Titelthema

Blütentraum in Havelland

von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #8/2011
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Uwe Kellermann braucht die Kunden in seinem Laden für regio­nale Produkte in Potsam Babelsberg nicht zu fragen, ­woher sie kommen. Er sieht es oft schon an ihren Tragetaschen. Hat jemand einen Korb dabei, kommt er meist nicht aus der Gegend. Ein eindeutig einheimisches Identifikationsmerkmal ist der Dederon-Beutel – Polyamidfaserware aus DDR-Zeiten. Wenn jemand sagt, »Ich krieg das Stück Käse«, kommt er aus einer südlichen Gegend, Ulm wahrscheinlich, denn in Brandenburger Ohren klingt das unhöflich. Da fragt man freundlich, ob man vielleicht den Käse bekommen könnte.

Es hat eine Weile gedauert, bis Uwe Kellermann ein guter Ladner geworden ist. Von Beruf ist er Ingenieur. »Ingenieure können ja eigentlich keine vollständigen Sätze bilden, sondern nur Diagramme malen«, meint er selbstironisch. »Aber so ein bisschen Prosa gehört zu einem Laden dazu: Schönen guten Tag Frau Müller, wie geht’s Ihrem Mann? Sowas ist gewöhnungsbedürftig für einen Ingenieur. Aber inzwischen klappt es recht gut. Der Kontakt mit den vielen Menschen hat mich auch persönlich weitergebracht.«
Als wir in den Laden kommen, ist dort eine ruhige, gemütliche Stimmung. Uwe macht hinter seiner Theke einen souveränen und vergnügten Eindruck. Der Raum ist klein und randvoll mit Köstlichkeiten und schönen Dingen: Honig aus der Gegend, Töpferware, Schafsmilchseife, alle denkbaren Arten von Käse, frisches Gemüse, frisches Brot, aber neben der Kasse steht auch Fair-Trade-Schokolade von Gepa. Das Regionale ist hier kein Dogma. Die Besonderheit an diesem Laden: Man kann mit »Havelblüten« bezahlen. So heißt die Regiowährung für den Raum Potsdam, die Uwe initiiert hat.
Als kleiner Junge träumte er davon, Erfinder zu werden – vielleicht mal ein Flugzeug erfinden oder einen neuartigen Zug. Fast wäre das auch in Erfüllung gegangen. Nach der 10. Klasse machte Uwe Kellermann in Potsdam eine Lehre als Schienenfahrzeugschlosser. Zumindest in der DDR hätte dieser Beruf so geheißen, neuerdings schreibt sich das »Industrie-Mechaniker«. Zur Wende war Uwe 16 Jahre alt. Er erlebte bewusst mit, wie besonders seine Mutter darunter litt, dass ihre politischen Ideale zerplatzten, wie sich die Eltern neu orientierten und dann doch beide arbeitslos wurden. Parallel zur Lehre ging er ins Abendgymnasium, um dann Maschinenbau an der Fachhochschule Brandenburg zu studieren. Prompt fand er im Anschluss daran auch einen guten Job bei dem international agierenden Konzern Bombardier, der Flugzeuge und Züge produziert. War er damit nicht schon am Ziel seiner Träume? Er konnte seine junge Familie ernähren und tatsächlich Züge entwickeln – zumindest Teile davon. An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein, aber Uwe Kellermann fühlte sich keineswegs wie auf der Zielgeraden, sondern völlig fehl am Platz. Warum?
»Ich habe mich eingeengt gefühlt, hatte nicht sonderlich viel zu tun, wurde königlich bezahlt, weil ich mal was studiert hatte – aber ich konnte gar keinen richtigen Beitrag leisten.« Nur allmählich verstand er, wie die ungeschriebenen Spielregeln in dem Unternehmen lauteten. »Man schickt mitten in der Nacht eine schrecklich wichtige E-Mail an einen Kollegen und setzt den Chef in die Kopie-Zeile, auch wenn es gar nichts Wichtiges zu sagen gibt, aber man ›arbeitet‹ bis spät. So kommt man weiter. Dieses Gerangel um die besten Plätze war überhaupt nicht meine Art. Mir schien, es ging hier weniger darum, einen guten Zug zu bauen und gemeinsam etwas zu erreichen, sondern letztlich um das Sichern der eigenen Position.« So war Uwe Kellermann sogar erleichtert, als ihm in einer Auftragsflaute bei Bombardier im Jahr 2005 gekündigt wurde. Mehr und mehr wurde das Gefühl dringlich, dass mit der konventionellen Art des Arbeitens und Wirtschaftens etwas überhaupt nicht stimme. Die Zeit als Arbeitsloser wirkte da noch verstärkend, die Quälerei mit Formularen und Arbeitsamts-Terminen. »Früher, während des Studiums, war ich völlig unpolitisch«, erinnert er sich. »Aber durch all diese Erfahrungen und vor allem dadurch, dass meine älteste Tochter auf die Welt kam, wurde das anders.«

