Titelthema

Das Innere im Äußeren erkennen

Auf den Spuren von Dichtern und Denker­innen erkundet Rüdiger Sünner Geschichten, die im Zusammenklang von Landschaft, Mensch und Mythos entstanden sind. ­Matthias Fersterer tauschte sich mit dem Filmemacher, ­Autor und Musiker über die Qualität von Orten und über die Wiedergewinnung authentischer, hiesiger Erzähltraditionen aus.von Matthias Fersterer, Rüdiger Sünner, erschienen in Ausgabe #46/2017
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© www.ruedigersuenner.de

[Matthias Fersterer] Geschichten sind ein integraler Bestandteil der Landschaft. Einst hatte jeder Ort seine Geschichte und jede Geschichte ihren Ort. Bestimmte Geschichten konnten nur an bestimmten Orten erzählt werden oder mussten sogar erzählt werden, wenn man bestimmte Landmarken passierte. Mit der Verschriftlichung mündlicher Tradition und zunehmender Entfremdung, die in der Annahme gipfelt, der industriemoderne Mensch stehe über und außerhalb der Natur, ist diese Verbindung verlorengegangen. Das spiegelt sich in seltsam ortlosen, internationalisierten Geschichten wider. Wie gehst du persönlich mit dieser kulturellen Leere um? 

[Rüdiger Sünner] Immerhin kann ich Orte mit der Kamera so einfangen, dass sie wieder sprechend werden, wenn auch manchmal nur im negativen Sinn. Das habe ich etwa in meinem letzten Film über Paul Celan mit verfallenen Bahngeländen und ehemaligen Konzentrationslagern (Plaszow bei Krakau) so getan, um das Schicksal von Celans Eltern zu erzählen. Im Film über Dorothee Sölle suchte ich ehemalige Lagerstätten für Cruise Missiles in Deutschland auf: gespenstische Areale, die sehr viel über den Wahnsinn des Kalten Kriegs mitteilen konnten – und über den Mut von Dorothee Sölle, die dort in den 1980er Jahren an Sitzblockaden teilgenommen hatte. Dadurch wandelt sich das Tote des Orts zu einem Sinnbildhaften, das wiederum lebendige Geschich­ten erzählen kann. Filmemachen ermöglicht so Transformationen und kann auch verfallene Orte wieder neu aufladen.
Zur Stärkung meiner Seele brauche ich aber auch Orte und Landschaften, wo Positives und Inspirierendes mitschwingt: Auch davon sind meine Filme voll, und ich investiere viel Zeit, um in aller Welt solche Orte zu finden und sie richtig ins Bild zu setzen.

Wegen des Missbrauchs durch die Nationalsozialisten bewegen wir uns in Deutschland auf verbranntem Boden, wenn wir uns mit Mythen und Volkskultur beschäftigen. Doch dieser Boden ist der einzige, den wir haben. Wie begegnest du dieser Herausforderung?

Oft wird versucht, kulturelle Leere durch die Aneigung exotischer Mythen und Traditionen zu füllen. Wie gehst du mit dieser in unserer kolonialistischen Kultur immer gegebenen Gefahr um? Ich habe selbst jahrelang »exotischen Mythen« gehuldigt, indem ich intensiv Zen-Buddhismus praktiziert habe, bis ich – um 1987 – die »mythischen Landschaften« der keltischen Welt Großbritanniens entdeckt habe – Schottland, Wales, Cornwall, später Irland. Das hat mich wie wie ein Blitzschlag getroffen: Es waren zwar keine deutschen Landschaften und Orte, aber ein vielfältiges europäisches Seelenreich, das ich vorher nicht kannte. Dort fand ich die Verbindung von Natur, Landschaft und Mythologie, die in Deutschland weitgehend verlorengegangen ist. Ebenso im schwedischen Lappland, wo ich auf den Spuren des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld wanderte.
Doch nach der Wende entdeckte ich auch hierzulande »magische Territorien«, etwa den Harz, die Lüneburger Heide, die Neckar­landschaft bei Tübingen, später auch Hiddensee oder den Schwarzwald. Häufig geschah das über Protagonisten meiner Filme, etwa Goethe, Hölderlin oder Annette von Droste-Hülshoff. Hier kann man mit der Kamera ebenfalls bestimmte Bildausschnitte und Lichtverhältnisse wählen, um tiefere Schichten aus einer Landschaft herauszuholen, auch wenn sich unweit davon eine hässliche Wohnsiedlung oder ein Baumarkt befinden. Film kann »verzaubern«, man könnte auch sagen: verlorenen Zauber wiederentdecken oder reaktivieren. Zusammen mit entsprechenden Texten, Geräuschen und Musik kann der Zuschauer dann für eine gewisse Zeit wieder in einer imaginativen Landschaft leben, selbst wenn diese in der Realität nur noch bedingt existiert.

