Titelthema

Musik sehen, Bilder hören

Ein Portrait der Mitbegründerin der Fluxus-Kunstbewegung, Mary Bauermeister.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #9/2011

Mary Bauermeister ist eine Pionierin der Fluxus-Bewegung, eine der (r)evolutionären künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. »­Fluere« heißt »fließen«, und um den freien Fluss der Inspiration, der schöpferischen Handlung, der Lebensenergie zwischen den Menschen ging es dem Fluxus, was nicht nur in Musik, Bewegung, Sprache, darstellendem und bildnerischem Schaffen Ausdruck fand. Auch freie neue, gemeinschaftliche ­Lebensformen konnten als Fluxus-Prozesse, gewissermaßen als letztendliche, ununterbrochene Performance begriffen werden. Nach einer zehnjährigen Schaffensphase in den USA lebt Mary Bauermeister seit Anfang der 70er Jahre in ­Forsbach bei Köln. Ihr Haus mit dem verzauberten Garten ist – wie alle Wirkstätten ihres Lebens – ein Ort, der unzählige Menschen inspiriert.


»Toll, dass ihr da seid!« strahlt Mary Bauermeister Johannes Heimrath und mich an, als wir ihren Garten am Rand des Dorfs Forsbach bei Köln betreten. Seit Ewigkeiten haben wir uns nicht gesehen. Johannes und Mary waren sich bei dem denkwürdigen Symposium »Kunst und die unsichtbare Wirklichkeit« im Jahr 1988 erstmals begegnet, und zuletzt haben wir vor zehn Jahren im Odenwald zusammen geforscht. Aber wir führen gemeinsam ein fortdauerndes unhörbares Gespräch.

Ihr labyrinthisches Haus aus den 70er Jahren, dem Bauhaus verpflichtet, mit Wasserterrassen und Dachgarten, ist von der ruhigen Sackstraße hinter den hohen Bäumen kaum auszumachen. Hinten im Garten scheinen die Bäume noch größer zu werden, denn unter ihnen ducken sich weitaus kleinere Behausungen: Pavillons, Lauben, Bauwägen, Ställchen, ein Turm, der nur eine zweigeschoßige Treppe enthält. In den Zweigen hängen nestartige Gebilde, als wohnten hier große Tropenvögel. Den Feuerplatz hütet ein chinesischer Gong. Die Königin des Gartens ist die alte Birke. Sie wächst nicht in die Höhe, sondern reckt ihr in Erde gepacktes Wurzelwerk in die Luft. Der Stamm führt am Boden entlang, bildet in der Mitte erneut Wurzeln aus und gabelt sich zu einem grünen Tor, hinter dem ein meterhoher Kristall in der Mitte einer kleinen Lichtung funkelt. An den Ästen baumeln in Klarsichtfolien Fotos von bemerkenswerten Bäumen aus den verschiedensten Ländern der Welt.
»Die Birke ist dem Sturm im Frühjahr 2007 zum Opfer gefallen«, erzählt Mary. »Erst dachten wir, sie sei verloren. Aber ein Baum-Experte riet, ihre Wurzeln in Lehm zu packen. Wir haben sie Tag und Nacht gewässert, ihr Geschichten erzählt und ihr vorgesungen. Es war ein Fest, als sie im Frühling schließlich austrieb. Nach einem Jahr stand sie wieder voll im Saft. Kürzlich haben Studenten Bilder von ihren Baumfreunden aus aller Welt in die Zweige gehängt.«
Studentinnen und Studenten bevölkern des öfteren Marys Garten, sie übernachten in den Bauwägen und Holzhäuschen. Aber es gibt kein festes Programm, keine Flyer, keine Internetseite. Die Kurse ergeben sich. Mal entsteht ein Projekt mit Studenten der Alanus-Hochschule, mal mit dem Gymnasium von nebenan. Jeden ersten Sonntag im Monat ist der Garten offen, und alle sind eingeladen, ihre Musik, Theaterstücke oder Kunstwerke mitzubringen. »Es gibt ein großes Buffet, alles ist frei, und niemand bekommt ein Honorar«, erzählt Mary stolz. »Immer wieder erlebe ich: Es geht dar­um, bedingungslos zu geben. Du bekommst auch etwas zurück, nur nicht von dort, woher du es erwartest.«