Erfindergeist wird Unternehmergeist
In seinen Leerlaufzeiten bei Bombardier hatte er bereits begonnen, sich im Internet in gesellschaftspolitischen Foren umzutun und entsprechende Texte zu verschiedensten Ansichten zu studieren. Irgendwann stieß er auf die Internetseite der »Initia­tive für Natürliche Wirtschaftsordnung«, kurz INWO, ein Verein, der sich für ein stabiles Geldsystem engagiert. Er begann, sich einzumischen, Veranstaltungen zu besuchen, und bildete eine Regionalgruppe für Potsdam, die einige Monate später das Konzept der »Havelblüte« entwarf. Und plötzlich erschien ihm sein nächster beruflicher Schritt völlig logisch: einen Laden für regionale ökologische Produkte mitten in Potsdam zu gründen, der gleichzeitig die Havelblüten-Währung in Schwung bringt.
»Vielleicht habe ich meinen Erfindergeist in eine Art Unternehmergeist umgelenkt«, meint Uwe nachdenklich. »Es ging zwar nicht mehr um die kreativste technische Lösung, aber immer noch ­darum, etwas zu gestalten, gerne auch gemeinsam mit anderen.«
Er hatte keine Angst vor der Selbständigkeit: »Was kann schon passieren? Ich werde in diesem Land nicht verhungern. Eigentlich habe ich hervorragende Voraussetzungen, und so empfand ich es mir gegenüber als eine Pflicht, ich hatte keine Ausrede mehr.«
Anders als bei Bombardier liegt kein gutes Nettogehalt am Monatsende auf dem Tisch, sein Stundenlohn, den er sich selbst auszahlen kann, liegt bei 3,50 Euro. Die Mitarbeiter aus seinem »Team« oder »Kollektiv«, wie es auf der Internetseite heißt, bekommen doppelt so viel. Aber jetzt ist er sein eigener Herr, das wiegt alle Schwierigkeiten auf. »Aus rein kaufmännischer Perspektive ist ein Regioladen irrsinnig und unvernünftig. Das ist so, als ob man sich vor einem Wettlauf absichtlich den linken Fuß absägt: Du hast nur eine sehr begrenzte Anzahl Lieferanten, du willst sie angemessen bezahlen, du willst deinen Kunden im Laden gute Preise machen. Das geht eigentlich nicht, vor allem in einer einkommensschwachen Region.« Aber mit der nötigen Leidenschaft geht es doch.
Uwe Kellemann genießt den Kontakt zu seinen Lieferanten und erzählt begeistert von Christian Hoffmann, Biobauer aus Belzig. »Von der Rübe bis zum Apfel hat er alles, was an Gemüse aus der Region kommt, und er liefert es selbst an einige Bioläden aus. So eine breite Palette ist schön, aber eigentlich unwirtschaftlich, deshalb braucht er entsprechende Preise. Bei solchen Partnern schaue ich aber nicht auf den Preis, und ich kann den Kunden auch vermitteln, warum dieses Gemüse eben etwas mehr kostet, denn ich kann Geschichten darüber erzählen, wie die Ernte war oder was für Käfer diesmal Schwierigkeiten gemacht haben. Dann merken die Leute: Da ist Ehrlichkeit und wirklich der Bezug zur Region.«
Wie schnell das Regionale an seine Grenzen stößt, erfährt Uwe Kellermann auch. Im Winter sind Bioprodukte aus der Region irgendwann ausverkauft. Auf Regio­geld-Treffen ist es oft seine Aufgabe, den Beteiligten die Illusion vom schnellen Weg in die wirtschaftlich autarke, florierende Region zu nehmen: »Selbst die Imkerin von nebenan benutzt Gläser mit Schraub­deckeln und Aufklebern, die niemand in ihrer Nähe herstellt, so dass sie dafür mit Euro bezahlen muss. Mit unseren Experimenten zu anderem Geld fangen wir ganz klein an.«

