Gemeinschaft

Kunst in Tamera

Erfahrungen einer Nicht-Könnerin.von Leila Dregger, erschienen in Ausgabe #9/2011

Das Friedensforschungszentrum Tamera wurde 1995 gegründet. Die Gemeinschaft im Süden Portugals möchte ein Zukunftsmodell für öko-soziale Nachhaltigkeit aufbauen und Wissen für eine Friedenskultur zusammentragen, erproben und weitergeben. Inzwischen leben, studieren und arbeiten hier 160 Menschen aus vielen Ländern, jedes Jahr kommen Friedensarbeiter aus Krisengebieten an den Ort, um sich auszubilden und auszutauschen. Von Anfang an waren die Kunst, besonders die Malerei, aber auch Musik und Theater, zentrale Elemente der Gemeinschaftsbildung.

Stellen wir uns ein Reich vor, dessen Untertanen unter einer dauerhaften Massenhypnose stehen: Vor langer Zeit wurden sie zum Blick auf den eigenen Bauchnabel gezwungen, nun kennen sie nichts anderes mehr. Statt ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und eine Welt aufzubauen, in der es sich frei leben lässt, schauen sie unablässig klagend und bedauernd auf sich selbst. Ein Despot hat es leicht, sein Regime über ein solches Volk aufrechtzuerhalten. Er muss seine Untertanen nur von drei Dingen abhalten: vom Denken, von der Anteilnahme aneinander und – von der Kunst.
Kunst ist ein Weg, frei zu werden von der Hypnose, Opfer des eigenen Lebens zu sein. Kunst erlaubt uns, aus gewohnten Bahnen und Reaktionsmustern auszutreten und Schöpfer des eigenen Schicksals zu werden. Kunst schafft Risse im Alltag, durch die das Licht einer anderen Welt hereinleuchtet. Das Licht des Heiligen, der Erkenntnis oder des Humors.

Entfixiere dich!
Auch für Nicht-Könner wie mich – also für Menschen, die nur sehr selten und laienhaft den Pinsel schwingen – spielt die Kunst eine große Rolle im Leben von Tamera. Das beginnt schon beim Besuch der Komposttoilette: An ihrer Wand ist eine Kunsttafel angebracht. Auf ihr blickt ein winziges Mädchen zu seinem gigantischen und streng dreinblickenden Angebeteten auf und hält ihm tapfer ein Blume hin. Dieser entgegnet mit der wenig aussichtsreichen Forderung: »Entfixiere dich!« Immer wenn ich aufs Klo gehe, erinnere ich mich an alle erlebten Missgeschicke in der Liebe – und muss lachen. Solche Hingucker, Kraftorte und Ikonen einer neuen Zeit zu schaffen, ist eine der Aufgaben der Kunst in unserer Zukunftsgemeinschaft.
Eine andere ist die künstlerische Gestaltung des Alltags. Ich kann nur allen Gemeinschaftswilligen raten: Springt raus aus dem Korsett eurer Gewohnheiten, mindestens dreimal täglich! Verbindet die Suche nach Spülhelfern mit einer wortgewaltigen Essens-Preisung! Müsst ihr Kritik äußern, dann gebt euch die Rolle eines Affen oder eines Betrunkenen. Verehrt ihr heimlich eine Frau oder einen Mann, dann überspielt nicht eure Schüchternheit, sondern findet eine Gestaltung, zu zeigen, was euch so zum Beben bringt. Schüchternheit ist das Zeichen einer großen kommenden Wollust! Dann bekommt das ach so wichtige Selbstbild wohltuende Risse, aus der Mitteilung wird eine Performance, aus dem Vorwurf ein Theaterstück, aus der Liebe ein Fest.
Die Aufgabe der Kunst reicht aber noch tiefer. Sie beginnt, wenn sie jenseits aller Aufgaben stehen darf, wenn sie sich nicht direkt in die Pflicht nehmen lässt. Ich liebe beim Malen vor allem die Konzentration, immer genauer hinzuschauen: Ist es nicht erstaunlich, welche Farbe der Morgenhimmel hat? Woraus besteht Haut, und was, um Himmels Willen, sind diese unheimlichen Gebilde, die Menschen an beiden Seiten des Kopfes tragen? Wer seine Aufmerksamkeit lang genug fokussiert, macht irgendwann eine Entdeckung: Nicht mehr (nur) sein Eigenwille und sein Können sind es, die Werke schaffen. Sondern ein anderes Prinzip führt ihm die Hand. »Es« malt. Kooperation mit der Schöpfung. Van Gogh, Cézanne, Gauguin, Paula Modersohn-Becker, Kandinsky, Marc – sie alle kannten diesen verzückten Zustand. »Schöpfung, das ist die eigentliche Aufgabe der Kunst«, sagte Henri Matisse. Nicht wenige große Malerinnen und Maler gingen zeitlebens mit mehr als nur einem Bein auf der anderen Seite der Wirklichkeit. Viele von ihnen wurden durch dieses Ungleichgewicht einsam, manche sogar wahnsinnig.

