Gesundheit

Lebenssatt dem Ende entgegenfasten

Vor fünf Jahren begleitete Christiane zur Nieden den ­Sterbeprozess ihrer Mutter, den diese durch freiwilligen ­Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit selbst eingeleitet hatte.von Christiane zur Nieden, erschienen in Ausgabe #36/2016
Photo

Im Alter von 88 Jahren entschied sich unsere Mutter dafür, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie litt unter keiner todbringenden Krankheit, jedoch war sie körperlich in vielerlei Hinsicht eingeschränkt, so dass sie keine Lebensperspektive mehr für sich sah. Mein Mann, von Beruf Arzt, solle ihr »einfach eine Spritze« geben. Als wir das vehement ablehnten, fragte sie mich, wie ich denn aus dem Leben scheiden würde. Ich antwortete: »Ich würde mit Essen und Trinken aufhören!«.
So begann meine Mutter am nächsten Tag den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Dazu wollte sie durch die Einnahme von Schlaftabletten die verbleibende Lebenszeit erleichtern und verkürzen. Ich war völlig entsetzt. Zwar war der Gedanke, sterben zu wollen, bei ihr seit Jahren immer wieder aufgetaucht, aber dass sie ihn tatsächlich in die Tat umsetzen würde – damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Mutter war nicht sterbenskrank; sie war einfach des Lebens müde und, wie sie es später sagte, auch »satt«. Sie meinte das so positiv wie jemand, der sagt: »Nein danke, ich möchte wirklich nichts mehr essen. Ich bin völlig gesättigt, erfüllt und reich!« Seit 27 Jahren lebte sie mit zwei künstlichen Hüft­gelenken und konnte mittlerweile kaum noch stehen, gehen, sich bücken oder etwas tragen. So kam meine Mutter immer mehr an die Grenze dessen, was ihr noch als zumutbar erschien – für sich und für ihr Umfeld. Ist ein solches Empfinden genauso gravierend wie eine todbringende Krankheit? Meine Mutter war immer eine tatkräftige Frau gewesen. Ich hätte sie gerne noch viele Jahre an meiner Seite gehabt – aber durfte ich ihren Entschluss verurteilen oder dessen Ausführung boykottieren? Ich war mir sicher, dass ich dazu kein Recht hatte, und trotzdem fiel es mir schwer, die Realität anzunehmen. Nach ihrem ersten Tag ohne Essen und Trinken fand ich sie kaum ansprechbar in ihrer Wohnung und begriff: Sie würde tatsächlich sterben – und noch dazu mit der Methode, die ich ihr am Vortag »vorgeschlagen« hatte!
Was mir am Herzen lag, war ein klärender Dialog. Ich wollte alles besprechen, meine Zweifel anbringen und letzte Lebensalter­nativen unterbreiten. Nach eineinhalb Tagen trafen wir eine Verabredung: Meine Mutter hörte auf, Schlaftabletten zu nehmen, und ich versprach ihr, sie in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten. Außerdem hatte ich inzwischen meinen Mann, meine Schwester und meine Tochter dazugeholt. Gemeinsam übernahmen wir die Begleitung und Pflege rund um die Uhr. Es wurde eine intensive, traurige und auch fröhliche Zeit – eine Zeit für tiefgehende Gespräche, Versöhnung, Danksagung, Entschuldigung und Klärung; eine Zeit der Besinnung, des In-sich-Gehens, des Weinens und Lachens, der Ruhe und des Austauschs. Da meine Mutter bereits vorher körperlich stark abgebaut hatte, vermutete sie, schnell sterben zu können; es dauerte jedoch dreizehn Tage. Diese wertvolle Zeit war so gut ausgefüllt, dass sie für alle Beteiligten scheinbar schnell verging und uns tröstlich in Erinnerung bleibt.
Meine Mutter starb in einer ruhigen, fast heiligen Atmosphäre, begleitet von meiner Tochter und mir.

