Titelthema

Ohne Bürgerbeteiligung geht es nicht mehr

Demokratie braucht Teilhabe und politische Gerechtigkeit.von Claudine Nierth, erschienen in Ausgabe #10/2011
Photo

Hatten Sie schon einmal ein undemokratisches Erlebnis? Ja klar, das kennt doch jeder! Jeder kennt die Situation, dass etwas über ihn hinweg entschieden wurde, obwohl es einen betraf. Man ist empört und in seinem Rechtsempfinden berührt.
Hatten Sie schon mal ein demokratisches Erlebnis? Naja, so halbwegs? Und wenn, dann nur im eigenen Umfeld? – Das zu verändern, ­daran arbeiten wir seit 1988 mit unserem Verein »Mehr Demokratie«.
Es ist richtig, dass »Stuttgart 21« und die jüngste Debatte um den Atomausstieg sowie die beiden Volksentscheide in Bayern und Hamburg im letzten Jahr ein politisches Umdenken hervorbrachten. Interessanterweise beteiligten sich an diesen Aktionen nicht nur die »üblichen Verdächtigen«, wie Studenten, Alternative und Autonome, sondern es war der Querschnitt der Gesellschaft, der auf die Straße ging. Ihr gemeinsames Anliegen: Bürgerbeteiligung und Bürgerentscheide müssen zukünftig die Politik ergänzen. Und die zukünftige Rolle des Politikers? »Moderator«, »Vermittler«, wie unlängst Eka von Kalben, Parteivorsitzende der Grünen in Schleswig-Holstein, selbstkritisch äußerte.
Ein allgemeines politisches Unrechtsempfinden haben wir tatsächlich in großem Stil mit »Stuttgart 21« vor uns. Dass damit ein fünfzehnjähriger politischer Prozess letztendlich im Schlichterspruch einer einzelnen Person endet, ist alles andere als ein demokratischer Prozess. Im Gegenteil, dieser Schlichterspruch spiegelt die gesamte Not der heutigen Politik: Immer mehr wird von immer weniger Menschen entschieden. Und Stuttgart ist ja nur ein Beispiel.
Das Ergebnis einer Entscheidung hängt maßgeblich von der Qualität des Prozesses ab, der zur Entscheidung führt. Wenn für einen Entscheidungsprozess ausreichend Zeit für Diskurs, Informationen und Beteiligungsverfahren eingeräumt werden, wenn man lange genug nach dem »Richtigen« bzw. »Stimmigen« suchen kann, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass alle die Entscheidung begrüßen.
Dabei sollte die beratende mit der verbindlich entscheidenden Bürgerbeteiligung verknüpft sein. Im Fall von »Stuttgart 21« und anderen Großprojekten wäre ein Dreischritt empfehlenswert gewesen: Zu Beginn des gesamten Prozesses hätten die Bürgerinnen und Bürger per Volksabstimmung darüber abgestimmt, ob überhaupt ein Umbau des Stuttgarter Bahnhofs angestrebt werden solle, ja oder nein. Wenn diese Frage mehrheitlich mit Ja entschieden worden wäre, hätten im zweiten Schritt Vorschläge für das Wie der Umgestaltung des Bahnhofs durch beratende Formen der Bürgerbeteiligung erarbeitet werden können. In einem dritten Schritt hätte dann über diese Vorschläge wieder per abschließender Volksabstimmung entschieden werden können. Der mehrheitlich angenommene Vorschlag wäre schließlich verbindlich umgesetzt worden.
Auf diese Weise hätten wir einen breiten demokratischen Prozess zu einem Großprojekt erlebt. Ein Wettbewerb der ­interessantesten Lösungsvorschläge wäre in Gang gesetzt worden, dessen Ende die Bürger selbst mit der Kür der besten Idee bestimmt hätten. Die breite Legitimation per Bürgerbeteiligung und Volksabstimmung hätte auf Jahre größte Akzeptanz mit sich gebracht, und am Ende hätte eine Mehrheit der Menschen stolz hinter dem Projekt gestanden. Wir alle, Politiker wie Bürger, hätten so etwas wie politische Gerechtigkeit erzeugt, erlebt und verwirklicht.

