Gemeinschaft

Dreieinige Transition-Dorfgemeinschaft

Im Weserbergland befördert eine mehrfach preisgekrönte ländliche Transition-Initiative den Wandel.
von Marion Hecht, Henning Austmann, erschienen in Ausgabe #40/2016
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© Hartmut Bedürftig

Rob Hopkins, der Begründer der internationalen Transition-Town-Bewegung, hätte vermutlich seine Freude an Flegessen, Hasperde und Klein Süntel. Diese drei Dörfer – zusammenhängende Ortsteile Bad Münders mit insgesamt 1500 Einwohnern, rund 30 Kilometer südwestlich von Hannover – sind Heimat einer Gemeinschaft, die am besten als »Transition Village« beschrieben werden kann: Hier im Naturpark Weserbergland bastelt man an einer besseren Zukunft im Einklang von Mensch und Natur. Anders als im britischen Totnes, dem Ursprungsort der Transition-Bewegung, stand dabei aber nicht die Sorge um Klimawandel oder Ressourcenverbrauch am Anfang der Entwicklung. Ausgangspunkt war keine globale Herausforderung, sondern eine sehr lokale: Im Sommer 2011 kündigte der Rat der Stadt Bad Münder an, aus Kostengründen eine der kleinen Grundschulen der Kommune schließen zu wollen. Flegessen stand dabei – wegen geringer Schülerzahlen – ganz oben auf der Streichliste. Das war die Initialzündung für das gemeinsame Anpacken. Bereits in der Vergangenheit war in den drei Dörfern ein außergewöhnliches ehrenamtliches Engagement zu beobachten gewesen, etwa beim Neubau der Turnhalle. »Warum sollten wir nicht auch eine Grundschule retten können?«, spornten sich die Einwohner gegenseitig an. »Und wenn wir schon mal dabei sind: Was gehört noch auf unsere Wunschliste für ein zukunftsfähiges Leben auf dem Land?« Gemeinsam erteilten sich die Bürgerinnen selbst den Auftrag: »Wir nehmen ein ganz normales Dorf und stellen es zukunftsfähig auf. Ohne große Politik, ohne Warten auf Hilfe von oben, sondern aus uns selbst heraus, auf Graswurzelebene.« Der Kern der etwa 80 aktivsten Gestaltenden ist ein bunter sozialer Mix, darunter drei Haushalte, die man als »studierte Alternative« bezeichnen könnte; die anderen sind »ganz normale Einwohner« zwischen 30 und 60 Jahren, viele davon seit mehreren Generationen im Ort ansässig, aus allen Berufen und in konventionellen Familien lebend. Diese »normale« Zusammensetzung ist eines der aufregendsten Details der Initiative – birgt sie doch die Chance, das Wirken auch in andere »normale« Dörfer übertragen zu können. Ein Zitat des Befreiungstheologen Dom Helder Camara auf dem Gedenkstein vor dem neuen Regio-/Bio-Laden mitten im Ortskern fasst zusammen, wie es dazu kommen konnte: »Wenn ich alleine träume, ist es nur ein Traum. Wenn wir gemeinsam träumen, ist es der Anfang der Wirklichkeit.«

