Titelthema

Gärten statt Wüsten

Bertold Meyer, Bürgermeister der Gemeinde Bollewick in Mecklen­burg, Helmut Klüter, Professor an der Universität ­Greifswald, und Oya-Herausgeber Johannes Heimrath spra­chen über die Herausforderung, das Agrarindustrieland in einen ­»Garten der Metropolen« zu verwandeln.von Johannes Heimrath, Helmut Klüter, Bertold Meyer, erschienen in Ausgabe #12/2012

Johannes Heimrath Vielen Dank, Bertold, dass du uns als Hausherr in die Kulturscheune Bollewick eingeladen hast. Du bist Bürgermeister hier und einer der wichtigsten Nachhaltigkeitsakteure im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. In diesen Räumen haben wir auf Veranstaltungen der Akademie für Nachhaltige Entwicklung, der du wesentliche Impulse gibst, schon viel zusammen nachgedacht, auch über die Problematik, die heute unser Thema sein soll: die Bodengesundheit, die unter der industriellen Landwirtschaft leidet. Was können wir angesichts der Übermacht der Agrarindustrie für sie tun? Argumente, dass es so nicht weitergehen kann, liefern Forschungen wie diejenigen von dir, Helmut, als Humangeograf. So freue ich mich, dass wir heute Abend durch den dichten Herbstnebel hierher gefunden haben, um über konkrete Wege zu einem anderen Umgang mit dem Land zu sprechen.
Bertold Meyer Ja, das Thema ist so wichtig, dass man es auch spät am Abend noch diskutieren sollte. – Mittlerweile bin ich seit über zwanzig Jahren Bürgermeister in Bollewick. Ich habe schon die ­Agrarentwicklungen in der DDR und die Umbrüche nach der Wende miterleben können. Heute bildet die Landwirtschaft, die diese Dörfer in den vergangenen Jahrhunderten aufgebaut hatte, nicht mehr die Grundlage dieser Orte. Die wenigsten Menschen arbeiten noch in der Landwirtschaft, und genau wie in den Ballungsräumen findet auf dem Land die »Nahrungsaufnahme« gewissermaßen über die Supermärkte statt. Dabei könnte die regionale, ökologische Produktion den Menschen nicht nur gesunde Nahrung, sondern auch Arbeit geben, und sie könnte die schöne Landschaft erhalten, was für den Tourismus enorm wichtig ist. Wie kann man hier Alternativen entwickeln, einen Sinneswandel oder einen Kulturwandel einleiten?
Helmut Klüter Mit solchen Fragen befasse ich mich unter anderem auch als Lehrstuhlinhaber an der Universität Greifswald. Unsere Themen sind regionale Geografie und regionale Entwicklung. Dabei sind wir auf Nordostdeutschland, insbesondere den Ostseeraum spezialisiert. Um unseren Studenten etwas erzählen zu können, müssen wir die Strukturen im Land kennen, Exkursionen unternehmen, Gespräche führen und Statistiken auswerten. Auf dieser Grundlage lässt sich fragen: Muss die jetzige Situation so sein, wie sie ist? Und wie ist sie entstanden? Bei der Beantwortung dieser Fragen geht es den Geografen nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern sie schauen nach nebenan in eine Nachbarregion oder in ein Nachbarland, das ähnlich strukturiert ist, wo die Dinge aber anders laufen. So können wir analysieren, wie sich negative Entwicklungen vermeiden ließen. Das ist spannend.
JH Welches sind denn die Probleme, die ihr zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern ausfindig gemacht habt?
HK Die Produktivität der Landwirtschaft liegt in diesem Bundesland mit seinen Großbetrieben von bis zu 10 000 Hektar weit unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Dabei dürfen wir betriebswirtschaftliche Effektivität nicht mit regionalwirtschaftlicher Effektivität gleichsetzen. Es kann durchaus sein, dass ein Groß­betrieb aus Sicht des Inhabers effektiv arbeitet, aber regionalwirtschaftlich sind kleinere Betriebe in der Regel – bezogen auf den Hektar Nutzfläche – produktiver. Sie bringen viel mehr Leute in Lohn und Brot. So haben wir hierzulande eine völlig mangelhafte regionalwirtschaftliche Effektivität.
BM Hängt das mit den fehlenden Verarbeitungsstrukturen in der Region zusammen?
