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Aus:Tausch

Ökonomie jenseits der Tauschlogik – oder aber was?!von Stefan Meretz, Friederike Habermann, Andreas Weber, Matthias Fersterer, Veronika Bennholdt-Thomsen, erschienen in Ausgabe #44/2017
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Zusammengefasst von Matthias Fersterer

Da liege ich nun also im kalendarischen Sommer in einer Wiese mit brusthohem Gras, lausche dem Zwitschern der tieffliegenden Schwalben, lasse den Blick schweifen und sinniere – über die Cyanobakterien. Der blaue Himmel über mir, die dahintreibenden Wolken, das aufziehende Lüftchen, der Atem in meinen Lungen, Zellen, Gefäßen – das ist unseren blaugrünen Urahnen zu verdanken. Aber was hat das mit Ökonomie zu tun?
Vor zweieinhalb Milliarden Jahren, am Übergang vom Archai­kum zum Proterozoikum, wenden Urbakterien eine selbstverur­sachte Nährstoffkrise zum Evolutionssprung, indem sie die Fotosynthese erfinden. Die Vorläufer heutiger Cyanobakterien können fortan die Energie der Sonne direkt nutzen und ermöglichen nebenbei, indem sie große Mengen an Sauerstoff freisetzen, die Entstehung der Erdatmosphäre. Während die Vermehrung der fotosynthesetreibenden Bakterien und die damit einhergehende Anreicherung der Urmeere mit – dem für obligat anaerobe Mikroorganismen giftigen – Sauerstoff zu einem der größten Massensterben der Erdgeschichte führt, sollten wieder andere Lebewesen mit einer weiteren Erfindung auf die »Große Sauerstoffkatastrophe« ­reagieren: der Sauerstoffatmung.
Vor etwa 600 Millionen Jahren treten die ersten Sauerstoff atmenden und Kohlenstoffdioxid abgebenden Tiere und die ersten Kohlenstoffdioxid aufnehmenden und Sauerstoff abgebenden Pflanzen auf. Somit war in symbiotischer Wechselseitigkeit ein fein austarierter Stoffwechselkreislauf geboren, der bis heute trägt – ein metabolischer Gabenkreis, der nicht etwa durch Altruismus oder Kalkül, sondern durch den spontanen Ausdruck des Lebendigen in Gang gesetzt wurde.
Dieser stoffliche Austausch ist ein grundlegendes Beispiel für die Ökonomie der Gabe. Ökonomie? Im ursprünglichen Wortsinn bezeichnet »Ökonomie« nicht den von der Grundlage des Lebens abgespaltenen, tauschlogisch organisierten Bereich, der heute gemeint ist, wenn von »Wirtschaft« die Rede ist. Letzteren nannte Aristoteles »widernatürliche Wirtschaft« oder Gelderwerbskunst (chrematistike); diesem stellte er die »natürliche Wirtschaft« oiko­nomia (von oikos, »Haushalt« und nemein, »teilen, pflegen, beweiden«) entgegen. Bis ins Mittelalter bezeichnete »Ökonomie« die Kunst des Haushaltens und Pflegnutzens im menschlichen Haushalt, der nie ohne den großen Haushalt Natur zu denken ist.
Wie seltsam, dass die Ökonomie heute als Expertenbereich gilt, der sich die Deutungshoheit über den Wert der Welt zuschreibt und den Geldwert zum Maß aller Dinge erklärt! Wie seltsam, dass das gegenwärtig dominierende Narrativ nicht nur in Handel und Wirtschaftswissenschaften, sondern in nahezu allen Bereichen des Lebens lautet, nichts werde ohne Kalkül gegeben, alles habe seinen Preis, und das Leben sei ein andauernder Wettbewerb aller gegen alle. Immerhin tragen wir mit jedem Atemzug zu einem umfassenden metabolischen Austausch bei, der uns mit der Entwicklungsgeschichte des Lebens verbindet. Und immerhin wurde jeder und jedem das Leben durch die Verschmelzung einer Eizelle mit einer Samenzelle geschenkt.
Auf einer ganz grundlegenden Ebene, die weit vor unsere roman­tisierende menschliche Vorstellung eines »Geschenks« zurückgeht, ist in der Natur alles Gabe, ist alles bedingungsloser Beitrag, der – und dies ist kein Widerspruch – aus einem Zustand vollkommener wechselseitiger Abhängigkeit heraus gegeben wird. Dieser Gabenkreis basiert auf einer Logik umfassenden Austauschs – nicht auf der Tauschlogik, die unser gegenwärtiges menschliches Wirtschaftssystem als Naturgesetz zu verkaufen versucht. Das Prinzip der Gabe ist so allgegenwärtig wie die Luft, die wir ­atmen, so grundlegend wie unsere Existenz, so elementar wie unsere Leben­digkeit. Sie ist Teil einer großen Erzählung, die so alt wie das Leben selbst ist. Das sind keine bloßen Redensarten. Es sind Beispiele dafür, dass wir durch unsere Existenz als lebendige Wesen in einer lebendigen Welt permanent die Erfahrung bedingungslosen Gebens und Empfangens machen – ganz gleich, ob uns dies bewusst ist oder nicht.
Wenn aber das Prinzip der Gabe – in diesem basalen Sinn verstanden – ein Grundmuster der Wirklichkeit ist, warum sollte es dann gerade den Menschen ausschließen? Umso mehr stellt sich die Frage, wie sich unser menschliches Haushalten – also unser mate­rielles Ver-, Vor- und Umsorgen – auf eine Weise organisieren ließe, die diese Qualität bedingungslos beitragenden Austauschs anerkennt und würdigt.
In unterschiedlichen Konstellationen tauschen sich Mitglieder der Oya-Redaktion mit der Sozialanthropologin und Subsistenzforscherin Veronika Bennholdt-Thomsen, der Ökonomin und ­Historikerin Friederike Habermann, dem Philosophen und Biologen Andreas Weber und dem Informatiker und Commons-Experten Stefan Meretz zu dieser Frage aus.

