Titelthema

Wir bauen Zukunft

Die Geburt eines Orts des Gemeinschaffens zwischen Elbe und Ostsee, zwischen Projektplattform und Zuhause.von Anja Humburg, erschienen in Ausgabe #45/2017
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© Elia Scholz

Am Rand des Dörfchens Nieklitz im südwestlichen Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns hält das Großstadtleben Einzug. Mitten in der gottverlassenen Pampa zwischen Schaalsee und Agrarwüste liegt das zehn Hektar große Gelände eines ehemaligen Freizeit- und Wissenschaftsparks. Dort treffen seit einem Jahr gut zwei Dutzend vorwiegend junge Menschen aus der Stadt – unter ihnen Tischlerinnen, Erzieher, viele Freiberuflerinnen und einige Sozialunternehmer – auf die alteingesessenen Bewohnerinnen und Bewohner dieser Region. »Wir bauen Zukunft«, so nennen sie diesen Ort, der kein klassisches Zuhause ist, sondern mehr eine neue Basis, eine neue Haltestelle im vernetzten Gefüge ihres Zusammenseins.
Lale Rohrbeck wuchs im 20 Kilometer entfernten Rögnitz auf und hegte den Wunsch, aus Berlin dorthin zurückzukehren. Als der »Zukunftspark Mensch – ­Natur – Technik – Wissenschaft« (ZMTW) pleiteging und das Gelände zum Verkauf stand, ergriff sie im Sommer 2015 die Chance: Mit Fotos von der Anlage reiste sie zur Gemeinschaft Schloss Tempelhof in Baden-Württemberg auf die Baustelle des ersten deutschen »Earthships« – eines energieautarken, aus Recycling- und Naturmaterialien errichteten Wohnhauses (siehe Oya Ausgabe 36). Die Bilder von Nieklitz erweckten den Pioniergeist in vielen der freiwilligen Helferinnen und Helfer auf der Baustelle. Ließe sich dort oben im Norden ein Ort schaffen, an dem ein anderes, ein entschleunigtes, lebensförderliches Leben erprobt werden könnte?
Eine der so Inspirierten ist Sabrina Meyfeld. Damals lag ihr Fokus vor allem darauf, mit dem neuen Unternehmen »ZwischenRaum« ihre Tätigkeit als Prozessbegleiterin und Coach international auszuweiten. Sie arbeitete mit großen Firmen, die auf ein anderes, »nachhaltiges« Zukunftspferd aufspringen wollen, genauso wie mit machtkritischen Bewegungsorganisationen und Initiativen. So sinnvoll sie diese Arbeit fand – es blieb eine innere Leer- stelle. Immer wieder zog es die Halbsizilia- nerin nach Italien und auf Reisen in andere Länder. Dass etwas fehlte, merkte sie besonders, wenn sie ihrer Familie bei der jähr- lichen Weinlese half und dafür sogar mal einen großen Auftrag sausen ließ. Als ihr die Vision von Nieklitz begegnete, wusste sie: Ich will an einem ganz konkreten Ort wirksam werden!
Seither ist viel passiert. Sozialunternehmerin ist Sabrina bis heute mit Leib und Seele, aber sie wurde auch Beitragende des Projekts »Wir bauen Zukunft«. Schon ein Jahr später kaufte die Gruppe das Gelände, gründete eine Genossenschaft, und die 17 Mitglieder verlagerten ihren Alltag entweder ganz dorthin oder ließen noch einen Koffer in der Großstadt stehen. Wohnwägen, Zelte und kreative Übergangsbehausungen dienen den Mitgliedern seit Herbst 2016 als Unterkünfte während der Arbeitseinsätze und Gemeinschaftsbildungsprozesse. Sie ersetzten zerstörte Fensterscheiben und ver- setzten die zu verfallen drohenden Gebäude mit Lehm und Liebe in einen nutzbaren Zustand.
»Dieser Ort hier hat eine ganz eigene Magie«, sagt Lale Rohrbeck. »Es folgte immer ein Schritt auf den nächsten, vom Kauf bis zu den ersten Baustellen – es klappte immer. Alles war im Fluss.« Lale ist Mitglied im Vorstand von »Wir bauen Zukunft«: »Für mich manifestiert sich in diesem Projekt mein Wunsch, hier zu leben und gleichzeitig inspirierende und gleichgesinnte Menschen um mich zu haben.«