Sterbefasten ist kein Verhungern
Sterben ist – wie auch die Geburt – ein hochkomplexes und gleichzeitig völlig natürliches Ereignis. Dennoch lassen sich viele Aspekte zumindest beeinflussen – beispielsweise wo und wann es stattfindet, wer dabei ist und wie harmonisch die Umgebung gestaltet ist.
Seit eh und je verweigern todkranke Menschen in der Sterbephase, die sie bewusst oder unbewusst erahnen, Essen und Trinken. Diese Menschen haben kaum Hunger und Durst. Wichtiger sind für sie menschliche Zuwendung und Nähe, oder auch nur Ruhe. Meine Mutter hat die Entscheidung, nicht mehr zu essen und zu trinken, bewusst getroffen, bevor sie wirklich sterbenskrank war. Dafür existieren in Deutschland die Begriffe »freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit« (FVNF) oder Sterbefasten. Fasten definiert sich als »willentliche, völlige oder teilweise Enthaltung von Speisen, Getränken und Genussmitteln«. Ich finde, dass der Begriff des Sterbefastens den selbstgewählten Prozess besonders gut umschreibt, da es gerade die neurophysiologischen Auswirkungen von Nahrungsrestriktion sind, die ihn zu einem nicht leichten, aber gangbaren Weg machen.
»Aber dann ist deine Mutter ja verhungert und verdurstet!« ­Einige Menschen waren entsetzt.
Es ist kein Verhungern, wenn ein Mensch sich dazu entschließt, auf Nahrung zu verzichten. Vielmehr kommt es, wie beim Heilfasten, nach ein oder zwei Tagen zu einer Endorphinausschüttung, die stimmungsaufhellende und schmerzreduzierende Auswirkungen hat. Bei meiner Mutter verschwand der Hunger, und es blieb gute Laune. Sicherlich wirken nicht die Endorphine allein, sondern auch die Akzeptanz des Umfelds und eine liebevolle Begleitung fördern eine gute Stimmung. Grundsätzlich ist es jedoch die Freiwilligkeit, die dem Entschluss zum Fasten zugrunde liegt, damit es nicht als »Verhungern« empfunden wird.
Viele Menschen können sich einen Verzicht auf Nahrung eher vorstellen als einen auf Flüssigkeit. Nicht mehr zu trinken, ist sicherlich der schwierigste Aspekt des Sterbefastens. Zu diesem Thema stellte der australische Schmerzexperte Michael Farell fest, dass der sogenannte anteriore cinguläre Cortex, eine Hirnregion, die als eine Art »Flüssigkeitsbedarfsmelder« fungiert und ihre Rezeptoren im Mundraum hat, im Alter weniger aktiv ist als bei jungen Menschen. Bereits nach geringer Wassergabe entsteht das Gefühl: »Durst gestillt«. Der menschliche Organismus besteht beim Erwachsenen zu 50 bis 60 Prozent, im Alter jedoch nur zu 40 bis 50 Prozent aus Wasser. Je jünger ein Mensch ist, desto mehr Wasser muss er zu trinken, um die Funktionstüchtigkeit des Körpers aufrechtzuerhalten, und so hat er mehr Durstgefühl.
Indem ein sterbefastender Mensch die Menge der Flüssigkeitszufuhr selbst bestimmt, kann er damit Einfluss auf die Dauer des Prozesses nehmen. Eine kontinuierlich angebotene Mund­befeuchtung ist deshalb das A und O einer guten Begleitung. Hilfreich auch in Hinblick auf das Durstgefühl ist die Anwesenheit von liebevollen Menschen, die sich mit der sterbewilligen Person beschäftigen, sie dabei unterstützen, noch ungeklärte Dinge zu erledigen und sich von geliebten Menschen zu verabschieden, denn diese Aktivitäten lenken vom Durst ab. Wenn viel gesprochen wird, reicht oft ein Hub aus einer Wassersprühflasche, um bei Mund­trockenheit Abhilfe zu schaffen.