Aufbruchszeit
Mary Bauermeister ist heute 76 Jahre alt. Ihr Lebensweg hätte sie auch in die Upperclass der Kunst-Szene von New York führen können. Stattdessen lebt sie an einem stillen Ort. Doch es ist ein Ort, der Jahr für Jahr viele Menschen inspiriert. Diese Fähigkeit zur Inspiration ist vielleicht ihre größte Kunst.
Sie wuchs mit fünf Geschwistern in der Nähe von Köln auf. Dort war ihr Vater als Professor für Anthropologie an der Universität tätig. Ihre Mutter, eine Österreicherin, war Sängerin. »Wir sind mit Schumann-Liedern am Klavier großgeworden«, erinnert sich Mary. »Meine Mutter war eine unglaubliche Frohnatur, und mein Vater hatte Bücher von Ringelnatz und anderen Dada-Künstlern. Ein sehr weltoffener Mensch. Die Nazi-Ideologie war ihm zutiefst zuwider. Im Krieg musste er Rassegutachten erstellen und schob die Akten von Juden immer wieder nach unten oder ließ sie verschwinden.« Die kleine Mary wurde im Rahmen der Erweiterten Kinderlandverschickung zum Schutz vor Bombardierung aufs Land gebracht, für sie eine traumatische Trennung von ihren Eltern. »Glaub keinem Erwachsenen!« wird ihr Grundsatz, als der »Feind« nach dem Krieg Bonbons regnen lässt. In Köln war die Familie schließlich wieder vereint. Doch das Nachkriegsglück währte nicht lange, die Eltern ließen sich scheiden, die Geschwister wurden auseinandergerissen. Marys Empörung war groß. »Damals habe ich mir geschworen, mich nie in einen verheirateten Mann zu verlieben.«
Als ihr Vater wollte, dass sie Mathematik studiert, flüchtete sie kurz vor dem Abitur von Schule und Zuhause und bewarb sich an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die in der Tradition des Bauhauses steht. Wegen des fehlenden Schulabschlusses wollte man sie zunächst abweisen, doch sie blieb im Zimmer des Rektors sitzen, bis er schließlich einen Blick in ihre Bewerbungsmappe warf. Danach war sie aufgenommen. »Ich hatte großartige Lehrer wie Max Bill, den Philosophen Max Bense oder den Mathematiker Herman von Baravalle«, schwärmt Mary. »Aber das Arbeiten nach den Maximen des Bauhauses in rein geometrischen Formen wurde mir bald zu eng, und ich ging an die Kunsthochschule nach Saarbrücken.«
Im Studium lernte sie ihren ersten Lebensgefährten kennen, Haro Lauhus. Sieben Jahre sollte die komplizierte Beziehung währen. Dann, im Jahr 1960 – seit drei Jahren betreibt sie in Köln ihr eigenes, legendäres Atelier –, trifft ihr Blick auf der Straße die Augen eines unbekannten Mannes, und dieser Blick lässt ihr Herz stillstehen. Der Mann bemerkt es offenbar, denn er dreht sich nochmal um, aber beide gehen weiter. Kurz darauf besucht sie ein Konzert mit moderner Musik – und sieht den Mann wieder: Als Komponist Karlheinz Stockhausen betritt er die Bühne – und sie hat sich in einen verheirateten Mann verliebt …
Zunächst gelingt es ihr, ihrem Grundsatz treu zu bleiben und die Beziehung im Platonischen zu halten, aber irgendwann geht es nicht mehr. »Ich habe verstanden, dass man eine Liebe nicht verhindern kann,« sagt Mary eindringlich. »Liebe ist Wiedererkennen. Jeder muss leben, was richtig ist. Es gibt nur ein Prinzip: Nicht lügen. Ich wollte seine Frau Doris nicht betrügen, und so bildeten wir zunächst eine Art Ehe zu dritt. Ich hütete Doris’ Kinder, damit sie Zeit mit ihrem Mann verbringen konnte. Dann wiederum fuhren Karlheinz und ich nach Amsterdam, wo ich 1962 meine erste Einzelausstellung hatte. Er gab dazu ein ganztägiges Konzert. Künstlerisch haben wir uns sehr inspiriert.«
Dabei waren sie Gegensätze wie Tag und Nacht. Sie, die anarchische, spontane, improvisierende Malerin, und er mit seiner seriellen Kompositionsmethode, deren Strenge Mary schließlich aufweichen kann: »Ich bewegte ihn allmählich dazu, niederzuschreiben, was er innerlich hörte, und mit dem Dogma zu brechen, dass neue Musik nicht emotional sein dürfe.«