Feldversuche
Schnell stand eine grundlegende Infra­struktur, und das erste Permakulturdesign-Seminar konnte im ehemaligen Ausstellungsgebäude stattfinden. Seitdem entwickelte sich ein beidseitiges Beitragen zwischen Gästen und Projektinitiatoren: Permakulturlernende stoßen Zonierungsideen für Gärten und andere Nutzungen auf dem Gelände an, einfache Techniken – wie etwa ein Biomeiler – schaffen einen Anfang, um die Energie- und Stoffkreisläufe vor Ort in einen Fluss zu bringen. Die Gruppe knüpft Freundschaften zu zahlreichen Initiativen und Projekten von nah und fern und versucht sich im Ankommen an diesem Ort.
Wo sind wir hier eigentlich? In einem Workshop wurden die Qualitäten der verschiedenen Plätze auf dem Gelände in Worte gefasst. Mehrere empfinden eine Weggabelung im Dickicht des ehemaligen Zukunftsparks als besonders anziehend. Das reiche Biotop hier ergibt sich aus der verwildernden Parkbepflanzung aus den Zeiten des ZMTW, als der Bionik-Professor und Parkgründer Bernd Heydemann die Natur als Vorbild für den Menschen proklamierte. Diese Geschichte des Geländes macht das Ankommen leicht. Lale: »Vor dem Besucherzentrum war das hier Wiese und Feld. Es gibt keine schwere, negative geschichtliche Vorbelastung, wie es an vielen anderen Ge- meinschaftsorten der Fall ist.«
Das Projekt passt nicht in die klassischen Schubladen von Gemeinschaften. Es ist mehr Arbeits- denn Wohnprojekt. »Wir sind nicht vorrangig Ökodorf oder Lebensgemeinschaft, sondern eine Projektgemeinschaft«, sagte Lale, die mit einem Freund die Agentur für nachhaltiges Bauen, Lernen und Leben »down2earth« betreibt. Offiziell ist das Wohnen auf dem Gelände nicht erlaubt. Wenn die Änderung im Bebauungsplan erreicht und das Wohnrecht eingeräumt ist, sollen »Tiny Houses« – Kleinsthäuser aus Naturmaterialien – für Gäste wie für Ansässige entstehen. Bis da- hin wird improvisiert, zum Beispiel mit einem Jurtendorf.
Der Experimentalcharakter des Geländes, niedrige Anfangskosten und die üppige und ungewöhnliche Kombination gepflanzter und wilder Natur passen zu den Menschen hinter dem Projekt. Sie verlieren sich nicht in Träumen, sondern setzen ihren Plan mit hoher Geschwindigkeit in die Tat um. »Auf dem Gelände ist absolute Begeisterung fürs Selbermachen ausgebrochen«, sagt Sabrina Meyfeld, die Kommunikations- wissenschaft, Psychologie, Deutsche Philologie sowie Kultur- und Sozialanthropologie studiert hat. »Sehr schön, sehr lebendig, sehr sommerlich-kraftvoll fühlt es sich hier an – vor allem, weil jetzt im August zahlrei- che neue Unterkünfte gebaut werden.« Aber auch die Qualität des Innehaltens ist wichtig: »Gleichzeitig wollen wir immer wieder still sein können, an Orten stehen und sie fragen, was sie wollen, was sie uns sagen wollen, was sie sind. Wirklich mit der Natur zu arbeiten und sie nicht wie ein Objekt zu betrachten und nach Vorstellungen zu formen, die in unseren Köpfen sind – das ist immer wieder eine Herausforderung.« Mehrstufige Entscheidungsprozesse und Arbeitskreise schaffen eine Struktur, um mit dieser Herausforderung umzugehen. »Immer wieder gibt es auch Momente, in denen uns das ›Schnell, schnell!‹ der ›urbanen Macherszene‹ oder unseres Lebens an sich ergreift und Überforderung erzeugt«, berichtet Sabrina. Solche Erfahrungen lässt sie in ihre Arbeit bei »ZwischenRaum« einfließen, wo es ihr vor allem um eine kollaborative und sinnstiftende Lern- und Arbeitskultur geht.

