Gemeinschaft

Wie ein Schmetterling

Schon bald soll in Süddeutschland eine ökologische, zum größten Teil sich selbst versorgende Siedlung für rund tausend Menschen entstehen. Noch mag man kaum glauben, dass dieses großdimensionierte Projekt Wirklichkeit ­werden könnte. Aber wer vermutet in einer verpuppten Raupe schon einen Schmetterling? Wolfram Nolte sprach mit Reinhold Groß über das geplante Pilotprojekt »Mehrgenerationensiedlung«.von Wolfram Nolte, Reinhold Groß, erschienen in Ausgabe #7/2011
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Herr Groß, Sie und Ihre Frau sind die Initiatoren des großen Vorhabens »Mehrgenera­tio­nensiedlung«. Was hat Sie dazu ermutigt?
Ich arbeite seit 30 Jahren in der ökologischen Branche und habe dadurch auch viele Lebensgemeinschaften kennengelernt. ­Gemeinsam mit meiner Frau Inge, die auch seit vielen Jahren in diesem Bereich tätig ist, waren wir auf der Suche nach einem auf allen Ebenen nachhaltigen Konzept. Da wir nichts Entsprechendes fanden, haben wir Ende 2005 einen Aufruf im Internet gestartet, um Mitstreiter zu gewinnen. Heute sind wir eine Gruppe von über 100 Personen, die ernsthaft die »Mehrgenerationensiedlung« umsetzen möchten. Unsere Vision und Motivation gründet sich in unserer Lebensüberzeugung: Wir wollen der Erde mehr geben, als wir nehmen.

Was umfasst der aktuelle Plan alles?
Die Siedlung soll einmal 200 Gärtnerhöfe, eine Landwirtschaft mit Direktvermarktung, ein Gewerbegebiet für nachhaltig arbeitende Firmen, ein Gesundheitszentrum, eine Schule, Forschung und Entwicklung, nachhaltigen Tourismus und Gebäude für die Administration umfassen. Der gesamte Flächenbedarf liegt bei rund 600 Hektar. Der »Schmetterlings-Plan« ist für ein in Deutschland real existierendes Gelände entstanden, allerdings steht uns dieses Gelände nicht mehr zur Verfügung.

Der Entwurf sieht zwar schön aus, wirkt aber auch ein wenig schematisch. Glauben Sie, dass er so ins Leben umzusetzen ist?
Die Pläne für die beiden nun zur Verfügung stehenden Gelände sehen selbstverständlich ganz anders aus, denn alles hängt ja von der Topografie vor Ort ab – wobei wir natürlich an der Grundkonzeption so weit wie möglich festhalten wollen.
Eine besondere Rolle übernehmen offenbar die geplanten Gärtnerhöfe.
Jeder Gärtnerhof umfasst einen Hektar Fläche und wird zu einem Drittel mit Wald bepflanzt, ein Drittel der Fläche ist für Landwirtschaft und das letzte Drittel für die Häuser, den Teich, die Pflanzenkläranlage und die Energie-Station. Überbaut werden dürfen rund 600 Quadratmeter. So können auch mehrere Generationen in einem großen oder mehreren kleinen Häusern gut zusammenleben. Mit der verfügbaren Gartenfläche kann jeder Hof autark existieren.

Sie plädieren für ein »lebendiges Siedlungszentrum«, wo auch die Fragen des harmonischen Miteinanders funktionell und unbürokratisch gelebt werden können. Was kann man sich darunter vorstellen?
Im Siedlungszentrum kommen die Bewohner z. B. am Backhaus zusammen, sie treffen sich zu kulturellen Veranstaltungen, verabreden sich zur Nachbarschaftshilfe etc.

Wie sollen die Besitzverhältnisse und Entscheidungsstrukturen aussehen? 
Grund und Boden sowie die öffentlichen ­Gebäude werden von einer Stiftung gehalten. Die Bewohner pachten die Grundstücke im Erbbaurecht und bauen ihr Haus selbst. Die alltäglichen Belange werden gemeinsam in der Genossenschaft entschieden, wo jeder gleichberechtigt ist.