Auf deinen Reisen hast du Orte aufgesucht, die Geschichten erzählen, und hast dich auf die Spuren von Denkerinnen und Künstlern begeben, die – solchen Geschichten lauschend – im Zusammenspiel von Mensch, Ort und Mythos gewirkt haben. Was hast du dabei gelernt?

Dass Orte und Landschaften, auch die Elemente der Natur, zu Sinnbildern werden können – oder in Wahrheit immer schon Sinnbilder sind: eine Signatur, die über das Sicht- und Messbare in unsichtbare Bereiche weist. Hammarskjöld erlebte die Größe, Weite und »Leere« von Lappland als Meditationsfläche, um nicht nur physisch zur Ruhe zu kommen, sondern weitreichendere Gedanken überhaupt denken zu können. Indem er sich als kleinen Teil innerhalb eines atemberaubend schönen und reichen Kosmos erfuhr, lernte er, besser hinzuhören, sich selbst zurückzunehmen und Demut zu praktizieren. Das half ihm bei seinen diplomatischen Missionen enorm, bei denen er sich durch große Dialog­fähigkeit auszeichnete. In seine Lapplanderfahrungen spielten auch Elemente der Mystik und Mythologie hinein: Er lauschte bei seinen Wanderungen den Geschichten der Sami, der Ureinwohner Skandinaviens, und trug oft Literatur von Meister Eckhart oder Thomas von Kempen im Rucksack mit.
Bei meinen Dreharbeiten in Nordschweden habe ich versucht, ebenfalls in eine solche Geisteshaltung und meditative Gestimmtheit zu kommen, um die richtigen Bilder für das Portrait dieses bedeutenden Menschen zu finden.

Bist du bei deinen Recherchen auf Traditionslinien gestoßen, an die sich anknüpfen lässt, um als Mitteleuropäer des beginnenden 21. Jahrhunderts auf dem Sediment unserer Geschichte verantwortungsvoll eine hiesige Kultur mit authentischer Erzähltradition wachsen zu lassen?

Die Frage ist, was mit »authentischer Erzähltradition« gemeint ist; es gibt ja auch immer neue, verwandelte, der Zeit angepasste Erzähltraditionen. Die Poetry-Slammer der neuen Generation brauchen wahrscheinlich nicht die Landschaften, die ich in meinen Filmen aufsuche, sondern versuchen vielleicht, urbane Landschaften in aufregende Imaginationsorte zu verwandeln. Aber Lutz Seiler gelang es etwa in seinem Roman »Kruso« auf ganz erstaunliche Weise, Hiddensee tatsächlich wieder zu einem magischen Ort werden zu lassen, was diesem Buch seine ganz besondere Note gibt. Letztlich hängt es von der Imaginations- und Sprachkraft des Einzelnen ab, was er aus einem Ort macht; das weiß ja auch jeder gute Fotograf. Wie ich schon sagte: Ich könnte mit meiner Kamera aus dem Park bei mir um die Ecke eine magische Traumlandschaft machen, in der Geheimnisvolles lebt und man in vielfältige seltsame Geschichten hineingezogen wird. Vielleicht müsste man junge Menschen viel stärker dabei unterstützen, solche Formen des Erzählens zu aktivieren: z. B. in Foto-, Video- und Schreibkursen »Lieblingsorte« oder unheimliche, geheimnisvolle Plätze beschreiben und Bedeutungsschichten jenseits des »Realistischen« freilegen. Stattdessen rennen die Kids in »Avatar« und »Herr der Ringe«, wo mit sündhaft teurem Aufwand digitale Fantasie­räume geschaffen werden, die keinen Bezug zu ihren Lebenswelten haben. Das mag als Unterhaltung okay sein, aber schöner wäre es, wenn zusätzlich auch die Sinne für den »Zauber« der nächsten Umgebung geschärft werden könnten.
Eine andere Möglichkeit sehe ich darin, mit Hilfe von Literatur »magische Landschaften« in Deutschland und Europa zu bereisen und dort ein anderes, vertieftes Sehen zu lernen. Das mache ich halt gerne, und das spiegelt sich auch in meinen Filmen wider.

