Bildung

Ich hatte die Wahl

Chalina Rempf, 22, angehende Maßschneiderin, verließ mit 13 Jahren die Schule.von Chalina Rempf, erschienen in Ausgabe #35/2015
Photo

Ich bin erst ziemlich spät zur Freilernerin geworden. Meine ersten Schuljahre habe ich auf verschiedenen Schulen in Hamburg verbracht. Schon in den ersten Tagen habe ich festgestellt, dass der Schulunterricht wenig mit mir zu tun hatte: Ich empfand es als unsinnig, das »A« zu lernen, denn das konnte ich schon – schließlich kommt es in meinem Namen vor.

Nach der Grundschulzeit kam ich auf eine der ersten Reformschulen in Hamburg. Irgendwann begannen die sozialen Konflikte unter den Schülerinnen und Schülern, die einschränkenden Vorgaben und der Lärmpegel mich zunehmend zu deprimieren. Immer wieder habe ich mir dort erkämpft, mich statt mit dem vorgesehenen Lernstoff mit Themen zu beschäftigen, die mich wirklich interessierten – aber das wurde immer anstrengender. Außerdem fühlte ich mich nicht darin unterstützt, herauszufinden, wo meine Potenziale liegen. Als ich 13 war, beschlossen meine Mutter und ich gemeinsam, dass ich von der Schule ging. Meine kleine Schwester, die zu diesem Zeitpunkt erst anderthalb Jahre in der Schule verbracht hatte, wollte auch mit freilernen. In dieser Umbruchzeit sind wir von Hamburg ins Wendland gezogen und haben viele Reisen unternommen. Gerade Aspekte des sozialen Miteinanders lernte ich durch das Reisen viel besser kennen als zu Schulzeiten; wir besuchten viele unterschiedliche Menschen und auch Freilerner­treffen in Frankreich und Schweden.
In Schweden sind wir dann geblieben und haben offiziell »Homeschooling« praktiziert. Der Staat gab uns die Erlaubnis zum Hausunterricht. Mittlerweile ist das in diesem Land leider verboten worden. Zweimal im Jahr kamen Lehrer von der örtlichen Schule vorbei und haben beobachtet, was und wie wir lernten. Zum Glück haben sie nie irgendwelchen Druck ausgeübt. Einmal mussten wir eine staatliche Prüfung schrei­ben – in den Klassen 3, 6 und 9 ist das für alle Schüler Schwedens vorgeschrieben. Es gab eine Version für Einwanderer und eine für Einheimische. Mein Schwedisch war gut, und so habe ich sogar die Prüfung für Einheimische bestanden – allerdings abgesehen von Mathematik.
Im Alltag hatten wir keine festen Unterrichtszeiten, sondern lernten in selbstgewählten Projekten. Wenn unser Vater zum Beispiel eine Wand im Haus versetzt hat, waren wir dabei und haben uns mit Statik beschäftigt. Das Lernen hatte viel mit dem täglichen Leben zu tun. Für die Behörden war das Wichtigste, dass wir am sozialen Leben teilnehmen konnten und möglichst schnell Schwedisch lernten. Das hat gut geklappt, und so waren alle zufrieden. In unserem Dorf wohnten viele Kinder, die nur teilweise oder, so wie wir, gar nicht zur Schule gingen, so dass wir immer viele Kontakte zu anderen hatten – vormittags wie nachmittags.
Als ich 18 Jahre alt war, kehrten wir wieder nach ­Deutschland zurück, und da ich nun offiziell als erwachsen galt, war die Schulpflicht kein Thema mehr. Damals wollte ich gerne eine Ausbildung zur Maßschneiderin beginnen. Bei der nächstgelegenen Berufsschule waren die Leute sehr unfreundlich, als sie hörten, dass ich keinen Schulabschluss hatte. Allerdings hatte ich bei der »Clonlara School« in den USA Kurse im Fernstudium absolviert und dafür auch ein Zeugnis bekommen, mit dem ich bei einer anderen Berufs­schule angenommen wurde. Das hat diese wohl nicht bereut, denn heute, nach einem Jahr, habe ich nur Einser im Zeugnis.
Für mich war die Freilernerzeit sehr wichtig – ich konnte in diesen Jahren herausfinden, wer ich überhaupt bin. Genau das wird einem in der Schule meiner Erfahrung nach abtrainiert. Mir ging es darum, mich in Ruhe der Frage zu widmen, was ich mit meinem Leben anfangen will und welchen Beruf ich ergreifen möchte. Dafür lässt einem die Schule kaum Zeit. Bei vielen, die Abitur gemacht haben, beobachte ich, dass sie überhaupt nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Was kann ich den ganzen Tag tun, ohne daran den Spaß zu verlieren? Darauf eine Antwort zu finden, braucht einfach Zeit und Raum. Es tut gut, die Wahl zu haben, ob man in einer Schule oder zu Hause lernt. Ich kannte beides und konnte mich selbst entscheiden. • 

www.septembertreffen.de

weitere Artikel aus Ausgabe #35

Photo
von Elisabeth Voß

Bodentiefe Fenster (Buchbesprechung)

Der Roman »Bodentiefe Fenster« spielt im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, der seit den Nachwendejah- ren eine beispiellose Gentrifizierung erfahren hat. Mit Mann und zwei Kindern lebt die Ich-Erzählerin Sandra in einem genossenschaftlichen Hausprojekt mit lauter furchtbar netten

Photo
Die Kraft der Visionvon Wendell Berry

Klarstellungen

Lass mich ehrlich zu dir sein, lieber Leser.Ich bin ein altmodischer Mensch. Ich magdie Welt der Natur, trotz ihrer tödlichenGefahren. Ich mag die häusliche Weltder Menschen, solange sie ihre Schuldenbei der natürlichen Welt bezahlt und sich in Grenzen hält.Ich mag das

Photo
von Lara Mallien

Vom Wald und seiner Dauer

Der deutsche Wald ist, genau genommen, eine riesige Holzproduktionsplantage. Doch es gibt andere Sichtweisen auf das Wesen der Bäume in ihrem angestammten Biotop.

Ausgabe #35
Vom Wert des Lebendigen

Cover OYA-Ausgabe 35
Neuigkeiten aus der Redaktion