HK Ja, zum Teil. Bei Großbetrieben ist die Spanne zwischen ­Gewinn und Subventionen nicht sehr groß. Wenn wir davon ausgehen, dass so ein Großbetrieb 400, 500, 600 Euro pro ­Hektar ­erwirtschaftet, und er weiß, dass die EU-Subventionen allein 350 Euro pro Hektar ausmachen, wächst seine Gewinnspanne massiv, wenn er möglichst wenige Arbeitskräfte beschäftigt. Bei einem Kleinbetrieb sieht es betriebswirtschaftlich lange nicht so günstig aus. Häufig kann die Landwirtschaft allein den Betrieb nicht tragen. Deshalb wird die Familie noch in anderen Bereichen tätig, bietet »Ferien auf dem Bauernhof« an, lässt nebenbei eine kleine Veredelung laufen oder betreibt einen Hofladen. So hat der Hof eine hohe regionalwirtschaftliche Produktivität und ist mit dem Dorf verknüpft, so wie ich es von Höfen aus Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen kenne. Aber die Entwicklung hin zu immer mehr Großbetrieben ist bundesweit ungebrochen. Schon über 60 Prozent der Inhaber von Einzelbetrieben, die über 45 Jahre alt sind, sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland, wissen nicht, wie die Zukunft ihres Hofs aussieht, weil sie keine Nachfolger haben. Damit bietet sich der Verkauf des eigenen Lands an einen Groß­agrarier natürlich an. Großbetriebe liefern nur an den Großhandel, sie machen keinen Hofladen und keinen Schaugarten auf.
BM Als wir in den 90er Jahren die Kulturscheune Bollewick ausgebaut haben, hatten wir gar nicht genug aus der Region anzubieten, da lagen dann teilweise Produkte aus Schleswig-Holstein hier im Laden. Deshalb haben wir damals die Landwerkstätten gegründet. Inzwischen werden in Bollewick ökologische Lebensmittel in einem gewissen Maß veredelt, doch noch lange nicht in dem Ausmaß, wie wir es bräuchten.
HK Der Problematik der Großbetriebe ist in der Tat schwierig beizukommen, denn so ein Betrieb bekommt mehr Subventionen als die kleine Gemeinde, die in vielen ländlichen Räumen mit ansehen muss, dass die öffentliche Hand praktisch diejenige Kraft subventio­niert, die den ländlichen Raum entleert hat, und das ist die Agrarindustrie. Das ist eine politische Ungerechtigkeit, die so schnell wie möglich abgestellt werden müsste.
JH Ja, diese Subventionspolitik müsste sich dringend ändern, und zugleich müsste ein Kulturwandel einsetzen, der den gesamten Bereich der landwirtschaftlichen Produktion in einen anderen Kontext überführt. Solange wir im Waren-Paradigma bleiben, im Paradigma der ausbeutbaren Ressourcen, und nur die Methoden ändern, ändert sich die Kultur in diesem Land noch lange nicht, ändert sich nicht das Verhältnis zum Phänomen »Boden« als unsere Lebensgrundlage. Wenn wir die Bedeutung eines Kulturwandels ernstnehmen, müssen wir wohl noch tiefer greifen und den Eigentumsbegriff in Frage stellen. Wir wenden auf die Ressource Land, die der Allgemeinheit zugutekommen sollte, weil sie ein Gemeingut ist, einen längst nicht mehr zeitgemäßen Eigentumsbegriff an.
BM Weshalb ich auf einen Kulturwandel setze und nicht glaube, dass sich die EU-Agrarpolitik wesentlich ändern wird, erklärt meine Erfahrung, dass dort die Lobbyisten regieren. Die helfen mir nicht bei der Lösung meiner kommunalen Probleme. Deshalb denke ich immer auf mehreren Schienen: Was kann ich vor Ort hier im Dorf tun? Und wie kann ich regionale Bündnisse aufbauen, auch auf Landesebene? Vielleicht lässt sich so eine Wirkung erzielen, dass unsere Netzwerke etwas ausstrahlen und diesen notwendigen Kulturwandel sympathisch machen. Sich vors EU-Parlament oder den Reichstag stellen und mal einen Lauten machen, ist natürlich auch notwendig. Die Leute sagen immer: Du kleiner Dorfschulze kannst in dieser globalisierten Welt schon gar nichts bewegen. Ich glaube, das ist ein Fehler. Wenn man die Potenziale seiner Region erkennt und sich überregional vernetzt und austauscht, gibt es große Chancen, viel zu bewegen. Die Initiative »500 (Bio-)Energiedörfer für Mecklenburg-Vorpommern« ist so ein Beispiel.