Umsetzungen
Dank einer wahren Flut an Ideen zur Verbesserung der Zukunftsfähigkeit wird nun seit 2012 gemeinsam angepackt. Manches davon ist ganz groß, anderes zunächst ganz klein: Schnell waren eine Dörfer-Webseite, ein Blog und ein Mailverteiler für den dorfinternen Austausch eingerichtet. Für die Freunde des bedruckten Papiers wurde eine kostenlose monatliche Dorfzeitung ins Leben gerufen, die über Neuigkeiten aus den ortsansässigen Institutionen berichtet. In Abstimmung mit Kirchenvorstand und Pfarrhaus-Förderverein folgte wenige Wochen später die Einladung zum ersten Dorfkino in der Kirche. Im Rahmen der Dorfhochschule tauschen Jung und Alt Wissen miteinander aus – in der Regel in privaten Wohnhäusern, also immer dort, wo die ehrenamtlich Dozierenden mit ihren Studierenden Raum finden. Voneinander-Lernen und Genügsamkeit passen dabei gut zusammen. Der Suffizienzcharakter des Wirkens zeigt sich auch darin, dass bislang alle Projekte ohne öffentliche Fördergelder auskommen. Eine gemeinwohlorientierte Immobilienvermittlung führt Anbietende und Suchende zusammen. In der Film-AG drehen rund 70 Kinder, Jugendliche und Erwachsene zunächst eine satirische Utopie über das Dorfleben im Jahr 2033 und dann eine Parodie verschiedener Märchen. Nicht nur beim Drehbuchschreiben, sondern auch an den Drehtagen und bei der Filmpremiere im Hofcafé wird laut und herzlich miteinander und übereinander gelacht. Die ersten schnellen Erfolge schweißen die Gemeinschaft weiter zusammen und etablieren eine Kultur des kollektiven Träumens und Ideenspinnens. Die Quelle der Schwarm­intelligenz sprudelt weiter unaufhörlich. Längst schreckt das Transition Village auch vor größeren Vorhaben nicht zurück: Eine Immobiliengenossenschaft bündelt Anteilscheine von 270 Bürgern und kauft ein Grundstück in der Ortsmitte. Darauf entsteht in weniger als einem Jahr Bauzeit ein achteckiger Strohballen-Lehm-Bau für einen Regio-/Bio-Laden in Bürgerhand. Die örtliche Stammkundschaft sowie Besucher von nah und fern schätzen das exzellente Sortiment und das günstige Preisniveau. Letzteres wird durch den ehrenamtlichen Betrieb des Ladens und den Verzicht auf eine Gewinnmarge ermöglicht. Ehrenamt in Gemeinschaft für hochwertige, aber günstige Lebensmittel vor Ort statt Industrieware vom Discounter im Nachbarort – das ist die neue Definition von Lebensqualität am Süntelrand. In Kombination mit Kindergarten, behüteter Grundschule, vielfältigem Angebot von Vereinswelt und Hofcafé, naturnaher Sackgassendorf-ruhe und dem übergreifenden Gemeinschaftsgeist ist ein kleines Familienparadies der kurzen Wege entstanden. Kein Wunder, dass in der Konsequenz die Nachfrage nach Immobilien steigt und in Flegessen, Hasperde und Klein Süntel ein Mangel an Wohnraum herrscht! Ein Neubaugebiet ist zwar ausgewiesen, würde jedoch landwirtschaftliche Fläche verbrauchen. Um einer weiteren Versiegelung vorzubeugen und die Ortskerne zu stärken, hat deshalb die Konzentration der Verdichtung und die Entwicklung des Innenraums Vorrang – vom Einfamilienhaus aus den 1950ern über die leerstehende Fachwerkscheune am Ortsrand bis zum möglichen Neubau eines U-Hofs in Strohballen-Lehm-Bauweise wird alles auf sein Wohnraumpotenzial hin geprüft. Für das seit Jahren leerstehende Pfarr-Fachwerkhaus im alten Ortskern entwickelt eine Projektgruppe ebenfalls alternative Nutzungsszenarien. Auch hier wird dem Spinnen von Visionen für eine zukunftsfähige Gesellschaft freier Lauf gelassen: Vom Verkauf an eine Lebensgemeinschaft über die genossenschaftliche Entwicklung einer Senioren-WG bis zum Aufbau einer »Akademie des Wandels« scheint alles möglich.
Im Streben nach Multiplizierbarkeit der Erfahrungen stellen sich regelmäßig die gleichen Fragen: Wie gelingt es, so viele Ideen umzusetzen? Was zeichnet die Kultur dieser Dörfergemeinschaft aus? Was motiviert? Was hält zusammen?