Veronika Bennholdt-Thomsen
»Down to earth!« – den Blick auf den Boden richten. Das ist der eine Rat, den Veronika Bennholdt-Thomsen ihren Studentinnen an der Universität für Bodenkultur Wien gibt, wenn diese nach Lösungsansätzen fragen. »Ausgehend von den Fragen ›Wo stehe ich überhaupt?‹ und ›Wie gehe ich mit der Erde um?‹ können wir nach Lösungen suchen. Die Verbundenheit mit der Erde, das bäuerliche Wissen darum, wie der Mensch als Teil der Natur mit dem Boden umzugehen hat, damit dort weiterhin etwas wächst – das basiert, ebenso wie die Hege und Pflege von Kindern, auf einem mütterlichen Prinzip. In beiden Fällen wird nicht aus Altruismus oder Berechnung gegeben, sondern weil es notwendig ist, damit Leben aus sich selbst heraus weiterbestehen kann – ›durch sich selbst‹, das ist auch die Wortbedeutung von ›Subsistenz‹.
Subsistenz ist eine uralte, mit der Brille der Markt- und Kommerzlogik missinterpretierte Praxis, deren Wirklichkeit wir wieder aufzeigen können. Sie hat viel damit zu tun, die Hände in die Erde zu stecken. Die Logik des bäuerlichen Wirtschaftens ist durch die Maximierungslogik pervertiert worden. Das patriarchale System der globalisierten Marktwirtschaft wendet sich gegen das Mütter­liche, gegen die Frauen, gegen das Bäuerliche. Das, was Leben hervorbringt und mit den Prozessen Wachsen und Vergehen verwoben ist, wird in der Tauschwertlogik geringgeschätzt. Diese Logik ist eine Abstraktion konkreter, stofflich-materieller Vorgänge und gaukelt uns vor, wir könnten nur durch Geld existieren. Sie lenkt uns ständig davon ab, dass Stoff nicht nur ein Ding, sondern auch ein Prozess ist. Ihr Grundprinzip heißt do ut des (lateinisch, ›ich gebe, damit du geben mögest‹). Wie der französische Soziologe Marcel Mauss gezeigt hat, ist der Kreislauf von Geben, Empfangen und Weitergeben jedoch etwas zutiefst Menschliches, das selbst in marktwirtschaftlichen Gesellschaften wirkt. Auf den ersten Blick ist nicht immer eine scharfe Trennung zwischen Tausch und Gabe möglich. Das sollte uns aber nicht entmutigen.«
Dies veranschaulicht Veronika durch ein Beispiel aus Mexiko: »1977 lebte und forschte ich bei einer Maya-Gruppe in Chiapas, der es – obwohl kolonialisiert, geplündert und mit Großgrundherrschaft konfrontiert – gelungen ist, ihre Allmende-Strukturen beizubehalten. Wenn ein junges Paar ein Kind bekommt, spricht jemand aus der Gemeinschaft eine Einladung aus. Der junge Vater macht sich dann mit einer Flasche Schnaps auf den Weg. Wenn diese gemeinsam getrunken wurde, sagt das ältere Gemeinschaftsmitglied: ›Ich gebe euch einen halben Hektar Land von den anderthalb Hektar, die ich eigentlich selbst zum Leben brauche.‹ – Was ist das nun? Ein Tausch? Nein! Ist es kein Tausch? Immerhin wird eine Flasche Schnaps gegeben. Und da ist die Gewissheit, dass der Empfangende irgendwann selbst Land abgeben wird.«