Natürlich muss man sich der Gefahren bewusst sein. Da sind die in- und ausländischen Investoren, an die ältere Leute aus Mangel an Geld ihr Land verkaufen, statt an den Landwirt von nebenan, dem sie es jahrelang verpachtet hatten. Dann steht da nach einem Jahr eine große Hähnchenmastanlage. Deshalb wiederhole ich das Thema Kulturwandel: Wie entsteht ein Bewusstsein darüber, dass regionalwirtschaftlich orientierte Landwirtschaft bei Landverkäufen den Vorzug bekommen muss?
HK Es kommt eben darauf an, welcher Wirtschaftszweig im Land für bedeutend gehalten wird. Nehmen wir das Beispiel Südtirol. Diese Region hat nur knapp 400 000 Einwohner, aber ihre Übernachtungszahlen liegen über denen von ganz Mecklenburg-Vorpommern. Große Teile Südtirols sind touristische Vorbehaltsräume, das heißt, die Landwirtschaft muss sich dort nach den Vorgaben des Tourismus richten. De facto muss sie dadurch ökologisch arbeiten und erzeugt fast so eine Bruttoproduktion wie Mecklenburg-Vorpommern. Wenn man sich anschaut, dass da eigentlich nur große Berge und Steine herumliegen, ist das beachtlich.
JH Bei solchen auf den ersten Blick stolzen Beispielen frage ich mich als Kommunalpolitiker allerdings immer: Wie resilient sind solche Regionen? Die Tourismus-Industrie ist an einen gewissen Wohlstand geknüpft. Was ist, wenn der Tourismus wegbricht?
BM Im Sinn der Resilienz ist auch zu berücksichtigen, dass die gesamte Energieversorgung in den nächsten fünfzig Jahren umgebaut werden muss. Ressourcen wie Öl, Gas oder die Atomenergie stehen immer weniger zur Verfügung oder sind auch nicht mehr bezahlbar. Wir müssen aus meiner Sicht unbedingt erreichen, dass dieser Prozess durch Bürger, Unternehmen und Gemeinden in ihrer jeweiligen Region verantwortungsbewusst im Sinn der Nachhaltigkeit gestaltet wird, nicht durch eine Großindustrie. Wenn das nämlich erreicht wird, suchen Menschen wieder vermehrt ihre Heimat im ländlichen Raum.
JH Dann kommen auch die jungen Leute.
BM Ja, denn es geht auch um technologische Herausforderungen, und das interessiert die Jungen. Obwohl Technik allein die Proble­me nicht lösen wird. Das Bewusstsein muss wachsen, dass all das, was uns dieses Ölzeitalter so bringt an Kunstdüngemitteln etc., irgendwann zu Ende ist, und dann werden wir sehen, wie schwach unsere Böden geworden sind.
JH Viele Flächen der großen Agrarindustriebetriebe sind schon heute nach geologischer Klassifikation nur noch Wüsten; dort bildet sich kein Humus mehr. Vielleicht ließe sich über Tourismus für diese Problematik Bewusstsein schaffen. Darum bemühe ich mich unter anderem als Stadtrat in meinem Ort. In Österreich gibt es zum Beispiel die Ökoregion Kaindorf, die sich intensiv mit Kompostwirtschaft und Humusbildung beschäftigt und Bildungs- und Tourismusveranstaltungen rund um dieses Thema anbietet.
HK Hin und wieder gibt es ja auch bei uns positive Ansätze für Öko-Tourismus in Ostdeutschland. Ich denke an das Gutshaus Stellshagen im Klützer Winkel. Dort werden die Nahrungsmittel für die Küche auf eigenen Flächen ökologisch angebaut. Sicherlich hängt es von der Kaufkraft unserer Metropol-Regionen ab, ob sich die Besucher so ein Hotel leisten können. Es gibt ja das schöne Konzept »Garten der Metropolen«, das darauf hinwirken soll, dass sich Stadt und Land bewusstmachen, wie stark sie aufeinander bezogen sind. Wenn das Land mit einer Parklandschaft oder einer Gartenlandschaft locken würde, kämen auch die Leute aus den Städten. Schon jetzt haben wir in vielen ländlichen Gemeinden eigentlich Bevölkerungswachstum. Nur das schlägt sich statistisch nicht nieder, weil die neu Zugezogenen ihren Erstwohnsitz in Berlin oder in Hamburg belassen. Was könnte diese sehr interessante Zweitwohnsitzbevölkerung schließlich ganz aufs Land locken?
BM In unserer Gemeinde haben viele diesen Schritt getan. Selbst hier in der Kulturscheune gibt es zwei Betriebe, die aus Berlin umgesiedelt sind, um im »Garten der Metropolen«, um den Begriff noch einmal aufzunehmen, zu wirtschaften. Dieser Begriff hat viel Kraft. Er beschreibt die Menschen auf dem Land als aktive Gestalter, nämlich als Gärtner. Ein Garten kann ein intensiv gepflegtes Beet, ein ökologisch bewirtschaftetes Feld oder auch ein Park sein.