Wenn man sich einem Ort nähert – und sei es der »Park um die Ecke« –, um mit filmischen, literarischen oder anderen Mitteln seine Geschichten zu erzählen, dann geht es ja wesentlich darum, sich für die Essenz des Orts, für seinen Geist, seinen »Genius loci« zu öffnen. Da versagt die Sprache schnell. Gibt es Erlebnisse, Geschichten, die dir dazu in den Sinn kommen? 

Was dieser »Genius loci« ist, ist sehr schwierig zu beschreiben. Ich kann nur sagen, dass ich schon lange, vielleicht lebenslang, an der Frage herumrätsele, warum ich an bestimmten Orten so starke Empfindungen habe und an anderen nicht. »Geist« und »Essenz« sind da nur schwache Hilfsbegriffe. In Schottland, Wales und Irland traf ich beispielsweise auf Orte, wo ich etwas tief Heimatliches empfand, obwohl ich dort ja nicht geboren bin. Ich spürte auch eine Sehnsucht, dort begraben zu werden, irgendwann einmal zur Ruhe zu kommen. Bestimmte Ortsqualitäten lösen eben auch seelische Regungen in uns aus – und die Frage, warum, geht in sehr tiefe seelische und philosophische Regionen. Die ganze Romantik und die deutsche Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts kreisten im Grund um diese Fragen. Novalis bemerkte dazu, dass jedes Äußere ein »in Geheimniszustand erhobenes Inneres« sei; Schelling sprach von der Natur als »Geist, der sich (noch) nicht als Geist kennt«.
Wenn wir die Theorie, wonach wir nur alles in die Natur hin­einprojizieren, als zu oberflächlich verwerfen, müssten wir mit diesen Romantikern mitgehen – etwa in die Vermutung, dass es ein übergreifendes Geistiges gibt, das sich sowohl im Äußeren (sichtbare Natur) als auch im Inneren (Seele) auslebt. Dann kann ja ein Kontakt entstehen, wo sich der »innere Geist« im »äußeren« zu erkennen vermag. Als Agnostiker halte ich mich da eher zurück, gehe lieber empirisch vor: Das heißt, ich beobachte genau meine Wahrnehmungen, Empfindungen, Assoziationen, die an bestimmten Orten entstehen, staune darüber, erfreue mich daran und versuche, sie künstlerisch umzusetzen, um andere daran teilhaben zu lassen.
Bei dem Versuch, mit filmischen Mitteln mit Orten und Landschaften zu interagieren, geht es sowieso vielfach sehr unbewusst zu: Ich reagiere auf bestimmte Formen, Farben, Lichtverhältnisse, Muster und Makrostrukturen, auf Bildausschnitte, die energetisch »geladener« sind als andere. Warum das so ist, weiß ich nicht. Mir genügt es, wenn ich etwas filmsprachlich Zwingendes gestalten kann und dies auch andere berührt, was ja wohl ein Zeugnis dafür ist, dass etwas von einem »objektiven Geist« darin mitschwingt.

Oder etwas Intersubjektives, das dann entsteht, wenn subjektive Wahrnehmung auf Verbundenheit gründet. Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty bezeichnete das, was uns als wahrnehmende Subjekte miteinander verbindet, als »Fleisch der Welt«. 

Über diese Fragen könnte man ein ganzes Buch schreiben.

Lass uns den Austausch fortführen. Hab einstweilen herzlichen Dank für das Gespräch! \ \ \


Rüdiger Sünner (64) lebt als Filmemacher in Berlin. Soeben erschien sein Buch »Ge­heimes Europa. Reisen zu einem verborgenen spiritu­ellen Erbe«, 2018 das Film- und Buchprojekt »Engel über Europa. Rilke als Gottsucher«.
www.ruedigersuenner.de

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