Wieviel Geld muss man einbringen, um in der Siedlung leben zu können? Wie werden die Menschen ihr Geld verdienen? 
Zunächst ist jeder für sich selbst verantwortlich. In der Siedlung werden sicherlich nach und nach Arbeitsplätze entstehen. Geld ist nötig für die Pacht des Grundstücks und den Kauf der Genossenschaftsanteile, ebenso für den Bau des eigenen Hauses. Die Siedler im ersten Bauabschnitt werden eine finanzielle Belastung haben in der Größenordnung, wie sie heute für eine 4-Zimmer-Wohnung üblich ist.

Wie ist der Stand der Projekt-Realisierung? 
Die Projektplanung ist abgeschlossen, der rechtliche Rahmen definiert. Wir sind mit zwei Kommunen in Gesprächen, die sich die Siedlung in ihrer Gemeinde vorstellen können. Wir haben auf Länderebene politische Lobbyarbeit gemacht. Im Augenblick sprechen wir mit verschiedenen Investoren. Da wir auf einem Acker beginnen, benötigen wir eine Grundfinanzierung für die Erstellung der Infrastruktur. Eine andere Hürde sind die notwendigen Genehmigungen. Es sprechen etwa 50 Behörden mit.
Zur Gesamtrealisierung benötigen wir zwischen 300 und 400 Millionen Euro. Die bisher geführten Gespräche haben gezeigt, dass diese Größenordnung durchaus darstellbar ist. Die Investoren können Know-How-Transfer erwarten, als Ganzes oder in Modulen. Sie können damit werben, ein zukunftsweisendes, nachhaltiges Projekt unterstützt zu haben.

Wie stark sind denn die Projektmitglieder an Planung und Suche beteiligt? Wie bereiten sie sich auf das gemeinsame Leben vor?
Entscheidungen werden immer gemeinsam auf Arbeitstreffen getroffen. Hier werden auch alle künftigen Entscheidungen aufgebaut. Außerdem treffen wir uns einmal im Sommer und über Silvester, um zu feiern und uns kennenzulernen.

Gibt es ein Szenario für die Besiedlung? 
Bisher haben sich rund 110 Menschen bereit erklärt, im ersten Bauabschnitt zu beginnen. Die Pioniere werden bereits in der Phase zwischen Kauf und Genehmigung durch die Behörden in die Region ziehen und dort arbeiten.

Wie werden Sie mit den Bewohnern in ­Ihrer Umgebung kooperieren? 
Die Menschen in der Umgebung finden unter Umständen in der Siedlung Arbeit, sie können ihre Kinder in unsere Schule schicken, sie können die Angebote der Siedlung wie das Gesundheitszentrum, die Nahversorgung etc. in Anspruch nehmen.

Verstehen Sie diese Siedlung als ein Modell? 
Die Siedlung hat sicherlich Modellcharak­ter. Teile davon können übernommen werden und in anderen Regionen die Strukturen im ländlichen Raum stärken. Mit unserem Pilotprojekt wollen wir einen Weg weisen, wie Menschen in ihrer Heimat bleiben können, z. B. auch in Entwicklungsländern, und dort mit allem versorgt sind, was sie benötigen. Derartige Siedlungen können großen Städten vorgelagert werden. Die zu erwartenden 25 Prozent Überschuss an produzierten Nahrungsmitteln und Energie können die Städte mitversorgen. Daneben könnten die Siedlungen die Funktion eines Naherholungsgebiets übernehmen.

Brauchen Sie noch Unterstützung?
Ja, auf allen Ebenen: Wir suchen Pioniere, die ihre Talente und Fähigkeiten einbringen, Multiplikatoren, die uns in der Öffentlichkeitsarbeit helfen, sowie Investoren und Sponsoren, die uns finanziell unterstützen.

Danke Ihnen für dieses Gespräch!



Reinhold Groß (49) ist Unternehmensberater und seit 30 Jahren im ökologischen Bereich tätig. Er ist Vorsitzender des Projekt-Fördervereins.


Selber Pionier werden?
Förderverein zur Gründung der Mehrgenerationensiedlung, Reinhold Groß, Neudenauer Straße 18, 74842 Billigheim-Allfeld, Telefon (0 62 65) 92 94 70, ub.gross@t-online.de
www.mehrgenerationensiedlung.org

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