Gemeinschaft

Begegnung ermöglichen

Ein Besuch im interkulturellen Gemeinschaftsgarten »Grünstreifen« in München.
von Fabian Müller, erschienen in Ausgabe #45/2017
Photo
© Lisa Freudenberg

Bereits auf der Fahrt nach München beschäftigen mich Fragen: Wie kann ein Garten eine Plattform für Gemeinschaft und Begegnung sein? Wie gestaltet sich dies konkret, wenn verschiedene Kulturen und Denkweisen einbezogen werden? Und wie lassen sich Menschen, die erst vor kurzem Flucht erlebt haben, sinnstiftend beteiligen? In Deutschland gehen bereits seit Anfang der 1990er Jahre interkulturelle Gärten diesen Fragen nach. Um selbst Antworten zu erhalten, steige ich unweit des Englischen Gartens in einer gehobenen Wohngegend am »Bürgerpark Oberföhring« aus dem Bus. Das hinter einer Mauer und hohen Bäumen versteckte, etwas verwilderte Gelände fällt mir von außen zunächst kaum auf. Hinter dem Tor muss ich mich orientieren, wo das Projekt »Grünstreifen« zu finden ist. Vor kurzem erst hat es als weiterer interkultureller Garten in München eröffnet.
Hinter hohen Büschen und viel asphaltierter Fläche entdecke ich einige zusammengenagelte Bretter, aus denen Pflanzen wachsen: Ein Hochbeet – das muss es sein! Katrin Siebeck ist auch schon da. Zusammen mit Reza, einem 21 Jahre alten Afghanen, erntet die Künstlerin und Initiatorin des Grünstreifens gerade die ersten Radies­chen. Einigen Gemüsesorten, wie den wuchernden Zucchini, wird es in den jeweils etwa ein Quadratmeter großen Beeten schon im Juni zu eng. Fünfzehn aus Holzpaletten gezimmerte, innen mit Folie ausgekleidete Hochbeete stehen auf einer versiegelten Fläche von nur etwa hundert Quadratmetern; sie sind allesamt schon fast vollständig bepflanzt. »Um jedes der Beete kümmern sich ein oder zwei Gärtnerinnen«, erklärt Katrin. »Wir haben außerdem ein größeres Gemeinschaftsbeet, das alle bepflanzen können.« Zum Inventar gehören noch einige Möbel aus alten Holzpaletten, die bei einem Workshop entstanden sind, ein mobiles Toilettenhäuschen sowie ein Geräteschuppen. Der Zweck des Grünstreifens besteht darin, Begegnungen und Kontakte zwischen Menschen verschiedener Kulturen, aber auch zwischen alteingesessenen Bürgerinnen der Stadt zu schaffen. »Wir wünschen uns«, so Katrin, »dass sich hier gerade auch Kulturen austauschen können, die noch unvertraut miteinander sind«. Außer beim gemeinsamen Gärtnern geschehe dies bei Workshops – etwa zum Bau von Hochbeeten –, im Rahmen von Vorträgen – beispielsweise zu Permakultur – oder im Zuge von Zeichenkursen und anderen künstlerischen Angeboten.
Für Katrin bedeutet die Tätigkeit im interkulturellen Garten eine Erweiterung ihrer künstlerischen Arbeit. Sie versteht das Projekt als eine »soziale Plastik« im Sinn von Joseph Beuys: etwas, mit dem gesellschaftliche Veränderungen angeregt werden. Aus der Verbindung zwischen Künstlerinnen, Geflüchteten und Nachbarn entstehe hier eine soziale Gemeinschaft, die die Fläche im Bürgerpark neu gestalten kann. Ich ahne, dass dabei nicht nur die physische Welt eine neue Gestalt erhält, sondern auch die soziale Welt: Ängste gegenüber Geflüchteten können abgebaut und die Anwesenheit dieser Menschen als Chance begriffen werden. »Leider ist das Vorurteil verbreitet, dass Flüchtlinge nur nehmen. Dabei haben sie auch viel zu geben«, sagt Katrin Siebeck. Als Beispiel nennt sie die handwerklichen Fähigkeiten, die viele bereits in ihrer Kindheit erworben haben und die beim Bau der Beete benötigt wurden. Gerade die aus ländlichen Gebieten stammenden Menschen wüssten zudem meist viel über die Natur und verschiedene Pflanzen. Katrin erzählt, wie bei den gemeinsamen Treffen der Austausch über Anbaumethoden in Fragen der Ernährung und des Zubereitens von Gemüse übergeht, oft begleitet von Gesprächen über die jeweilige Musik und Kultur. So entstehe im gemeinsamen Tun leicht ein neues Bewusstsein für Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie eine gewisse Vertrautheit mit der eben noch fremden Kultur.