Kunst als Gemeinschaftsunternehmen
»Es scheint mir immer mehr, dass die Bilder, welche geschaffen werden müssten, die Bilder, die notwendig, unumgänglich sind, die Kraft eines einzelnen Individuums übersteigen. Sie werden also wahrscheinlich durch Gruppen von Menschen geschaffen werden, die sich zusammentun, um eine gemeinsame Tat auszuführen«, vermutete Vincent van Gogh. Können wir Kunst zu einem Gemeinschaftsunternehmen machen? Der Tamera-Mitbegründer Dieter Duhm nutzte seine Liebe zur Malerei für alle Phasen des Gemeinschaftsaufbaus. In den Kunstkursen, die er seit langem mit Tameranern durchführt, gibt es nur eine Anweisung: Beschäftigt euch mit der Welt und nicht mit euren persönlichen Problemen. Die Teilnehmer befolgen dies gern und mit deutlicher Erleichterung. Zehn Tage in der Welt zu sein ohne Nabelschau! Tage ohne Reaktionen von Angst oder Vergleich. Zehn Tage etwas tun, das keinen Zwecken und Pflichten untergeordnet ist, und dabei die Begeisterung finden am »sinnlosen« Schaffen. Denn so schafft die Schöpfung. Was geschieht, wenn Menschen stundenlang in großer Hitze zusammensitzen und sich auf das Licht auf einem Baum konzentrieren: Ist der Schatten blau oder rosa? Wenn sie mit ihren Zeichenblöcken um einen nackten Mann sitzen und seine Kurven und Rundungen mit dem Blick des Künstlers erkunden?

»Malen ist Lieben« (Henry Miller)
Einen kleinen Einblick in die Praxis dieser Kurse geben Tagebuchberichte von Teilnehmerinnen und Teilnehmern: »Wir fahren an einen Platz am Santa-Clara-Stausee. Da gibt es eine alte Bauernhofruine, in der die Störche leben. Ich gehe in das Reich der Störche, um mich mit diesen wunderschönen Tieren zu verbinden. Geschmückt mit Federn, stelle ich mich auf eine Mauer, schließe die Augen und genieße es, mich vom Wind treiben zu lassen. Mit dieser fliegend leichten Energie gehe ich zum Platz und male diesen ständig sich bewegenden Baum. Wenn ich mein Bild jetzt anschaue, sehe ich die flatternde Energie der Störche. Da jedes Teil, jedes Wesen reines Leben ist, das sich aus vielen kleinen Teilchen zusammensetzt, ist es für mich klar, dass ein Baum nicht nur grün ist und der Himmel nicht nur blau. Warum sollten denn die ganzen kleinen Teilchen nur eine Farbe ergeben?«
»Wir haben dauernd gemalt, acht bis zehn Stunden am Tag. Am Mittwoch fahren wir für drei Tage zu einem Schrottplatz. Es beginnt eine stille Dauerorgie. Wir sind im All. Hier gibt es nichts Vernünftiges mehr zu tun. Wir erleben eine große Seligkeit. Mitten auf dem Schrottplatz kommt die Begeisterung. Was wir hier träumen, das kommt ins Leben. Wir holen unsere frühen Erinnerungen aus dem Nebel. Wir sind ja so lange sprachlos gewesen. Wir sprechen auch jetzt fast nichts. Aber es geht um Sinn und Ziel unseres Daseins. Weil wir den Schrott um uns haben, ist nichts mehr definiert und vorherbestimmt. Gelegenheit für neue Anfänge, nicht nur in der Kunst. Aber wir haben uns vorgenommen, nur in Ausnahmefällen über tiefere Empfindungen zu sprechen. Es ist immer wieder richtige Arbeit, und keiner weiß genau, warum und wofür. Manchmal hat man Angst, sein Bild weiterzumalen.«
In einem gemeinschaftlichen Feld organisieren sich die Dinge im besten Fall von selbst. Einige machen Kaffee, einige spülen, einige gehen zur Quelle und holen Wasser. Dies alles auf sehr hoher, bewusster und reflektierter Ebene. Wir sind beides gleichzeitig: Südsee-Insulaner und Hightech-Menschen.

Eine andere Welt entsteht durch Kunst
Seit Jahren sagen Globalisierungsgegner: Eine andere Welt ist möglich. Aber wo ist sie denn? Ich habe das Gefühl, sie schläft noch. Kunst kann helfen, sie zu wecken. Eine andere Welt entsteht nicht aus dem, was wir schon kennen. Sie entsteht aus der Öffnung zum Unbekannten, zur latenten Macht.
Sabine Lichtenfels, ebenfalls Mitgründerin von Tamera, schuf gemeinsam mit dem Geomanten Marko Pogačnik und anderen einen modernen Steinkreis im Herzen von Tamera, dessen 96 Steine die Archetypen einer Friedensgemeinschaft repräsentieren. Die Kosmogramme, die den Steinen eingemeißelt wurden, entstanden durch Träume, Intuition, intimste Verbindung mit dem Inhalt und Sinn für Schönheit. Heute ist der Kreis ein Platz für Meditation und Gebet. Sabine glaubt fest daran: »In der Kunst werden neue Ikonen geboren, eine neue Seh- und Gestaltungskraft, die dem Zeitgeist eine neue Richtung gibt, und eine neue Vorstellungskraft.«  
 

Leila Dregger (51) ist Journalistin, lebt in Tamera und hat den Traum, ein Haus für »Writers for Peace« aufzubauen. Kunst und Kreativität, das bedeutet für sie vor allem der Umgang mit Sprache. Die größte Freude ­bereitet ihr das Verfassen von Theaterstücken. www.tamera.org

Lesestoff zu Tamera
• Leila Dregger: Tamera. Ein Modell für die Zukunft. Verlag Meiga, 2010 

• Leila Dregger: Ich bin noch nicht in Frieden. Auf den Spuren einer neuen Frauenkraft.Verlag Meiga, 2005

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