Bildung

Schließung auf Raten

Über den Untergang der Odenwaldschule und was wir daraus lernen können.
von Matthias Fechner, erschienen in Ausgabe #42/2017
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© Andrea Zank

An einem verregneten Julimorgen des Jahres 2015 versammelten sich die Schüler der Odenwaldschule vor der Aula des Platon-Hauses. Dort gab es eine leise Rede des Oberstufenleiters, einen letzten Hände-druck und dann die Abgangszeugnisse. Viele hofften trotzdem, ihre Schule werde im September wieder öffnen. Manche räumten nicht einmal ihre Zimmer, ließen Teekocher stehen, Bücher, Plüschtiere, Winterschuhe. Schließlich hatten sie hier eine Heimat gefunden, in diesem Schuldorf am Rand des Odenwalds.
Doch im September 2015 wurde der Schule von den Aufsichtsbehörden die Betriebserlaubnis versagt – aus wirtschaftlichen Gründen.
Was war geschehen? War die Schließung wirklich nötig? Und wie können Bildungsinstitutionen, die in ähnliche Krisen geraten, auf eine konstruktive Art und Weise damit umgehen?
Die Odenwaldschule war eine Institution: 1910 von dem Reformpädagogen Paul Geheeb und seiner Frau Edith gegründet, hatte sie sich als Projekt mit bundesweit einzigartiger Ausrichtung über Jahrzehnte hinweg einen Ruf erarbeitet: »Kein Mensch wird kultiviert, jeder hat sich selbst zu kultivieren«, war Geheebs Überzeugung. Aus diesem Geist lebte die Odenwaldschule: Eine organische Mischung aus Leben und Lernen sollte die jungen Menschen in ihrer natürlichen Entwicklung fördern – Persönlichkeitsbildung, Gemeinschaftlichkeit und Wissensvermittlung bildeten eine Einheit. Die Jugendlichen wohnten gemeinsam mit Lehrern und Lehrerinnen in großen Landhäusern auf dem Schulgelände, aßen gemeinsam im Speisesaal, lernten und feier­ten zusammen. Schülerinnen und Schüler konnten hier nicht nur eine Berufs­ausbildung machen, sondern auch alle Schulabschlüsse bis zum Abitur.
Innerhalb der »Schulgemeinde« sah Geheebs Pädagogik ein hohes Maß an Mitbestimmung vor, was auch bis zuletzt gepflegt wurde: Es gab ein Schülerparlament, Schülerinnen und Schüler waren außerdem in allen Gremien vertreten, und eine kurze Zeitlang war sogar ein Schüler Mitglied des Vorstands der Schule.
Besonders wichtig war für die Gründer das Moment der Gleichberechtigung – sowohl zwischen Mädchen und Jungen, die hier altersübergreifend zusammen unterrichtet wurden (was damals nicht üblich war), als auch zwischen Lehrern und Lehrerinnen sowie im Sinn von Chancengleichheit: Mitglieder der Familien Dönhoff, Weizsäcker und Porsche zählten zu den Absolventen. Ein Drittel der Jugendlichen aber wurde vom Jugendamt geschickt. Aus schwierigen Familien waren sie gekommen, aus der Psychiatrie, von der Straße. Nur selten erkannte man sie im Schulalltag. Wenn etwas zuletzt noch funktioniert hatte an der Odenwaldschule, dann war es diese Art ­eines gleichberechtigten Miteinanders.
Ein Sprichwort sagt, man brauche ein Leben lang, um einen guten Ruf zu erwerben, aber nur einen Moment, um ihn zu ruinieren. Für die Odenwaldschule kam dieser Moment im Jahr 1999, als die Frankfurter Rundschau den systematischen sexuellen Missbrauch in den 1970er und 80er Jahren offenlegte. Hunderte Jugendliche waren davon betroffen gewesen. Statt von Anfang an öffentlich zu sagen: »An der Odenwaldschule war massiver Missbrauch an der Tagesordnung«, wurde der Fall zunächst nur intern geklärt und ernsthafte wissenschaftliche Aufklärung, Aufarbeitung sowie Prävention blieben aus.
Im März 2010 wurde der Missbrauch dann in seinen ganzen Ausmaßen aufgedeckt. Die Rektorin gestand vor laufenden Kameras weinend die »niemals zu nehmende Schuld« der Odenwaldschule ein. Die mit Abstand wichtigste Lektion aus dem Fall muss daher die Bedeutung der Prävention von sexuellem und anderem Missbrauch bzw. der entschlossene und verantwortungsbewusste Umgang damit sein. Und – ja, es ist legitim zu sagen, dass eine Organisation, in der organisierter Missbrauch stattgefunden hat, ihr Existenzrecht verwirkt hat. Gerade weil die Odenwaldschule aber einen herausragenden pädagogischen Ort auf der Bildungslandkarte darstellte und die Missbrauchsfälle lange zurücklagen, wiegt ihr Verlust schwer. Bis 2010 gab es lange Wartelisten – die Odenwaldschule war es trotz aller Skandale wert, erhalten zu bleiben. Warum also musste sie schließen, und wie wäre das zu verhindern gewesen?

