auf den Punkt, was Lessing schreibt.«
»Das Gehirn ist nicht nur ein physiologisches Organ, es ist eigentlich ein soziales Organ«, sagt Adi Hoesle, »es dehnt sich in die Gesellschaft hinein aus: Ein Projekt wie ›Pingo ergo sum – Das Bild fällt aus dem Hirn‹ schickt Impulse an das motorische Zentrum, da gibt es ein Aktionspotenzial, es gehen auch Impulse an das vegetative Nervensystem und so fort. Da entsteht ein sozial-organisches Netzwerk, das sich in unserer Gesellschaft widerspiegelt.«
Neurowissenschaftler sprechen heute etwas sperrig vom »Biokulturellen Ko-Konstruktivismus«, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich Biologie und Kultur nicht nur beeinflussen, sondern sich gegenseitig erst erschaffen. Joseph Beuys sprach viel schöner von der Sozialen Plastik, die bei ihm natürlich über die soziale und kulturelle auch auf die konkret politische Wirkung zielte. Adi Hoesle sieht sich durchaus in dieser Tradition, doch meine Frage, ob auch er mit seinen künstlerischen Interventionen Gesellschaft verändern wolle, lässt ihn einen Moment innehalten: »Es ist schön, wenn es zu kleinen Veränderungen kommt. Wenn Angela Jansen sagt, wie wichtig es für sie ist, in Rostock dabei zu sein. Das ist für mich schöner als der Beifall irgendeiner Größe aus der Kunstszene.« 


Farah Lenser (58), Sozialwissenschaftlerin, Journalistin, Lektorin. Ihr Schwerpunkt als Moderatorin ist die Wiederbelebung von Gesprächskultur. www.open-forum.de 


Auf dem Weg zum direkten Bild
»Pingo ergo sum« ist in der Rostocker Kunsthalle vom 18. März bis 26. Mai zu sehen; parallel in Linz: »Ars Elektronica«. 

www.startnext.de/brain-painting-ausstellung
www.pingo-ergo-sum.de

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