Praktische Beispiele – Wohin könnte die Reise gehen?
Doch leider ist dem nicht so gewesen. Und schon längst geht es nicht mehr um den Bahnhofsbau, nein, es geht um ein demokratisches Prinzip. Das einzige, was wir »Stuttgart 21« verdanken, ist der Stein, der ins Rollen kam. Damit ist die Chance gegeben für einen grundsätzlichen politischen und kulturellen Wandel.
Doch konkret: Wohin könnte die Reise gehen, wenn Ministerpräsident Kretschmann sagt, »wir müssen zukünftig einen Schritt in die Zivilgesellschaft gehen«, wie er es in seiner Antrittsrede tat?
Wir müssen Bürgerbeteiligung und Bürgerentscheide handfest in der Politik verankern, institutionalisieren. Denn die Menschen sind sehr sensibel, wenn Bürgerbeteiligung nur vorgegaukelt wird. Jetzt gilt es, die Forderungen umzusetzen. Die Möglichkeiten sind vorhanden und bereits erprobt.
Eine lebendige Demokratie lebt von Beteiligungsformen durch Beratungs- und Teilhabemöglichkeiten. Diese werden durch unterschiedliche Formen wie zum Beispiel Bürgergutachten oder Planungszellen, runde Tische und Hearings realisiert, wie auch durch verbindliche Bürgerentscheide. Die Beteiligung mittels einer Planungszelle z. B. legt den Schwerpunkt auf die beratende Einbindung der Intelligenz der Vielen. Per Zufallsprinzip werden je nach Umfang bis zu hundert Personen aus dem Telefonbuch ausgewählt, für eine gewisse Zeit, z. B. eine Woche, freigestellt, um von Experten informiert, von einer externen, unabhängigen Moderation begleitet und in ständig wechselnder Kleingruppenarbeit in die Problemstellung eingearbeitet zu werden und Lösungsansätze zu finden. Am Ende werden die Laien zu Experten und die Pro­bleme zu Lösungen. Die Politik kann diese übernehmen oder allen Bürgern zur Abstimmung übergeben.
Das ist nur ein Beispiel für neue kreative Wege. Auch die Idee einer Bundeswerkstatt, wie sie Jascha Rohr im Zusammenhang mit kollaborativen Formen von Demokratie als Ziel formuliert (siehe Seite 12), ist inspirierend. Doch grundsätzlich bleibt das Problem mit jeglicher Institutionalisierung von Bürgerbeteiligung die Erstarrung in der strukturellen Form. Man müsste ein Organ entwickeln, dass sich zu jeder Frage entsprechend neu formiert, je nachdem, wie die Lösung dieser Frage es fordert. Zu jedem Problem kann auch eine andere, eigene Diskursform nötig sein. Die Bürgerbeteiligung ist in so verschiedener Weise möglich, dass man nie sagen kann, »das« ist jetzt die einzig richtige Form. Diese Flexibilität müssten auch neue Organe wie eine Bundeswerkstatt oder Landeswerkstätten beinhalten.
Denn es gilt: Wenn wir aufhören, die Demokratie zu entwickeln, fängt die Demokratie an, aufzuhören. Demokratie entsteht, wo mindestens zwei Menschen sich über eine Sache, die sie beide betrifft, vereinbaren. Mehr nicht. Jede Gemeinschaft, und sei sie noch so klein oder groß, bestimmt die Regeln, nach denen sie sich miteinander vereinbart, selbst. Das kann eine Familie sein, eine Hausversammlung, in einem Unternehmen die Belegschaft (oder ihre gewählten Vertreter), in einem Verein die Mitgliederversammlung, in einem Staat die Bürgerschaft usw. Jede Gemeinschaft kann ihre Entscheidungsformen jeweils unterschiedlich neu definieren: Entscheidet man sich dafür, dass einer für alle entscheidet, weil er das Vertrauen aller genießt? Entscheidet man nach dem Konsensprinzip? Wählt man lieber Delegationen, die für einen selbst entscheiden? Oder soll nach reinem Mehrheitsprinzip entschieden werden? Je nach Sachlage kann das eine oder das andere Prinzip gewählt werden. Aber allein die Tatsache, dass alle darüber befinden, nach welchem Prinzip entschieden wird, ist bereits ein Ausdruck der Gleichberechtigung aller. Und genau deshalb sind auch die Demokratien so unterschiedlich, weil jede Gesellschaft ihre Form selbst findet.