Vielfältige Komplikationsbausteine
Nach den Auflagen der Behörden sollten im Jahr 2015 innerhalb weniger Wochen anderthalb Millionen Euro als Liquiditätsnachweis für die nächsten drei Jahre auf ein Sonderkonto eingezahlt werden. Das misslang, obwohl vor allem durch den Einsatz der Schüler einige Hunderttausend Euro an Spenden gesammelt werden konnten. Die Landhäuser und das Gelände sind inzwischen verkauft, viele Schüler ins alte Leben gerutscht. Mehr als die Hälfte soll den weiteren Schulbesuch abgebrochen haben, 120 Mitarbeiter verloren ihre Arbeit.
Auch wenn am Ende finanzielle Gründe zur Schließung der Schule führten, war der Schulorganismus bereits lange Zeit vorher von Konflikten im kommunikativen, rechtlichen und ökonomischen Bereich gebeutelt. Es wurde viel aneinander vorbeigeredet und -entschieden. Es war wie eine »Schließung auf Raten«, die kaum an die Öffentlichkeit gedrungen ist – eine Chronik von vermeidbaren Fehlern, aus der hoffentlich andere krisengeschüttelte Einrichtungen ihre Lehren ziehen können.
An verschiedenen Stellen wird deutlich, wie blockiert die Prozesse waren: Spätestens 2010, als die Schülerzahlen nach dem Ausbruch des Skandals einbrachen, als auch die Freudenberg-Stiftung ihre finan­zielle Hilfe für die Odenwaldschule einstellte und der Schulhaushalt über Nacht zu schrumpfen begann, war dringender Handlungsbedarf geboten. Trotz dieser Alarmzeichen war der Geschäftsführer der Odenwaldschule nicht bereit, einen detaillierten ­Haushaltsplan zu veröffentlichen – auch der Schulvorstand kannte die genauen Zahlen nicht. Der wissenschaftliche Beirat der Schule machte zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 2010, verschiedene Vorschläge, was – nicht nur ökonomisch – zu tun sei: Interimsschulleitung, Wirtschaftsprüfung, beratendes Expertengremium, Organisationsentwick­lung, zusammengefasst in einem Masterplan. Ein externes Kriseninterventionsteam, bestehend aus erfahrenen Pädagogen, Schulentwicklern und Betriebs­wirtinnen, das die Führung der Odenwaldschule übernommen hätte, wäre vielleicht heilsam gewesen. Für solche Anregungen gab es aber keine Akzeptanz.
Wie konnte es so weit kommen? Eine wesentliche Schwierigkeit bestand darin, dass der Trägerverein – das wichtigste Entscheidungsgremium – zu stark mit Menschen besetzt war, die keinen Bezug mehr zur gelebten Realität der Schule hatten. Entscheidungen sollten aber in jeder Einrichtung von den Menschen beschlossen werden, die sie umsetzen müssen: in diesem Fall von den Lehrern, den Eltern und natürlich den Schülerin­nen. Sie alle hätten der spontanen Entlassung des Leitungsteams im Juli 2014 wohl nicht zugestimmt. Der damalige Schulleiter hatte sich gegen eine Verwässerung des pädagogischen Konzepts ausgesprochen, während es der Trägerverein aus Imagegründen für ratsam hielt, den pädagogischen Kurs zu ändern. Dabei war es ja gerade das, was die Odenwaldschule einzigartig und erhaltenswert gemacht hatte.
Das Kollegium war zu homogen, um solchen Entscheidungen erfolgreich zu widersprechen. Viele Lehrer waren schon seit Jahrzehnten an der Schule und taten sich mit Veränderungen schwer. Eine öffentliche – und nicht nur interne – Ausschreibung von Leitungsstellen wäre hier ein guter Schritt gewesen. Ein weiteres Problem, unter dem viele Bildungseinrichtungen leiden, ist eine Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität, besonders im sozialpädagogischen Bereich. Zugegebenermaßen erfordert es gerade hier oft einen Einsatz, der weit über die vertragliche Arbeitszeit hinausgeht. Es stellt sich also die Frage, ob unter arbeitsrechtlichen Bedin­gungen ein hoch idealistisches Projekt wie die Odenwaldschule überhaupt möglich ist. Zwar gab es bis zum Schluss einige Querdenkerinnen und auch Idealisten, aber es kam auch immer wieder vor, dass wichtige Personen für Schüler und Kollegen in heiklen ­Situationen nicht ansprechbar waren. Sie waren dann eben »im Wochenende«, obwohl sie dringend gebraucht wurden.
Auch die Scheu, ökonomisch sinnvolle Schritte zu gehen, erklärt sich zum Teil aus dem gewohnten Fahrwasser; man ließ alles so weiterlaufen wie gehabt, und hoffte auf Verbesserung.
Diese und viele andere Beispiele deuten auf eine gestörte Kommunikation im operativen Bereich hin, auf ein in der Tiefe zerrüttetes Vertrauen und eine daraus resultierende Gesprächsunfähigkeit. Wie aber können Organisationen eine Kultur des Vertrauens und des Gesprächs aufbauen? Das ist nicht nur in Anbetracht der Odenwaldschule eine zentrale Frage.

