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Das Recht als Hort der Anarchie [Buchbesprechung]

von Claus Biegert, erschienen in Ausgabe #42/2017
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Anarchie hat Recht. Der deutsche Ethnologe Hermann Amborn nimmt uns mit auf seine Reise zu den polykephalen Gesellschaften am Horn von Afrika. Polykephal? So bezeichnet man nicht-hierarchische Gesellschaften, bei denen sich Macht und Rechtsprechung auf viele Köpfe verteilen. Dort sind es die Oromo, Hoor, Burji, Dirasha, ­Mosiye, Dullay, Gamo und Konso. Dort, im Somaliland und im Süden Äthiopiens, konnte Amborn erleben, was es heißt, wenn die Rechtshoheit von einer Zentralinstanz auf eine Vielzahl von Verantwortungsträgern übertragen wird. Diese herrschaftsfreien Völker sind von einem Staatsgebilde umgeben, hegen aber nicht den Wunsch, sich dieser äußeren politischen ­Organisationsstruktur anzuschließen oder ihr nachzu­eifern. Dank ineinandergreifender sozialer Netzwerke und Institutionen bedürfen sie keiner Zentralgewalt; vielmehr wirken sie den Tendenzen zur Machtakkumulation gezielt entgegen. Anarchie als Gegenpol zum Gewaltmonopol. Die Berichte sind keine nostalgischen Rückblicke, sondern politische Zeugnisse von heute. In der indigenen Rechtsprechung gibt es zum Beispiel nicht die Rache, denn Kompensation und Versöhnung sind wichtiger als die Leiche des Mörders.
In einer Zeit, da die Privatisierung des öffentlichen Lebens die Politik zum Handlanger degradiert und die Globalisierung den Rechtsstaat zunehmend bedroht, wird der Blick auf die Eigenschaften der Anarchie notwendig. Amborn stellt seine Ergebnisse (und Erlebnisse) in die Gedankengebäude solcher europäischer Größen wie Michele Foucault, Hannah Arendt, Pierre Clastres und Jürgen Habermas. Er liefert damit wertvolle Argumentationshilfen für die Diskussion über Macht, Recht und Gewalt – und damit über das Recht als Hort der Anarchie.
Der Wert dieses Werks fußt nicht zuletzt auf dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Autor und Informanten: Amborn kam nicht als völkerkundlicher Voyeur, sondern als Schmied – also einer, der etwas gelernt hatte. Somit konnten sich die Besuchten ein Bild vom Besucher machen und ihn einordnen, ihn zu den Schmieden in ihrer Gesellschaft gesellen. Seine Gewährspersonen begegneten ihm auf Augenhöhe, und es kam zu einem ebenbürtigen Austausch des Wissens, vom Handwerklichen zum Gesellschaft­lichen. ◆ 


Recht als Hort der Anarchie
Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat.
Hermann Amborn
Matthes & Seitz, 2016
285 Seiten
18,00 Euro

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