Demokratie kennt viele Formen
Demokratie existiert nur durch ihre Anwendung, infolgedessen ist sie auch nur so gut, wie ihre Anwender die Rahmenbedingungen ausgestalten. Ein Fußballfeld am Berghang wäre schlichtweg unfair für die Spieler – eine Demokratie mit eingeschränkter Beteiligung und bevormundender Ausrichtung ist unfair für ihre Teilhaber. Die demokratische Rechtsform geht einher mit der politisch gelebten Kultur und umgekehrt; sie bedingen einander. Je entwickelter eine Gesellschaft, desto differenzierter ist ihre Entscheidungsstruktur.
Gegenwärtig ist die Demokratie weltweit die anerkannteste ­Gesellschaftsform. Seit dem zweiten Weltkrieg führen interessanterweise Demokratien keine Kriege untereinander. Dennoch wurden Kriege von Demokratien angezettelt, z. B. um Demokratie in undemo­kratischen Ländern zu erzwingen. Wie erfolglos das ist, zeigt die Geschichte. Die meisten Kriege finden heute innerstaatlich statt: als Auseinandersetzung darüber, wer die Macht in einem Land ausübt und nach welchem Prinzip regiert werden soll.
Immer mehr Demokratien greifen neben der parlamentarischen Demokratie auch Elemente direkter Demokratie auf. Deutschland ist heute das einzige Land unter 27 Staaten in der EU, das noch keine nationale Volksabstimmung erlebt hat. Man glaubt es kaum.
Die Schweizer geben demgegenüber jedem Bürger das Recht, selbst initiativ zu werden und eine Volksinitiative zu starten. Damit erteilt ihm die Gesellschaft die größtmögliche Freiheit: Sie gesteht ihm die unmittelbare Einflussnahme zu. Hat er eine geniale Idee, beispielsweise eine Lösung für ein Problem in der Energiepolitik, so kann er diese in eine Gesetzesform gießen und per Volksinitiative in die gesellschaftliche Debatte einbringen. Sollte diese Idee bei einer genügend großen Anzahl Menschen Anklang finden, was sich in einem Volksbegehren ausdrückt, kann es zu einem Volksentscheid kommen. Jeder Bürger bekommt ein Informationsheft, in dem zu gleichen Anteilen Pro und Contra zu dieser Idee dargestellt sind, Experten geben Stellungnahmen ab, Medien greifen das Thema auf, man diskutiert mit Freunden. Am Ende eines solchen Prozesses ist man zu einem in dieser Frage urteilsfähigen, mündigen »Entscheider« gereift. Nimmt eine Mehrheit die Idee an, ist sie geltendes Gesetz für alle.
Diese Form der Demokratie, mit zwei ausgewogenen Standbeinen (parlamentarische und direkte Demokratie), führt nachweislich zu einer politischen Kultur, in der mehr überzeugt statt befohlen wird. Jedes Volksbegehren bringt zwangsläufig einen Bewusstseinsprozess mit sich. Es entsteht eine Kultur, in der jeder seine Position äußern darf, aber auch angeregt wird, seine eigene Position zu hinterfragen und die des anderen zu verstehen. Natürlich mit dem Nachteil, sich auch mal in der Position der Minderheit wiederzufinden und Entscheidungen akzeptieren zu müssen, die man anders gefällt hätte – aber immer mit der Möglichkeit, es auch wieder ändern zu können.