Kommunikationskultur entwickeln
Immer mehr Organisationen machen sich auf den Weg und orientieren sich zum Beispiel an den Prinzipien des »Art of Hosting« – einem Ansatz zur Kreation von sinngetragenen, authentischen Räumen. Diese können beispielsweise entstehen, wenn alle Beteiligten in einem Kreis zusammenkommen, die persönliche Motivation mit anderen besprechen oder sinnstiftende Geschichten miteinander teilen. Freilich ist das manchmal nicht ganz leicht zu organisieren: In der Odenwaldschule gab es erst mit dem Runden Tisch – kurz vor Schließung – einen Raum, in dem Schulvorstand, Trägerverein, Heimleitung, Mitarbeiterinnen, Aufsichtsbehörden, der Altschülerverein und der Betroffenenverein wirklich konstruk­tiv miteinander ins Gespräch gehen konnten. Es wurde jedoch vorwiegend über rechtliche Fragen einer strukturellen und wirtschaftlichen Neuausrichtung der Schule verhandelt. Eine echtes Vertrauensverhältnis entstand in diesem Rahmen nicht. Dafür wären mehr Zeit und die innere Bereitschaft, über Bedürfnisse zu sprechen, gut zuzuhören und auch unterschiedliche Haltungen wahrzunehmen und zu achten, nötig gewesen.
Zusätzlich zu dieser Ebene, die eher die Kultur oder die »Seele« einer Organisation betreffen, ist es wesentlich, dass sich Menschen mit einer entsprechenden Expertise um die nüchternen Fakten kümmern und eine Arbeitsgruppe bilden, die sich mit den vielleicht unliebsamen, aber essenziell wichtigen rechtlichen, ­behördlichen und ökonomischen Sachverhalten auskennt – und in Krisensituationen gute, weitsichtige Entscheidungen vorbereiten kann. Das gilt ebenso für Öffentlichkeitsarbeit und den Umgang mit Medien, der der Odenwaldschule enorm geschadet hat.
Bessere, das heißt: vertrauensvollere Kommunikation und mutige Weichenstellungen aller beteiligten Stellen hätten das Desaster der Schule vielleicht verhindern können. Gerade in heiklen Situationen ist es – nicht nur für Bildungseinrichtungen – wesentlich, alle Beteiligten in ein wirkliches Miteinander zu bringen, in dem die verschiedenen Sichtweisen geachtet werden.
Am Fall der Odenwaldschule hat sich auch gezeigt, dass der Staat, namentlich Schulaufsicht und Heimaufsicht, im Krisenfall nicht unbedingt unterstützend aktiv werden.
Es ist bitter, dass ein Bildungskleinod nun endgültig von der Bildungslandkarte verschwunden ist – insbesondere für die vielen jungen Menschen, die dadurch ihre gewachsene Schul- und Lebensumgebung verloren haben. Wie wichtig es ist, miteinander zu sprechen, alle Beteiligten ins Boot zu holen, vielfältige Perspektiven zuzulassen, der wirtschaftlichen, sozialen und medialen Ebene im Krisenfall gleichermaßen Beachtung zu schenken – all das kann aus der Havarie der Odenwaldschule gelernt werden. Wiederbringen kann es die Schule aber leider nicht. •


Matthias Fechner (50) Promotion in Sheffield. Danach Ausbildung zum Oberstufenlehrer, zwölf Jahre Tätigkeit an Waldorfschulen (1999-2011), zuletzt an der Odenwaldschule (2010-2015) als Haus- und Fachleiter für Politik und Wirtschaft. Seit 2015 ist Matthias Fechner ist an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues tätig.

Handreichung für Schulen zum Verhalten bei sexuellem Missbrauch
www.kurzlink.de/missbrauchschreiben

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