Rechtliche Rahmenbedingungen
Der Prozess des Sterbefastens an sich ist ein ganz natürlicher Sterbeakt. Der sterbebereite Mensch entschließt sich, seinem Lebensmotor keine Energiezufuhr mehr zu gewähren. Das hat eine fortlaufende Schwächung des Körpers zur Folge. Der Tod selbst ereignet sich durch den Flüssigkeitsverzicht. Es kommt zu einem Nierenversagen, das sich in einer zunehmenden Schläfrigkeit zeigt, bis der sterbewillige Mensch in den Tod hineinschläft. Es gibt kein aktives Hinzutun dabei; das Sterben geschieht allein durch freiwilligen Verzicht.
Bislang ist Sterbefasten in Deutschland nur wenig bekannt. Aus rechtlicher Sicht wird es als Suizid eingestuft. Dieser Tatsache müssen die begleitenden Menschen Rechnung tragen, um nicht wegen fahrlässiger Tötung oder unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden. Eine juristische Absicherung beinhaltet verschiedene ­Aspekte, wie eine Patientenverfügung mit einer Zusatzerklärung zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit und eine Bestätigung der Freiverantwortlichkeit des Sterbewilligen durch einen Psychiater, falls im Vorfeld eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde. Der Sterbewillige muss weiterhin für jeden Begleiter eine »Modifizierung der Garantenpflicht« erstellen, mit der er ihn von der Verantwortung, ihn im Sterben zu retten, entlastet. Somit müssen die Begleiter im Fall der Bewusstlosigkeit des Sterbewilligen nicht helfend eingreifen, sondern werden vielmehr zu »­Garanten seines selbstbestimmten Sterbens«.
Auch eine ärztliche Begleitung beim Sterbefasten ist nicht da­rauf ausgerichtet, den Tod herbeizuführen, sondern nur darauf, eventuelles Leiden zu lindern; dies wird nicht als strafbar bewertet.
Freiwilligkeit hinterfragen und akzeptieren
Ein wesentliches Merkmal des Sterbefastens ist, dass die sterbewillige Person viel Zeit hat, um sich noch anders zu entscheiden und doch wieder zu essen oder zu trinken, denn das Nierenversagen tritt erst kurz vor dem Tod ein.
Auch bei meiner Mutter haben wir in den ersten Tagen noch mit Engelszungen versucht, sie zur Rückkehr ins Leben umzustimmen. Der Wunsch zu sterben und die verzweifelte Sehnsucht danach, weiterzuleben, liegen sehr nah beieinander. Dieses meine ich auch im Verhalten meiner Mutter beobachtet zu haben, als sie ­einer Nachbarin von ihrem unerfüllbaren Wunsch, weiterzuleben, erzählte. Dennoch war sie sich ihres Entschlusses zu sterben vollständig sicher. Ich empfinde großen Respekt ihr gegenüber, denn diese Art zu sterben erfordert einen starken Durchhaltewillen.
Ich selbst war in den ersten Wochen nach dem Tod meiner Mutter unschlüssig darüber, wie ich ihr Sterben »bewerten« sollte. Hat ein alter Mensch das Recht, selbstbestimmt über sein Lebensende zu entscheiden – und wann beginnt dieses Alter?
Als Arzt betrachtet mein Mann das Sterbefasten als eine ganz eigene Handlungsweise, die von einem Suizid abzugrenzen sei, da sie nur durch Unterlassen geschehe.
Im Lauf der Zeit habe ich Frieden damit geschlossen. Ich bin immer noch der Ansicht, dass meine Mutter in suizidaler Absicht gehandelt hat. Auch ich möchte mir im Alter das Recht auf diese Entscheidung offenhalten. Wir alle haben die Zeit, in der wir unsere Mutter und Oma begleitet haben, als ausgesprochen wertvoll empfunden. Es gibt jedoch Fragen, die bis heute nachwirken: Haben wir wirklich alles Erdenkliche versucht, um sie von diesem vorzeitigen Sterben abzuhalten? Haben wir trotz unserer Fürsorge zu Lebzeiten nicht viel zu wenig für sie getan? Hätte sie ihre Gebrechen als weniger belastend empfunden, wenn sie noch besser in unsere Familie eingebettet gewesen wäre?
Hat man die Pflicht, Leiden anzunehmen und auszuhalten – und wenn ja, bis zu welchem Punkt? Die Lebenserwartung ist – zumindest in den reichen Industriestaaten – aufgrund medizinischer Errungenschaften deutlich angestiegen. Wird damit aber der körpereigenen Intelligenz nicht auch manche Möglichkeit genommen, einen Lebensbogen zu einem natürlichen Ende zu führen?
In der aktuellen öffentlichen Diskussion um das Thema Sterbehilfe wird häufig argumentiert, dass die Möglichkeit, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, die Gefahr eines »Dammbruchs« in sich trage, indem alte, gebrechliche Menschen unter Druck geraten könnten, sich das Leben zu nehmen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Wir machen in unserer Arbeit eine ganz andere Erfahrung. Seit zwei Jahren betreibe ich mit meinem Mann zusammen eine kleine Internetplattform, auf der wir über die Möglichkeit des Sterbefastens informieren. Von denen, die bei uns Rat gesucht haben, ist bisher niemand den Weg des Sterbefastens bis zum Ende gegangen. Alle wollen lieber leben, und allein das Wissen um die Möglichkeit eines selbstbestimmten Sterbewegs gibt ihnen Mut und Kraft dazu. Daher halte ich solche Aufklärungsangebote für wichtig – sie sind vielmehr eine Lebens- als eine Sterbeberatung.
Würde sich eine menschenwürdige Gesellschaft nicht dadurch auszeichnen, dass sie liebevoll mit denen umgeht, die umsorgt werden müssen, und sie nicht als Last empfindet? Warum fällt den meisten Menschen das Geben so viel leichter als das Nehmen? ­Ziehen die Begleitenden nicht auch viele Erkenntnisse aus der Fürsorge? Ich hätte meine Mutter gerne gepflegt, auch wenn ich mein Leben dafür hätte umkrempeln müssen. Aber für mich selbst würde ich die Option, von meiner Tochter gepflegt zu werden, rigoros ablehnen. Ich frage mich in dieser Hinsicht, ob es nicht eine meiner großen Schwächen ist, dass ich insgesamt in meinem Leben lieber gebe als nehme – und diese Frage kann wohl nur jeder und jede für sich beantworten. •