Für eine Politik des Vertrauens
Hinter solchen Gesellschaftsformen steht ein starkes Menschenbild. Nur wer den Bürgern vertraut, genauso vernünftig und unvernünftig zu entscheiden wie Politiker, lässt sich auf so viel Demokratie ein. Nur wer überzeugt ist, dass der Mensch wächst, sobald er mehr zu entscheiden und verantworten hat, wird ihm diese Möglichkeit einräumen. Nur wer den anderen mindestens so akzeptiert wie sich selbst und ihm die gleichen Rechte einräumt, kommt zur Akzeptanz solcher Spielregeln der Machtverteilung.
Der Wunsch, sich zu beteiligen, wächst weltweit. Verantwortung zu übernehmen, frei und selbstbestimmt zu leben, ist eine Forderung von heute. Der »arabische Frühling«, der Aufbruch in den nordafrikanischen Ländern zu mehr Demokratie, gibt Hoffnung. Doch nach dem Aufbruch folgt erst der eigentliche, lange Weg. Das Geheimnis der Demokratiebewegungen ist, dass sie nur von unten und von innen in einer Gesellschaft wachsen können. Versuche, sie von oben zu installieren, schlagen in der Regel fehl, siehe Irak oder Afghanistan. Das liegt mit Sicherheit daran, dass Demokratie eben von jenen untereinander vereinbart werden muss, die sie anwenden. Dass Demokratie nur leben kann, wenn sie der Kultur entspricht, die sie hervorbringt.
In Deutschland erobern wir uns die direkte Demokratie seit über zwanzig Jahren Stück für Stück von unten, von der Gemeindeebene über die Landesebene bis hin zur noch immer nicht realisierten bundesweiten Volksabstimmung. Die Erfahrungswerte von über fünftausend Bürgerbegehren in Deutschland liefern die empirischen Grundlagen für das Vertrauen in das Instrument. Je mehr wir unsere Demokratie entwickeln, umso mehr wird sie Vorbild für andere Länder sein können.
Der weltweiten Demokratiebewegung liegt ein gemeinsamer Wunsch zugrunde: Jeder Mensch möchte heute in seiner Eigenart ernstgenommen werden und in der ganzen Gemeinschaft so, wie er ist, aufgenommen sein. Neurologie und psychosomatische Immunologie haben hierzu interessante Erkenntnisse vorgelegt. Sie stellen fest, dass die gesundheitliche Stabilität eines Menschen vornehmlich von zwei Faktoren abhängt: Jeder Mensch sollte jeden Tag einmal menschliche Zuwendung erfahren und die Gelegenheit bekommen, wahrgenommen zu werden. Jeder Mensch sollte einmal am Tag die Möglichkeit haben, etwas bzw. sich selbst zu verändern.
Das ist doch eine tiefgründige Erkenntnis, die einen neuen Blick auf unser gesellschaftliches Zusammenleben wirft! Eine Kultur, die durch und durch demokratisch geprägt ist, entwickelt sich, indem sie sich selbst hervorbringt. Ihre Voraussetzungen sind gleichsam ihre Folgen. Es ist eine Bewegung aus dem Zukünftigen, sie bildet die Ursache für das Heutige. In welcher Kultur wir dann morgen leben? – In derjenigen, die wir zu jeder Zeit in der Lage sind, neu zu kreieren. In solch einer Kultur ist der Mensch nur so frei, wie er sich selbst in jedem Augenblick seines Lebens folgen kann. Dies gilt auch für das Gemeinwohl, in dem jeder ein freier Schöpfer des Ganzen ist. Vielleicht fordern wir dann nicht mehr nur »mehr Demokratie«, sondern besinnen uns darauf, immer mehr Mensch zu werden … 


Claudine Nierth (44), Sprecherin des Bundesvorstands von »Mehr Demokratie e. V.«, unterstützte bereits in den 80er ­Jahren die »Aktion Volksentscheid« und initiierte in den 90er Jahren Volksbegehren in Hamburg und Schleswig-Holstein. Seit ihrem Kunststudium und mehrjähriger Bühnenensemble­tätigkeit ­gestaltet sie künstlerisch soziale Prozesse. 


Mehr Demokratie gefällig?
 
www.mehr-demokratie.de

weitere Artikel aus Ausgabe #10

Gemeinschaftvon Wolfram Nolte

Wenn das Feuer brennt

Junge Familien mit Kindern wollen die Gesellschaft verändern. Gibt es so etwas? In der Region Allgäu-Bodensee-Oberschwaben hat sich eine Initiative junger Menschen gebildet, die Alltag und Politik gemeinsam leben und verändern wollen.

Photo
von Matthias Fersterer

Good Bank (Buchbesprechung)

»Bad Banks« sind in aller Munde – was aber ist eine ihres Namens würdige »Good Bank«? Diese Frage stellt Finanzjournalist Caspar Dohmen, Autor von »Let’s Make Money«, dem Buch zu Erwin Wagenhöfers Dokumentarfilm, am Beispiel der GLS-Bank.

Photo
Die Kraft der Visionvon Elinor Ostrom

Fordernde Allmende

Die meisten Menschen verbinden mit Gemeingütern (englisch: commons) ­Ressourcen, die wir gemeinsam nutzen: Bewässerungssysteme, Fischbestände, Weideflächen oder Wälder. Fehlen klare Vereinbarungen für den Umgang mit solchen Ressourcen, so laufen sie Gefahr,

Ausgabe #10
Gut bürgerlich

Cover OYA-Ausgabe 10Neuigkeiten aus der Redaktion