Erfolgsfaktoren
Auf der Suche nach Erfolgsfaktoren stößt mensch auf einen starken Kontrast zu klassischen politischen Strukturen. Prägendes Merkmal der »Potenzialentfaltungsgemeinschaft« (Gerald Hüther), die unter der Überschrift »Ideenwerkstatt Dorfzukunft« zusammenkam, ist die konsequente Anwendung partizipativer Methoden: Jederzeit sind die beteiligten Akteurinnen um ein breites Meinungsbild und viele Schultern bemüht. Selbst der Strohballen-Lehmbau für den Dorfladen erwies sich als partizipatives Geschehen: Eine Vielzahl von ehrenamtlichen Bauhelfern konnte ohne Vorkenntnisse und besonderes handwerkliches Geschick in parallel stattfindende Bauabläufe eingebunden werden. Breit und vielfältig gestalten sich auch die Organisationsformen des sozialen Miteinanders: Die in der Vereinswelt gelernte Hierarchie wurde zugunsten einer Basisdemokratie aufgegeben. Das Motto: »Wer macht, hat Recht. Wer nicht macht, kann nicht meckern.«
Als koordinierendes und moderierendes Element wurde die sogenannte Küchentischrunde eingeführt. Hier kommt in unregelmäßigen Abständen ein Kreis von 20 bis 40 Interessierten zusammen, reflektiert über die Wirkung von umgesetzten Projekten, identifiziert neue Chancenfelder sowie Probleme und Unterstützungsbedarf in laufenden Projektideen. Eine Teilnahme und Mitsprache steht allen Bewohnern der drei Dörfer offen. Wo immer möglich, werden zudem bestehende Strukturen integriert und Engagements verknüpft. Das spart nicht nur Kräfte, sondern schafft Akzeptanz – gerade bei der älteren Bevölkerung. Aus Rücksicht auf das seit Jahrzehnten etablierte Angebot von Bäcker, Metzger und Getränkeladen verzichtet der Regio-/Bio-Laden auf Backwaren, Wurst- und Fleischprodukte sowie auf Getränke. Auch der Ortsrat, Ortsbürgermeister und Kommunalverwaltung sind entweder in die vielfältigen Aktionen eingebunden oder gut darüber informiert. Die »Ideenwerkstatt Dorfzukunft« wird dort aktiv, wo Vereine, Lokal­politik und Wirtschaft infolge von Zeitmangel, finanziellen Engpässen, strukturellen Hürden oder persönlichen Befindlichkeiten nicht gestalten können oder mögen. Unabhängigkeit wird dabei großgeschrieben: Alle bisherigen Ideen und Projekte entstanden nicht nur ohne öffentliche Fördergelder, sondern auch ohne externe Beratungsbüros. Das gelingt, weil eine etwaige Parteizugehörigkeit hier bedeutungslos ist und man einander lösungsorientiert, offen, ehrlich, aber jederzeit konstruktiv und wertschätzend begegnet – gerade auch, wenn sich Ehrenamtserschöpfung breitmacht, zu wenig Aktive für eine neue Idee gefunden werden oder Projekte länger brauchen als geplant. Nicht immer ist alles rosarot. Auch machen längst nicht alle Bürgerinnen begeistert mit. Doch wer Zukunft in großer Gemeinschaft gestalten möchte, muss akzeptieren, dass Meinungen, Erwartungen und Lebensmodelle von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausfallen. Unter den Aktiven gelten die gegenseitige Akzeptanz und die Wertschätzung verschiedenartiger Individuen als Ausgangspunkt für jedes gemeinsame Gestalten. Das bedeutet nicht, dass mensch seine Prinzipien aufgeben muss. In der Sache wird kontrovers diskutiert, gleichzeitig aber immer wieder nach gemeinsamen Handlungsspielräumen gesucht, in denen am Ende nicht in »richtig« und »falsch« oder in »Gewinner« und »Verlierer« getrennt wird, sondern wo alle ihr Gesicht wahren und gemeinschaftsstärkende Entwicklung erfahren können. 
Bei der Bewältigung von Unstimmigkeiten oder Durststrecken hilft auch der regelmäßige Blick über den Tellerrand: Wie machen es andere? Wo können wir lernen? Eine Partnerin des Transition-Dorfs ist die »Montag Stiftung Urbane Räume« mit ihrem Projekt »Neue Nachbarschaft«. Die Bonner Experten für Stadtentwicklung waren schon früh davon überzeugt, dass viele der hiesigen Erfahrungswerte (partizipative Prozesse, Basisdemokratie, Traum- und Mitmachkultur, Wirkungsorientierung) auf urbane Räume übertragbar sind. Auch zum seit 2009 von Künstlern besetzten Hamburger Gängeviertel und zu alternativen Lebensgemeinschaften bestehen freundschaftliche Verbindungen. So dienen andere »Dörfer des Wandels« – etwa das Ökodorf Sieben Linden oder Heckenbeck bei Bad Gandersheim – regelmäßig als Quelle für Inspiration und Motivation.