Christiane zur Nieden (62) ist seit 25 Jahren in der Hospizbewegung aktiv. Seit 2004 ist sie Heilpraktikerin für Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Trauerbegleitung.

Beratung zum sensiblen Thema
www.sterbefasten.com

weitere Artikel aus Ausgabe #36

Photo
von Lara Mallien

Das Sonnenhaus

Aus ökonomischer und ökologischer Sicht wäre es am sinnvollsten, Häuser so zu bauen, dass sie keine ­Heizung benötigen – ein Gedanke, der Werner Schmidt seit seinem Architekturstudium nicht mehr losließ.

Photo
von Elena Ball

Schiff in der Sonne

Zum ersten Mal wird in Deutschland ein »Earthship« gebaut. So ein Erdschiff-Haus besteht größtenteils aus recyceltem Material und ermöglicht seinen Bewohnern durch spezielle Bauweisen ein weitgehend autarkes Leben. Der Gemeinschaft Schloss Tempelhof im Hohenloher Land

Photo
Bildungvon Julian Mohsennia

Vertrauen bilden

Freilerner-Porträt – Folge 2
Was erleben junge Menschen, die mit Hilfe ihrer Familien ihre Bildung jenseits von Schule organisieren? Oya-Autor Alex Capistran hat eine Reihe von Freilernerinnen und Freilernern eingeladen, ihre Geschichte zu erzählen.

Ausgabe #36
Enkeltauglich Bauen

Cover OYA-Ausgabe 36
Neuigkeiten aus der Redaktion