Friederike Habermann
Friederike Habermann beschäftigt sich mit dem emanzipatorischen Potenzial von Commons und Care-Ökonomie. Auf meine Frage, wie sich ein Haushalten, das dem Rest der Natur ähnlicher würde, organisieren ließe, erwidert sie: »In die Natur können wir letztlich alles Mögliche hineininterpretieren. Vieles von dem, was uns ›natürlich‹ erscheint, ist nicht naturgegeben, sondern menschengemacht. Selbst die Tauschlogik erscheint heute vielen als natürlich. Einerseits ist es wichtig, sich aus einem ethischen Anspruch heraus als Teil der Natur zu begreifen und die ganze Erde mit ihren Wesen zu sehen – gleichzeitig darf ich nicht erwarten, davon alle Antworten zu bekommen.«
Es ist herausfordernd, ein Wirtschaften jenseits der Tauschlogik auszudrücken. »Ich spreche nicht von ›schenken‹, weil das impliziert, dass ich etwas in meinem Eigentum habe und es aus diesem heraus weitergebe. Richtiger finde ich den englischen Begriff gifting economy, in dem die Geste des Gebens und das Prozesshafte stecken. Aus der Commons-Perspektive heraus gedacht, geht es nicht um Eigentum, sondern um das, was gemeinsam geschaffen wird: das Commons. Damit ist das Gegebene auch kein bloßes Objekt mehr. Gefühlsmäßig bin ich da wieder näher bei der Natur, weil etwa die Nahrung selbst ein Recht darauf hat, nicht weggeworfen, sondern gegessen zu werden. Das Werkzeug hat das Recht darauf, nicht im Keller zu vergammeln, sondern genutzt zu werden. Deshalb ist es meine Aufgabe, es nicht festzuhalten, sondern im Fluss zu lassen.«
Wie können daraus lebenspraktische Handlungen erwachsen? »Es ist eine Erleichterung, wenn wir uns, indem wir Dinge geldfrei lösen, Freiräume schaffen, damit wir in unserer Zeit die Dinge tun können, die wir tun wollen. Dazu sind aber Bewegungsräume nötig und nicht nur einzelne Aktionen. Denn wenn beispielsweise die nicht-kommerzielle Landwirtschaft Kartoffeln an Unbeteiligte abgibt oder eine nicht-kommerzielle Osteopathin Behandlungen anbietet, kommen die Empfangenden in die Bredouille: Geben sie Geld, dann bewegen sie sich in der Tauschlogik. Geben sie nichts, dann gehen sie mit einem schlechten anstelle eines guten Gefühls – oder aber was? Dieses ›Oder-aber-Was?‹ ist das, was wir aufbauen müssen. Etwas, bei dem kein schlechtes Gefühl entsteht und trotzdem etwas beigetragen wird.«
Beim Nachdenken darüber, wie solche Ermöglichungsräume entstehen, streifen wir das »Grundeinkommen«, das, wie Friederike einwirft, nach Julian Bierwirth treffender »Grundauskommen« heißen sollte. Geld rührt an existenzielle Ängste. Wie können angstfreie Räume entstehen, aus denen heraus wir in selbstverständliches Beitragen kommen? Da trägt Friederike einen für uns neuen Begriff bei: »materielle Grundgeborgenheit«, geprägt vom schwedischen Ökonomen Gunnar Adler-Karlsson. – Wunderbar! Das vermittelt, dass ich alles habe, was ich benötige, damit ich mich behaglich fühle: Ich bin genährt, habe Wärme, bin behaust, habe die Werkzeuge, die ich brauche, bin frei von Angst. Zwischen »materiell« und »geborgen« liegt nur ein scheinbarer Widerspruch, weil sich »Materie« und »Mutter« beide vom Lateinischen mater ableiten. »Bei ›Geborgenheit‹ wird auch klar«, fügt Friederike hinzu, »dass mir diese nur andere Menschen – oder die Natur – geben können. Dadurch drückt sich eine Verbundenheit aus, in der wir zwangsläufig leben. Wir sind eben nicht autonom, sondern aufein­ander angewiesen. Diese Abhängigkeit oder Verbundenheit kann ich als ›einander gegenseitig Freiheit ermöglichen‹ begreifen.«