Erträge sind hier nicht so wichtig
Doch scheint mir beim Entstehen dieser Vertrautheit das ausgetauschte Wissen nicht das Wichtigste zu sein. Als ich mit Reza, der seit zwei Jahren in Deutschland lebt, ins Gespräch komme, bin ich zunächst unsicher. Wieviel versteht er? Worüber unterhalten wir uns? In seinem Gesicht erkenne ich ebenso Unsicherheit, aber auch Interesse. Das entspannt mich und erlaubt mir, mich voranzutasten. Reza lächelt mir freundlich zu und erzählt von seiner Motivation: »Ich liebe es, zu helfen und Kontakte mit Deutschen zu bekommen!« Er könne hier schneller Deutsch lernen und Menschen kennenlernen, die ihn z. B. zum Übersetzen bei einem Zahnarzttermin begleiten oder bei Prüfungen unterstützen. Dafür revanchiert er sich gerne und kommt fast täglich zum Gießen vorbei: »Ich liebe es, die Pflanzen wachsen zu sehen!« Der gelernte Automechaniker weiß gut mit Werkzeug umzugehen und etwa die Beete aufzubauen bzw. zu reparieren. Ich bin froh, dass ich mich auf die Begegnung einlasse und so mehr von Reza erfahre. Er wird dadurch für mich als Mensch greifbarer; von meiner Seite waren dazu Offenheit und das Zulassen meiner Unsicherheit nötig. Gibt mir diese Begegnung vielleicht die Möglichkeit, mich mehr auf mich selbst einzulassen, mich – und dadurch gleichzeitig auch ihn – besser zu verstehen?
Katrin erklärt unterdessen, dass es bald einen selbstgebauten Lehmofen geben soll, wie ihn viele Geflüchtete aus ihren Herkunftsländern kennen. Sie könnten sich damit ein Stück Heimat schaffen, indem anschließend zusammen Pizza oder Fladenbrote gebacken werden. Allerdings brauche es dafür eine weitere Genehmigung, da es sich beim Bürgerpark um städtisches Gelände handelt. Auf diesem residiert auch, gleich neben den Beeten, der Träger des Grünstreifens: der »Künstlerverein Atelierhaus FOE«, der schon 2015 bei der Stadt Fördermittel für ein Urban-Gardening-Projekt beantragt hatte. Die Zusage kam jedoch erst, als die Idee ein Jahr später mit interkultureller Flüchtlingsarbeit verbunden wurde. In der Zwischenzeit hatte Katrin durch die Kunstprojekte »Innere Stadt« und »Infra Beuys« erste Kontakte zu Geflüchteten gesammelt. Aktuell unterstützen neben dem Münchener Kulturreferat sowie dem bayerischen Migrationsbeirat mehrere Umweltorganisationen und Stiftungen das Projekt Grünstreifen finanziell; einige Unternehmen gaben zudem Sachspenden. Im Januar konnte schließlich der Bau der Beete im Bürgerpark, einem ehemaligen Lazarett, beginnen. Die bis in die 1970er Jahre als Krankenhaus genutzten Baracken werden heute von verschiedenen Vereinen und Künstlern belebt.
Wie steht es aber nun um die Begegnungen zwischen den bis zu fünfzehn Gemeinschaftsgärtnerinnen und -gärtnern im Grünstreifen? Lassen sich insbesondere geflüchtete Familien mit diesem Angebot erreichen? Das selbstgesteckte Ziel der Gruppe, dass etwa ein Drittel der Mitglieder aus Menschen mit Fluchterfahrung bestehen sollte, ist mittlerweile erreicht. Doch als ich das Projekt an einem Samstagnachmittag besuche, sind zunächst nur Reza und Katrin vor Ort. Nach einer Weile kommt ein Paar aus der Nachbarschaft vorbei und bringt selbstgemachten Erdbeerkuchen. Die beiden unterhalten sich mit Reza über sein Praktikum als Automechaniker. Alles ist geprägt von viel Herzlichkeit und Lachen. Die gegenseitige Unterstützung erinnert mich an eine lebendige Nachbarschaft, nur dass die Menschen hier nicht ein gemeinsames Viertel bewohnen. Eine am Garten beteiligte Künstlerin bringt währenddessen einige Pflanzen von zu Hause mit, um diese in ein Hochbeet zu setzen, und beteiligt sich am Gespräch. So bekomme ich doch noch einen umfassenderen Eindruck von den Akteuren.
Ich frage Reza, ob er auch Freunde zum Grünstreifen mitbringe. Als er in kurzen, aber verständlichen Sätzen auf Deutsch antwortet, schwingt Bedauern mit: Den anderen sei der Aufwand für den geringen gärtnerischen Ertrag zu groß; leider würden sie wohl den Sinn dahinter nicht verstehen. Hier sieht auch Katrin ein häufiges Missverständnis und einen Grund für die Schwierigkeit, Flüchtlinge auf Dauer zu gewinnen. Für Familien sei zudem oftmals der Weg zu weit, und gerade die Frauen blieben überwiegend in den Unterkünften. Dass der Sinn des Grünstreifens über die unmittelbaren Begegnungen weit hinausgeht, wird mir währenddessen immer deutlicher. Für Katrin bildet das Projekt eine Art Boden für politisches Engagement – es steht als »eine andere Form von Protest« gegen die derzeitige Flüchtlingspolitik, die Länder, in denen Menschen verfolgt und bedroht werden, pauschal für sicher erklärt. Der aus der DDR stammenden Künstlerin ist dabei wichtig, mit jungen Leuten über politische Themen zu sprechen. So haben einige der Gärtner einen Rap gegen Abschiebungen geschrieben; eine gemeinsame Petition für ihr Recht auf Asyl wird momentan verfasst.

