Titelthema

Der stumme Winter

von Anja Humburg, erschienen in Ausgabe #42/2017
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Eigentlich begann die Geschichte vor ungefähr hundert Jahren. So genau wissen wir es nicht. Wir wissen auch nicht, wer die Eichen gepflanzt hat. Doch es war zu jener Zeit üblich, dass man Eichen pflanzte, um sich daraus beizeiten den Sarg schreinern zu lassen. Über die Zeit wuchsen sie zu mächtigen Wolkenkratzern, die Reisende – Kutscher wie Motorradfahrer – schon von weitem empfingen. Nach diesen Eichen benannte man die Straße »Am Eichenhain« im Dorf Holzen, in dem sie stehen. Es liegt südlich der Elbe zwischen Bleckede und Lüneburg und zählt ungefähr 300 Menschen. Was nun folgt, könnte die Geschichte über einen ganz normalen Streit am Nachbarzaun sein. Doch will sie uns nicht noch mehr sagen?

Der Tag neigt sich dem Ende zu. Die Kinder ziehen ihre dicken Wintermäntel an, greifen Laternen und Fackeln und stimmen aus Gewohnheit ein Martinslied an. An der Weggabelung vor den Eichen versammeln sich gut ein Dutzend große und kleine Menschen zur letzten Wache für die alten Bäume. Sie wollen sich vor ihnen verneigen. Sie wollen ihre Trauer zeigen. »Wie können wir uns von den Bäumen verabschieden?«, fragen die Kinder. »Wir können sie umarmen.« »Wir können sie küssen.« Ihnen fällt schnell selbst etwas ein. Die Bäume sind für sie Lebewesen wie sie selbst. Warum sollten sie sich von ihnen anders verabschieden als von einem Menschen, den sie lieben? Menschen und Lichter bilden jetzt ein Halbrund um die Eichen. Ein Freund spielt auf der Gitarre. Der Schmied kommt angerast und bringt ein Schild mit der Aufschrift »Pflanzt Bäume«. Seit Jahren stehe es in seiner Werkstatt, erzählt er, und suche nach einem Einsatz. Skurril. Sollen die Bäume doch bleiben, wir wollen gar keine anderen. Werden hier einmal Obstbäume wachsen und die Dorfbewohner zum gemeinsamen Einwecken einladen? Oder werden Buchsbaumhecken und Rhododendron die Grenzen des Privatgrundstücks manifestieren?

Eine Delegation zieht zum Haus der Nachbarin, die vor wenigen Wochen das Stückchen Land von wenigen Hundert Quadratmetern für mehrere Zehntausend Euro erstanden hat. Ein Haus könnte man darauf nicht bauen, viel zu klein ist es. Wegerechte und Leitungen durchziehen seinen Grund. Seit langem sind der alten Dame die Eichen ein Dorn im Auge. Laub verstopft ihre Dachrinne, schon einmal fiel ihr Mann von der Leiter, als er das Rohr reinigen wollte. Die langen Schatten verdunkeln das Haus. Bald werden die beiden so alt sein, dass sie die allherbstliche Blätterflut überfordert. Sie haben genügend Geld, aber nicht genügend Vertrauen in die Mahnenden, um deren Angebot, zukünftig das Laub zu rechen, annehmen zu können. Nein, auf diesen Handel lässt sich die neue Eigentümerin der Eichen nicht ein – allen Gesprächen nach der Kunst der Rosenberg’schen Kommunikation zum Trotz. Die Entscheidung ist Privatsache, denn es geht um privates Land. Das war es vor und ist es nach dem Kauf. Es zählt nicht, dass der Platz den Status eines informellen Dorfplatzes hat, Kindern zum Herumtollen dient und Pläne geschmiedet werden, ihn gemeinschaftlich zu nutzen. An der an wenigen Tagen vollbrachten Fällung ist nichts zu drehen, obwohl sie doch eine öffentliche, die Dorfbewohner betreffende Angelegenheit ist. Warum traut die Frau den Jüngeren nicht zu, diese Aufgabe langfristig übernehmen zu können? Ihre Entscheidung ist wohlüberlegt und zugleich zutiefst verstörend. Der Landschaftswandel, der in den letzten Jahrzehnten um den Ort herum stattgefunden hat, setzt sich nun im Dorf fort. Monokulturen, Megamaschinen und Ackergifte verdrängten Hecken, Weideland und Wälder. Verschlungene Feldwege wichen Wirtschaftswegen vom Reißbrett, die zwar bis zum letzten Acker führen, aber nicht mehr dazu einladen, auf ihnen zu wandern. Heißt demografischer Wandel, dass wir alle Wege und Plätze rollstuhlgerecht pflastern müssen, damit die Alten auch im Alter noch möglichst eigenständig leben können? Die Entscheidung der alten Frau ist ein Abbild nicht nur der entwurzelten Dorfgemeinschaft, sondern auch ein Abbild von gesellschaftlicher Isolation. Es bilden sich zwei Pole: hier die persönlichen Bedürfnisse und Ängste einer Älterwerdenden, dort die ein Jahrhundert alt gewordene Allmende – der Anblick und die Bedeutung dieser Bäume, die auch einen sozialen Zusammenhalt symbolisieren. Dialog und gegenseitige Fürsorge reichen nicht über den Gartenzaun – ja, manchmal reichen sie nicht einmal mehr bis dahin.

Die Mahnwache wurde zwar gehört, aber gefällt wird – während diese Geschichte niedergeschrieben wird – trotzdem. Bald schon stehen nur die Stümpfe dort. Aus dem Eichenhain wird ein Friedhof. Sargweise wird dort die Hoffnung vieler Dorfbewohner beerdigt. Das Dorf ist fern, grau und kahl. Doch in all dem Entsetzen wachsen die Verbindungen zwischen den­jenigen, die gemeinsam getrauert haben. Es gibt Menschen in diesem Dorf, die gekommen sind, um es zu beleben.

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