Andreas Weber
Die Polarität zwischen Freiheit und Verbundenheit zieht sich auch durch das Werk von Andreas Weber. In seinem Buch »Alles fühlt« überwindet er die vermeintlichen Unterschiede zwischen Kultur und Natur: »Die Kultur ist nichts der Natur Fremdes, sondern ihre Verwirklichung in unserer Sphäre.«
»Das Prinzip der Wirklichkeit«, heißt es in seinem demnächst erscheinenden Buch »Sein und Teilen«, »besteht weder in universeller Konkurrenz noch in allgemeiner Symbiose. Es liegt vielmehr dar­in, dass sich das Ganze danach sehnt, in vollendeter Individualität zu erscheinen.« Nachdem ich meine Gedanken zu Austausch statt Tausch zu Papier gebracht habe, lese ich erste Auszüge aus dem Manuskript – und staune über die Parallelen: »Atmen heißt Teilen, Körper sein ist Teilen, und Lieben bedeutet Teilen. Ein Ökosystem ist Sein durch Teilen, ja geradezu dessen Ground Zero. Mein Lebendigsein kann immer nur durch die Äußerung meiner Lebendigkeit erreicht werden, jene, die ich nicht besitze, sondern verschenke, und jene, die mir gespendet wird.«
»Sein durch Teilen« – was Andreas Weber in Hinblick auf die Ökologie benennt – könnte ebenso das Prinzip einer lebensfördernden Ökonomie beschreiben, nicht nur die gemeinsame Wortwurzel oikos lässt das plausibel erscheinen.
»Sein heißt Teilen. Teilen heißt Sein, auf allen Ebenen, vom Atom bis zu unserer Erfahrung von Glück. Wir sind erst wirklich, wenn wir teilen – und wenn wir wirklich wir selbst sein können, haben wir von uns aus das Bedürfnis, zu teilen. Dieses Bedürfnis erfüllen wir, wenn wir uns glücklich fühlen und ›richtig‹«. In diesem Richtigsein klingen Aspekte der erwähnten »materiellen Grund­geborgenheit« an, daraus entsteht Verbundenheit und wieder dar­aus der Impuls zu gemeinschaftlichem Sorgetragen.
»Teilen ist gerade nicht Trennung. Teilen ist im Gegenteil die Weise, wie alles, was lebt, sich durchdringt, um so zu sein. Trennung aber, die als ›analytische Herangehensweise‹ und als Wettkampf aller gegen alle unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit vergiftet, verhindert Teilen, und darum verhindert sie Sein.
Unsere Gesellschaft der zerstörerischen Egoismen muss daher nicht besser – oder gar effizienter – teilen lernen, sondern zum Sein fähig werden. Teilen lässt sich einem Egoisten nicht beibringen. Zu sehr ist es das Gegenteil von dem, was ausmacht, womit er sich schützt. Sein hingegen ist, wonach sich auch der Egoist im Stillen verzehrt. Seinkönnen. Loslassen. Nicht bewertet werden. Nicht funktionieren müssen. Sich angenommen wissen. Das gilt auch für die Gesellschaft als Ganze: Wenn in ihr die Einzelnen, die Menschen, die Tiere, alle Wesen, zu sein vermögen, ist bereits genug geteilt. Aus dem Glück dieses Seinkönnens eröffnet sich uns die Wirklichkeit als eine Allmende. Wenn wir selbst zu sein vermögen, wünschen wir dieses Sein auch den Anderen. Echtes Sein ist unmittelbar geteilt. Um die Menschen zum Teilen zu bringen, müssen wir ihnen das Sein gestatten.«