Nächste Schritte
Weitere kollektive Potenzialentfaltung steht nun vor der Tür: Gemeinsam mit der Klimaschutz- und Energieagentur des Bundes sollen für jedes der drei Dörfer ein Konzept zur energetischen Quartiersanierung entwickelt und die unterschiedlichen regenerativen Energieprojekte vor Ort in einer eigenen Energiegenossenschaft gebündelt werden. Die Pläne für verschiedene Formen altersgerechten Wohnens im Ortskern reifen ebenso wie diejenigen zur Entwicklung neuer, dezentraler Arbeitsplätze durch die örtliche Initiative »Inkubator für zukunftsfähiges Gründen und Arbeiten im ländlichen Raum«. Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein dauerhaftes Zuzugsinteresse unmittelbar von der Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen abhängig ist und es eines wirtschaftlichen Paradigmenwechsels bedarf, soll der Inkubator dazu dienen, niedrigschwellige, naturfreundliche und multiplizierbare Einkommensmöglichkeiten mit Postwachstums- bzw. Transition-Geist zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Idee steht eine Art »Stipendienmodell«, bei dem für einen bestimmten Zeitraum kostenlos Räume zum Arbeiten und Wohnen zur Verfügung gestellt werden, um Gründungsideen reifen zu lassen. Perspektivisch geht es der Solidargemeinschaft der Ideenwerkstatt Dorfzukunft um den Aufbau lokaler Resilienz durch die Abkehr von der Fremdversorgungswirtschaft. In absehbarer Zeit dürften der geplante Second-Hand-Markt, die Upcycling-Dorfwerkstatt sowie die Car- und Geräte-Sharing-Plattform gelingen. Überstürzt werden soll dabei nichts. Die letzte Reflexion in großer Runde erbrachte vor allem die Erkenntnis, dass sich einzelne in der Gemeinschaft nicht überfordern dürfen, weshalb man die Ideen und Prozesse künftig entspannter als bislang gedeihen lassen will. »Weniger Inhalt, mehr Feiern!« steht am Ende des Küchentischprotokolls. Auch das dürfte Rob Hopkins gefallen … •


Marion Hecht (48), vierfache Mutter und Geschäftsführerin eines Seniorenheims, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Konzepten der Permakultur und Transition-Towns. Sie ist Mitbegründerin und Moderatorin der Ideenwerkstatt Dorfzukunft.

Henning Austmann (39), dreifacher Vater und Professor an der Hochschule Hannover, lehrt und forscht an der Schnittstelle von Betriebswirtschaft und Nachhaltiger Entwicklung. Er ist Mitbegründer und Moderator der Ideenwerkstatt Dorfzukunft sowie ehrenamtlicher Geschäftsführer der gemeinwohlorientierten »Dorfzukunft Immobilien UG«.


Wandel-Ideen für Land und Stadt
www.ideenwerkstatt-dorfzukunft.de
Montag Stiftung: www.neue-nachbarschaft.de

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