JH Die Idee des Gartens ist Teil meiner Post-Kollaps-Vision. Wir im Lassaner Winkel haben ja mehrere eigentlich urban geprägte Betriebe auf dem Land, wir produzieren Bücher, Zeitschriften und Internetseiten und arbeiten dabei mit einer ganz und gar erdöl­basierten, urbanen Technologie, von der höchst fraglich ist, wie lange sie in dieser Form noch existiert. Tag für Tag denken wir darüber nach, wie wir dieses Leben so führen können, dass es Teil des Kulturwandels wird – hin zu einer »enkeltauglichen« Gesellschaft. Vermutlich werden unsere Enkel auch noch über Computertechnologien verfügen, aber vielleicht dient der weitaus größere Teil ihrer Lebensführung dazu, Gärtner im buchstäblichen Sinn zu sein.
BM Der ländliche Raum kann enkeltauglich werden, wenn er sich selbst ernstnimmt und erkennt, dass die Ressourcen, die heute die Ballungsräume füttern, ihren Höhepunkt schon überschritten haben. Wenn jemand den Begriff »Garten der Metropolen« zum ersten Mal hört, wird oft gefragt: Ist das wieder ein neuer Marketing-Spruch? Nein, in der Akademie für Nachhaltige Entwicklung haben wir uns entschieden, diesen Begriff einfach nur ins Gespräch zu bringen und positiv wirken zu lassen.
HK Jetzt habe ich eine Frage als Staatsbürger an euch Kommunalpolitiker: Ihr habt beide einhellig gesagt, dass für euch das Konzept »Garten der Metropolen« sehr wichtig ist. Aber in der Landesplanung, das heißt im derzeitigen Raumentwicklungsprogramm und auch in den sonstigen Dokumenten der Ministerien kommt dieser Begriff überhaupt nicht vor.
BM Warten wir’s mal ab! Kürzlich haben wir den Begriff mit Regio­nalentwicklern aus Hamburg diskutiert, und die meinten: Klasse, das sagen wir in Zukunft auch. Wenn ein Dritter einen neuen Begriff einführt, kommt er irgendwann auch »ganz oben« an, nicht, wenn wir kleinen Bürgermeister und Stadträte damit anfangen. Wir müssen eher die Aufgaben der Gärtner beschreiben, damit die Menschen auf dem Land irgendwann sagen können: Ich gewinne an Bedeutung, indem ich meine Landschaft, meine Heimat erhalte, und das geht bis hin zur Bodenkrume. Ich bin wichtig, weil ich das Land für alle fruchtbar mache, auch für meine Enkel …
HK Das wäre so eine Art Leitbild für den ländlichen Raum – entweder ihr wollt diesen Garten, oder ihr wollt Agrarindustrie. Beides verträgt sich nicht.
JH Ich möchte nochmal den Aspekt »Ohnmacht« ansprechen. Wir haben diese Idee des Gartens in unser kleines Regiönchen, den Lassaner Winkel, mitgenommen. Und wir erleben, wie die mehreren Tausend Hektar Ackerland unseres Gemeindegebiets fast vollständig unter den Riesenmaschinen der Agrarindustrie ächzen. Auf der gesamten Fläche der Gemeinde verschwindet der fruchtbare Boden. Warum kann ein Stadtparlament nicht fordern, dass das Gemeindeland enkeltauglich bewirtschaftet werden soll? Das läge doch nahe. Ein Gemeindeparlament kann doch auch sagen: In mein ­Gebiet keine Windräder oder keine Gewerbe, die Schwermetall in die Gegend pusten. Aber wir müssen zulassen, dass der Boden vernichtet wird und wir und unsere Kinder monatelang jede Menge Gift einatmen. Das habe ich schon vor zehn Jahren nach dem ersten ­Clomazone-Skandal (siehe auch Seite 42) von der Regierung gefordert, aber da geht immer das Eigentumsrecht vor.
HK In Nordrhein-Westfalen haben die Landwirtschaftskammern eine Erosionsschutz-Verordnung angeschoben. Derzufolge müssen die Agrarbetriebe bestimmte Vorschriften der EU bei der Bodenbearbeitung beachten, nur dann erhalten sie Subventionen. Man könnte derart viele Erosionsschutz-Maßnahmen in die Welt setzen, dass die Betriebe kaum anders als ökologisch wirtschaften können.