Stefan Meretz
»In unserer Gesellschaft gibt es Widersprüche auf allen Ebenen, und diese Widersprüche werden personalisiert«, erklärt Stefan Meretz. »Dann heißt es: ›Du bist schuld!‹ oder ›Ich bin schuld!‹ Die persönlichen Probleme und der persönliche Leidensdruck sind jedoch nicht bloß individuell, sondern sind gesellschaftlich vermittelt, sind strukturell. Das konkret zu machen, ist entlastend, auch auf der psychischen Ebene, und daraus ergeben sich neue Handlungsmöglichkeiten. Die entscheidende Frage lautet: Wie stellen wir unsere Lebensbedingungen so her, dass wir uns nicht wechselseitig als hindernde Bedingung betrachten? – In einem anderen, umfassenden Sinn sind wir natürlich Bedingung füreinander: Deine Existenz und deine Bedürfnisbefriedigung sind die Bedingung für meine Bedürfnisbefriedigung. Wir sind, mit Hegel gesprochen, identisch miteinander und zugleich unterschieden, aber eben nicht getrennt. Wenn diese Unterscheidung zur Trennung wird, dann wird sie destruktiv, dann wird sie zur strukturellen Exklusion, zur Ausschlusslogik.«
In der damit einhergehenden »strukturellen Vereinzelung« erkennt Stefan ein Wesensmerkmal des Kapitalismus, dem er das Prinzip »strukturelle Gemeinschaftlichkeit« entgegenstellt: »Es ist nicht so, dass Menschen sich ausschließen wollen – eigentlich wollen alle Verbundenheit, Gemeinschaft und Beziehung. Dennoch sind wir in der marktkapitalistischen Struktur isolierte, von den anderen getrennte Individuen, nicht von Natur aus, sondern durch soziale Organisation. Deshalb haben wir es mit einem strukturellen Problem zu tun. Die Alternative zu dieser ausschließenden, trennenden Logik ist die einschließende, inklusive Struktur der Commons. Commons sind keine Güter, sondern eine soziale Praxis, und sie funktionieren nur dann, wenn die Strukturen so gestaltet sind, dass Menschen sich permanent zum Beitragen eingeladen fühlen. Wir sind dann aufgefordert, unsere Bedürfnisse im Vorhinein mitzuteilen und mit Bedürfniskonflikten umzugehen.«
Weil das Ökonomische vom Rest des Lebens abgespalten und mit dem kleinen Produktionsbereich gleichgesetzt wird, der den viel größeren und wesentlicheren Bereich der Pflege-, Sorge- und Reproduktionsarbeit dominiert, hat Stefan den Begriff »Ökonomie« aus seinem Vokabular gestrichen: »Es kann nicht darum gehen, nur diesen abgespaltenen Bereich zu transformieren. Alles muss transformiert und komplett neu gebildet werden!«

Austausch statt Tausch
Umfassender, bedingungsloser Austausch ist ein Grundmuster der Wirklichkeit. Ein weiteres ist, dass Neues nur auf dem Kompost, dem Schutt, dem Sediment des Absterbenden wachsen kann. Die Welt ist voller Projekte, die Praktiken jenseits von Tausch und Aufrechnen erproben. Es lohnt sich, diese in all ihrer Widersprüchlichkeit zu erkunden. Widersprüche sind kein Makel. Wie sollten Beispiele, die etwas Neues vorwegnehmen, auch nicht widersprüchlich sein? Wachsen sie doch auf dem Nährboden dessen, was sie zu überwinden versuchen. Keimhaft nehmen sie etwas Künftiges vorweg, das uns nie ganz abhanden kommen konnte, weil es seit jeher ein Teil von uns ist: das ganz selbstverständliche Bedürfnis, zum Gelingen des Lebens beizutragen. Wenn wir diesen Impuls frei fließen lassen, zeigt sich, welche subversive Kraft und welches Gesundungspotenzial im bedingungslosen Beitragen und Empfangen liegen.
Indem wir an die Grundfesten der Systemlogik des Tauschens und Verrechnens rühren, ermöglichen wir, dass individuelle und gesellschaftliche Wunden zu heilen beginnen. Dabei ist es nicht so entscheidend, mit welchen Begriffen wir dies benennen. Wichtig ist, dass wir damit anfangen, unser Denken und Tun von lebensfeindlichen Mustern zu befreien: Auf das Ende der Tausch­logik folgt der Austausch. Das ist keine neue Masche, kein neuer Lifestyle, kein neues Business-Modell, sondern – in einem konkreten, stofflichen Sinn – eine Annäherung an die Wirklichkeit. \ \ \
 

Veronika Bennholdt-Thomsen (73), ist Sozialanthropologin und Begründerin der Subsistenzforschung in Deutschland. Sie habilitierte sich über bäuerliche Kultur in Mexiko und lehrt an der Universität für Bodenkultur Wien.

Friederike Habermann (49), ist Ökonomin, Historikerin und Politikwissenschaftlerin. Sie promovierte über den »Homo oeconomicus und das Andere« und forscht zu Herrschaftsverhältnissen, Emanzipation und Widerstandsbewegungen.

Andreas Weber (49), promovierte über »Natur als Bedeutung«. Als Philosoph, Biologe und Poet erforscht er das Prinzip Lebendigkeit. Demnächst erscheint »Sein und Teilen. Eine Praxis schöpferischer Existenz«. www.autor-andreas-weber.de

Stefan Meretz (55), ist promovierter Ingenieur, Informatiker und Commons-Denker. Gemeinsam mit anderen betreibt er das kollektive Blog keimform.de und hat das Commons-­Institut mitgegründet. www.meretz.de


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