Fluxus wird geboren
Stockhausen war bei weitem nicht der einzige, den Mary auf neue Wege brachte. »Mein Atelier war der Schmelztopf der Avantgarde«, erzählt sie, und streckt sich. »Alles, was Rang und Namen hat, schlief auf meinen Matratzen: John Cage, Christo, der Schrifsteller Hans G. Helms, der Pianist David Tudor, der koreanische Komponist Nam June Paik, der als Erfinder der Videokunst gilt. Dazu haben ihn meine Experimente mit Phosphorfarben inspiriert. Damals hatten wir alle kein Geld, wir waren froh, wenn es Kartoffeln mit selbstgemachter Mayonnaise gab. Unsere bewusstseinserweitertende Droge war der Hunger.«
In Marys Atelier begannen die Kunstformen ineinanderzufließen: Lyrik, ­Musik, Tanz, Theater, bildende Kunst – bei ihr waren die Künstlerinnen und Künstler eingeladen, frei zu improvisieren. Und Improvisation war der Kern des Neuen: Es ging nicht mehr um herkömmliche Kunstwerke, sondern um Prozesse, um die Intensität des Augenblicks. Es sollte ein für allemal vorbei sein mit der Trennung: hier die elitäre Kunst – dort das normale Leben. Das Schöpferische ist doch der Kern des Lebens selbst, und wer das mit Haut und Haaren begreift, hat die Kraft, die von bürgerlichen Zwängen und Kommerz geprägte Gesellschaft aus ihren Angeln zu heben. 1962 betitelte der litaui­sche Künstler George Maciunas sein neues Magazin »Fluxus« – er dachte dabei allerdings in Anlehnung an den Dadaisten Hans Arp an den medizinischen Begriff für Durchfall – und gab damit der Bewegung, die in Brutstätten wie Marys Atelier ihren Anfang nahm, eine Identität.
Fluxus blühte in New York. Dort wurden die Experimente von John Cage aufgeführt, dort war Niki de Saint Phalle als Aktionskünstlerin unterwegs, und dorthin zog es im Oktober 1962 auch Mary Bauermeister und Karlheinz Stockhausen. Sie blieben zehn Jahre. Mary fasste in den USA mühelos Fuß, stellte regelmäßig in der ­Galeria Bonino in der 57. Straße aus, verkaufte ihre Arbeiten an Sammler und die wichtigsten Museen. Vor allem ihre »Linsenkästen« ­kamen an. Diese »Welten in der Schachtel« besiedeln heute noch jeden Raum in ihrem Haus: Durch eine Glasscheibe fällt der Blick auf einen Mikrokosmos aus Formen, Farben, Schrift und Miniaturgegenständen. Linsen auf der Glasoberfläche erlauben es, ständig die Perspektive zu wechseln.
In den Jahren 1966 und 1967 kamen ihre beiden Kinder mit Karlheinz Stockhausen, Julika und Simon, zur Welt. Schließlich heiratete das Künstlerpaar 1967.