Beziehungs-Nährboden
Durch das gemeinsame Gärtnern entsteht Anteilnahme – ein Gedanke, der mir sofort einleuchtet: Wer zusammen gepflanzt, geerntet und gefeiert hat, dem kann es nicht egal sein, wenn Mitgärtnernde gegen ihren Willen abgeschoben werden. Die regelmäßigen Treffen haben tatsächlich eine emotio­nale Verbindung zwischen den Menschen geschaffen. Begünstigt wird dies durch Freiräume, in denen ohne Konsumzwang Zeit verbracht wird. Der Garten ist so nicht nur Nährboden für Pflanzen, sondern auch für zwischenmenschliche Beziehungen.
Doch besonders in großen Städten stehen dafür nur wenige Flächen zur Verfügung, berichtet mir Emanuel Eitle, den ich im Anschluss an meinen Besuch beim Grünstreifen treffe. Emanuel kam im Auftrag des Kulturreferats der Stadt München zum Projekt und erstellte die für die Förderung nötigen Projektpläne. Im Gärtnern sieht auch er ein Medium für Begegnung – weil es mit dem Thema Ernährung verknüpft ist, das alle Menschen miteinander verbindet und weil es symbolisch dafür stehe, etwas gemeinsam zu pflegen und zum Wachsen zu bringen. »Im Alltag gibt es sonst kaum Begegnungen zwischen Deutschen und geflüchteten Muslimen oder Menschen mit anderen Wurzeln«, sagt er. Der Grünstreifen sei daher ein dringend benötigtes Angebot an alle Bürger, sich zu engagieren und auszutauschen. In idealer Weise ergänze der Garten ähnliche zivilgesellschaftliche Projekte, die etwa über gemeinsames Kochen, Musik oder Theater als Kontaktmedium arbeiten.
Ich frage mich unterdessen, ob trotz der gewünschten Offenheit des Grünstreifens durch seine engen räumlichen Grenzen nicht die Gefahr einer eher geschlossenen Gartengemeinschaft besteht. Alle Beete sind bereits vergeben, Bewerbungen erst wieder für die folgende Saison möglich. Allerdings, so Emanuel, seien die Workshops und anderen Veranstaltungen öffentlich, und die Einladungen erreichten über einen Mailverteiler bis zu 10 000 Adressen.
Katrin Siebert sieht die Lage des kleinen Gartens im ummauerten Bürgerpark sogar als Vorteil, da sie ein allmähliches Wachsen des Projekts ermöglichen könne. So hofft die Gartengruppe derzeit nicht nur auf eine Verlängerung des auf ein Jahr befristeten Vertrags, sondern auch auf eine Verdoppelung der Fläche auf 200 Quadratmeter.
Im August, einige Wochen nach meinem Besuch, berichtet mir Katrin vom Garten, in dem es überall »wie im Dschungel« wuchert. Ein Bienenstock ist hinzugekommen, Veranstaltungen und Feste fanden neben den Hochbeeten statt, und die Beteiligten bringen vermehrt eigene Ideen zur Gestaltung ein. Dass sich die sozialen Beziehungen vertieft haben, zeigen gemeinsame Verabredungen außerhalb des Gartens, beispielsweise zu Konzertbesuchen oder zum Deutschlernen. Solche Unternehmungen sind laut Katrin wichtig, um gerade die geflüchteten Menschen dauerhaft im Projekt zu halten. Es scheint so zu sein, dass nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Freundschaften zwischen den Gärtnerinnen und Gärtnern tiefere Wurzeln schlagen. \ \ \


Mehr Informationen
www.gruenstreifen-muc.de

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