JH Alles gut und richtig und hier und da womöglich auch erfolgreich, doch das bewegt sich immer noch auf der Ebene der Trickserei und der Methoden. Als Mandatsträger einer Kommune habe ich ja eine Daseinsfürsorgepflicht zu erfüllen. Und die erstreckt sich nicht nur auf die jetzt lebenden Einwohner, sondern auch auf deren Kinder und Kindeskinder. Und da gehört für mich die Gesundheit der Umgebung, der Heimat, der Aufbau des Bodens als nachhaltige Lebensgrundlage essenziell dazu. Das will ich als Stadtrat als selbstverständlich beachtet wissen, ohne Tricks erfinden zu müssen.
BM Die Erosions-Problematik in ihrer ganzen Dramatik ist im öffentlichen Bewusstsein noch gar nicht angekommen, das zeigte doch auch der Sandsturm im Frühjahr auf der A 19, der eine Massenkarambolage mit vielen Toten verursacht hat. Was mich absolut verwundert hat, war, dass in den Medien die Schuld fast nur auf den Klimawandel geschoben wurde. Die Landwirtschaft hatte keine Schuld, obwohl jeder mit gesundem Menschenverstand feststellen kann, dass es bei 1000-Hektar-Schlägen ohne Hecken und bei anhaltender Trockenheit zu solchen Katastrophen kommen muss.JH Ja, niemand kann rechtmäßig zu diesem Bodenvernichter gehen und ihn dazu zwingen, Hecken zu pflanzen. Deshalb brauchen wir neue bürgerschaftliche Partizipationsmodelle, wenn es mit dem Garten der Metropolen etwas werden soll.
HK Wenn ihr von der Ohnmacht sprecht, denke ich immer, dass sich Deutschland die Ohnmacht der Kommunen selbst eingebrockt hat. In Dänemark zum Beispiel ist die Situation ganz anders. Die Windräder, die dort stehen, gehören nicht irgendwelchen Investoren, sondern in der Regel den Gemeinden. Das sind meist größere Landgemeinden, Zusammenschlüsse von mehreren kleinen Dörfern, die dadurch aber nicht ihre Identität verloren haben. Diese Gemeinden haben einen beachtlich großen Haushalt. Greifswald als kreisfreie Stadt hat zum Beispiel einen Etat von 120 Millionen Euro, doch die dänische Landgemeinde Guldborgsund auf den Inseln Falster und Lolland kann über 160 Millionen als Etat verfügen. Wenn ich als Bürgermeister im ländlichen Raum einen solchen Etat verwalte, gehören mir als Gemeinde die Schulen, die Arztpraxen und die Krankenschwestern, und ich kann den Eigenanteil für Investitionen in erneuerbare Energien aufbringen. Die dänischen Landgemeinden verlegen sogar ihre eigenen Fernwärmenetze.
BM Hier vor Ort wollen wir nächstes Jahr auch ein Nahwärmenetz bauen, das die Abwäme aus einer Biogasanlage nutzt. Drei Monate gab es Diskussionen mit meinen Bürgern, ob sie sich an dieses Netz anschließen oder nicht. Das war spannend. Der Weg zu einer dezentralen Energieversorgung in den Dörfern heißt: Redet miteinander! Und was kann uns Besseres passieren, als miteinander darüber zu sprechen, was uns verbindet – ein Wärmenetz?
JH Als wir auf unserer Exkursion mit den Akteuren des 500-(Bio-)Energiedörfer-Projekts die dänische Klimainsel Samsø besucht haben, ist mir vor allem aufgefallen, wie intensiv die Dänen über alle Milieus hinweg miteinander sprechen. Nur ein paar Kilometer, nur ein paar Seemeilen weiter als hier gibt es eine andere Kultur. Das macht Mut, auch hier den Kulturwandel voranzubringen.
BM Meine Hoffnung ist, dass wir in zwei Jahren unser Wärmenetz fertiggestellt haben. Menschen, die in den Ferien zu uns kommen, können das von uns abschauen. Die Dinge müssen eine Eigen­dynamik bekommen, dann wachsen wir schneller aus dem Ölzeitalter heraus, als manch einer heute glauben mag, dann werden die Ideen, die auf resiliente Regionen zielen, fruchten.
JH  Das ist ein schönes Schlusswort: »fruchten«. Die Frucht ist das Erzeugnis eines Gartens. Und ein Garten wächst dann am besten, wenn der Boden stimmt und gut ist. Und wenn er gepflegt wird, gehegt wird. Habt vielen Dank für das weitblickende Gespräch. 


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