Kunst mit der Natur
Immer wieder wuchs Mary das staubige New York über den Kopf. Dann holte sie sich Erde, Sand und Baumstämme ins Atelier. So fanden Naturmaterialien Eingang in ihre Arbeit. Legendär sind ihre Steinmosa­i­ken: An unzähligen Stränden in aller Welt sammelte sie über die Jahre hinweg glatte, flache Kiesel, inzwischen müssen es Millionen sein, und sortierte sie nach Größe, Farbe und Form. Daraus entstanden Steinspiralen oder großflächige Kaskaden verschieden großer Steinpyramiden, bei denen der winzigste Stein nicht größer ist als ein Stecknadelkopf. Man muss in Trance verfallen, um so eine Arbeit durchzuhalten. »Monate war ich in ein solches Bild vertieft«, erzählt Mary. »Um mich herum existierte nichts außer dem Rhythmus dieser Steine.«
Viele Steinbilder entstanden in ihrem neuen Haus in Köln. Denn 1972 geht sie zurück nach Deutschland und trennt sich von Karlheinz Stockhausen: »Kunst, Mann und Kinder, alles gleichzeitig ging nicht. Ich wollte auch Zeit für mich allein.« Sie blieb ihm intensiv verbunden wie auch später den Vätern ihrer beiden jüngeren Töchter. Die Rolle der Ehefrau nahm sie nie mehr an.
In Köln war die aus den USA zurückgekommene Künstlerin der Nachbarschaft lange Zeit suspekt. »Erst war ich die Hexe, die vier Kinder von drei Vätern hat«, erinnert sich Mary. »Dann habe ich in der Schule einen Spielplatz gebaut und war die Heilige.« Sie findet zwar zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit einer Kölner Galerie, aber in Deutschland gehört sie nicht zu den Stars der Kunstbetriebs. Und das ist ihr auch nicht wichtig. Sie will ihren Weg gehen, und der führt sie immer mehr in die Kommunikation mit der Natur. Viele Jahre gestaltet und pflegt sie Gärten, macht Kunst in und mit der Natur. Ihr eigener Garten wird zu einer lebendigen Skulptur.
In der Mitte des Gartens steht der Treppenturm. Sie hatte eine Wendeltreppe geschenkt bekommen und die offenen Seiten mit Holz und Glas verkleidet. Von unten bis oben hängen Kunstwerke aus Kleidungsstücken darin. Oben im Dachstuhl schwebt eine Hängematte. Bestimmt lässt sich hier wunderbar träumen. Etwa auch von der Zukunft? »Wissen kommt aus der Zukunft, aus einem kollektiven Feld«, hat Mary uns gleich zu Anfang unseres Gesprächs erklärt. »Der Zeitgeist wird aus der Zukunft impulsiert. Ich spüre ihn – manchmal bin ich völlig aufgeregt und frage mich: Was passiert jetzt, was passiert denn jetzt? Vielleicht gar nichts, aber ich bin berührt worden. Das bringt mich ins Handeln.«
Mary Bauermeisters wache Augen scheinen den Zeitgeist der Zukunft noch so deutlich wahrzunehmen wie in den 60er-Jahren. Doch was wird ihr selbst die nahe Zukunft bringen? Sie möchte ihren Ort in gute Hände übergeben. »Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Mein Bankberater sagt, ich solle mein Anwesen kapitalisieren. Aber wenn ich das schon höre – kapitalisieren! Nein, da wird sich etwas anderes finden.«
Ihr Ort müsste eine Allmende werden: Ein offener und zugleich ein geschützter Raum für alle. Auch über ihr Leben hinaus sollte hier die Freiheit des Geistes gepflegt und die Liebe zur Welt gefeiert werden. Der Begriff »Allmende« wird unser Mitbringsel für Mary Bauermeister. Sie versteht sofort, dass darin Zukunft schwingt. Und sie ist zuversichtlich: In diese Richtung wird sich ein neuer Weg ergeben. 


Lust, ein erstaunliches Leben zu begleiten? 
Im September 2011 wird Mary Bauermeisters Buch »Ich hänge im Triolengitter: Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen« in der Edition Elke Heidenreich im Bertelsmann-Verlag erscheinen.

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