Experiment »Havelblüte«
Auch die Havelblüte ist ein eher kleines Phänomen, der zugehörige Verein hat gut 100 Mitglieder. »Die Gewerbetreibenden im Netzwerk sind meist Einzelkämpfer, kleine Selbständige, die etwas tun, womit sie sich selbst verwirklichen: Biolandwirte, Heilpraktikerinnen, Atemtherapeuten, Projektmanagerinnen, Designer, aber auch ein Spiele-Laden und ein Eine-Welt-Laden. Eine wichtige Basis der Havelblüte ist mein Laden. Da gibt es was zu essen, das ist solide, und es leuchtet ein, regionale Produkte mit Regiogeld zu bezahlen«, erklärt Uwe. Die Havelblüte lässt sich, anders als die bekannte Regiowährung »Chiemgauer«, nicht gegen Euros eintauschen. »Eine eurogedeckte Regiowährung ist das ›Wohlstands-Modell‹. Es funktioniert gut in Gegenden, die ohnehin prosperieren. Wir testen hier in der strukturschwächeren Region die andere Variante, die ›leistungsgedeckte‹ Regionalwährung nach dem Motto: Wir sind diejenigen, die Wirtschaft machen. Niemand kann uns zwingen, Euro zu verwenden, sondern wir geben uns gegenseitig Kredit. Jeder, der beim Verein mitmacht, bekommt ein Start-Kontingent Havelblüten als Scheine oder als Guthaben auf einem Konto.«
Das klingt zunächst so, als könnte man sich bei einer Bank gratis Geld holen, aber so funktioniert es genau nicht. Indem ich mich als Unternehmerin entscheide, Havelblüten anzunehmen, werde ich selbst meine eigene Bank. Ich gebe meine eigenen Havelblüten bei den anderen Akzeptanzpartnern aus und garantiere gleichzeitig, diese auch wieder als Zahlungsmittel zu akzeptieren. Genau wie ich können auch alle anderen gewerblichen Teilnehmer ihre eigenen Havelblüten schöpfen und sie in Umlauf bringen. Dabei bürgen sie mit einem Leistungsversprechen für ihre »Gutscheine« und garantieren damit deren Gültigkeit. Ich kann aber auch beim Bäcker etwas mit dem Schein, den der Gemüsehändler ausgegeben hat, einkaufen. So kommen immer mehr »Blüten« in Umlauf. Die Havelblüten-Scheine heißen Kartoffelblüte, Apfelblüte, Gurkenblüte, Spargelblüte und Kirschblüte. Wie bei vielen Regiogeldern üblich, verlieren sie mit der Zeit ihren Wert, hier 1,5 Prozent im Quartal. Das soll ein Ansporn sein, das Geld stetig in der Region zirkulieren zu lassen. Um ältere Havelblüten weiterhin im vollen Wert verwenden zu können, kauft man gegen Eurocent eine Marke und klebt sie auf den Schein. Die Verwaltung des Ganzen leistet der Verein. Ehrenamtliches Engagement hält derzeit das Projekt am Laufen.

Luxus Selbständigkeit
Dass das Projekt noch klein ist, kann Uwe Kellermann nicht entmutigen. Er hat einen langen Atem: »Ich möchte ein tragfähiges Netzwerk entwickeln, in dem viele Mitglieder einen großen Teil ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten über etwas anderes abwickeln als den Euro, damit wir uns unabhängiger machen. Ein bisschen ist die Situation der Komplementärwährungen so wie diejenige der regenerativen Energien in den 80er und 90er Jahren. Erst musste bewiesen werden, dass es funktioniert, dann trat das Phänomen aus seiner Nische. Umbrüche passieren, bei Licht betrachtet, nicht plötzlich, sondern bereiten sich lange vor.«
Uwe Kellermann ist sich sicher, dass auch kleine Schritte Wirkung zeigen. »Die Welt besteht ja aus Menschen, die einer bestimmten Überzeugung folgen, und möglicherweise ändert auch meine eigene Einstellung die Schwingung, die in der Luft liegt. Der Regioladen ist ein Ort, in dem man über all diese Dinge sprechen kann. Ich kann die Menschen informieren – wenn ich einen Flyer auf die Theke stelle, lesen ihn viele und sprechen über die Themen in ihrem Kiez. So eine Möglichkeit hätte ich früher als Angestellter in einem großen Konzern nie gehabt.«
Es ist eben doch ein unerhörter Luxus, in Potsdam Babelsberg einen Regioladen zu haben. Auch mit 3,50 Euro Stundenlohn und ein paar Havelblüten. Die Verbindungen und Gespräche der Menschen unterein­ander, die dieser Ort ermöglicht, sind mit Sicherheit so wertvoll, dass sie mit keinem Geld der Welt bezahlbar wären. 
 

Der einfache Weg zur Havelblüte und zum Regioladen
www.havelblueten.de
http://regioladen.net
 

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