Vom Stamm der Bienen
Von außen und von innen erinnert das zentrale Begegnungsgebäude an eine Bie- nenwabe. Mehrere symmetrisch geformte Zellen fügen sich zu einem großen Element. Dies erinnert an das Orakel-Bild, das Werner Küppers der Oya-Redaktion vor einem Jahr mit dem Hinweis »Geh nach Hause und kümmere dich um die Bienen!« schenkte. »Ich bin ausgeschwärmt, habe gesammelt, bin viel gereist und war sehr fleißig« – auch Sabrina benutzt die Bienen-Metapher. »Jetzt ist es Zeit, nach Hause zu gehen und Dinge auf den Boden zu bringen. ›Wir bauen Zukunft‹ ist eine wunderschöne Wabe, von der aus ich – gemeinsam mit anderen – forschen und wirken möchte.« Ihr kommt das Wort des Designs, des Gestaltens in den Sinn: »Sobald ich gestalte und entscheide, bin ich politisch.« Politisch zu sein, das bedeutet für sie, das eigene Leben und die Welt als veränderbar zu begreifen und aus der Wahrnehmung heraus, Teil des Gan- zen und Teil der Natur zu sein, bewusst zu gestalten. Nicht mehr als Einzelkämpferin unterwegs zu sein, sondern gleichwürdige Gestalterin in einem Kreis von Menschen, der sich für ein größeres Ganzes einsetzt – in vielen Kontexten wird der englische Begriff »Tribe« heute neu belebt, denn er ist nicht so belastet wie das deutsche Wort »Stamm«. Sabrina verwendet ihn, um ihr Gemeinschaftsgefühl auszudrücken: »Für mich geht es darum, in die Selbstverantwor- tung zu gehen und bewusst zu gestalten; bei mir anzufangen, von meinen Potenzialen her, mit ganzheitlicher und globaler Perspektive. Geh in die Welt, sei wer du bist, und finde deinen Tribe! Das ist für mich ›nach Hause gehen‹«. Und auch für Lale trägt die Bienen-Metapher: »Für mich hat unser Projekt viel mit Selbstermächtigung und Bodenständigkeit zu tun. Ich bin hier aufgewachsen, habe diesen Ort kennengelernt: Deutschland, Mecklenburg, Berlin – was mache ich nun mit dieser Expertise?«

Vermischungen
Was »Wir bauen Zukunft« auszeichnet, sind die Verwurzeler, die Weltreisenden, die Stadt-Land-Verbinderinnen an einem Ort. Das Projekt schafft einen Zwischenraum, an dem das Ruhige und das Aktive Platz finden, an dem der Modus des Sowohl-als- auch zur Grundstimmung wird. Der ständige Wechsel zwischen städtischem Leben und Pionierort auf dem Land, verwandten Projekten, Zweit- und Drittstandbeinen, engmaschigen sozialen Netzen in den Großstädten – all das sind Qualitäten von »Wir bauen Zukunft«.
Lale zum Beispiel gibt zusammen mit ihrer Mutter, die 20 Jahre lang eine Ziegenkäserei in der Region betrieb, Käseseminare in Berlin. »Die Vermischung von alteingesessenen Dorfbewohnern und großstädti- schen Business-Hippies finde ich spannend und amüsant«, sagt Lale, die Europäische Ethnologie studiert hat. Sie erzählt vom Dorffest in Rögnitz im vergangenen Jahr, das ein schönes Zusammenspiel von neuen und alten Bewohnerinnen und Bewohnern in der Region war. Sie feierten das zehnjährige Jubiläum eines Kinderfilms, der dort gedreht wurde, und die Leute von »Wir bauen Zukunft« haben Essensstände organisiert. Lale: »Die große Kastanienallee in der Dorfmitte ist meist menschenleer, alle werkeln hinter ihren Zäunen. Das beginnt, sich zu wandeln: Man pflegt gemeinsame Gärten, trifft sich zum Kochen oder zum Wein auf der Veranda. Eine Situation wie das Fest, bei dem alle aus dem Dorf durchmischt mit vielen jungen Menschen aus Berlin gemein- sam feierten, das ist wirklich noch eine Sel-tenheit. Deshalb hat es mich so berührt und freudig gestimmt – eine Vermischung von zwei Welten, die ich mir vorher nur schwer vorstellen konnte.« \ \ \


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