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Autobiographie der Nacht (Buchbesprechung)

von Rüdiger Sünner, erschienen in Ausgabe #35/2015
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Was sind Träume? Die wissenschaftliche Traum­forschung sieht in ihnen vernachlässigbare Abfall­produkte unseres Gehirns oder dessen Versuche einer spielerischen Problembewältigung. Anders geprägte Menschen würden sagen, es sind Botschaften aus übersinnlichen Bereichen oder aus einem »kollektiven Unbewussten« im Sinn C. G. Jungs.
Der Ulmer Traum- und Mythenforscher Martin Spura tendiert zu letzterer Deutung, aber ohne jede Form von esoterischer Schwärmerei. Gleich auf den ersten Seiten seines Buchs »Autobiographie der Nacht – Ein Traumbuch« macht er klar, dass seine seit 20 Jahren betriebene Auseinandersetzung mit 7000 Träumen aus Leid und Not erfolgte.
Die ersten Träume kamen ihm nach einer schwierigen Kindheit und Jugend wie ein Ariadnefaden zur Hilfe, um Licht in das dunkle Labyrinth seiner inneren Biografie zu bringen. Aufgewachsen in einer zerbrochenen Ehe, mit einem alkoholkranken Vater, einem Großvater, der mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, mit depressiven, psychotischen Familienmitgliedern, vielen Hänseleien in Schule und Freizeit, erfährt Martin Spura die Wucht der nächtlichen Bilderwelten als Herausforderung und Befreiung. Nicht nur enthüllen ihm die Träume ein schöpferisches Innenleben jenseits der verhärteten Herzen seiner Umgebung, sondern er entdeckt über viele mythologische Motive auch den Anschluss an eine transpersonale Sphäre, die ihm signalisiert: Du bist nicht allein, sondern verbunden mit einer transmateriellen Welt, von der du dich angezogen fühlst wie von einer fremden, noch unbekannten Heimat.
Es beginnt eine Art Eigentherapie, die anhand der inneren Bilder Spannungen, Konflikte, verborgene Ängste und Sehnsüchte zu entziffern versucht. Schonungslos gibt der Autor intimste Erkenntnisse preis und ringt in berührender Intensität um Sinnstiftung inmitten eines oft dunklen Labyrinths. Das geht bis hinein in Verstrickungen mit der unaufgearbeiteten Familiengeschichte, wodurch das Buch auch eine politische Dimension bekommt. Spuras Großvater Karl Alberts war ein Pfarrer und Schriftsteller, der im ­sogenannten Dritten Reich der Ideologie eines »arischen Christentums« anhing. Statt dessen Verirrungen aufzuarbeiten, verklärte seine Familie ihn als Lichtgestalt. So wie der Großvater im Nationalsozialismus die »Finsternis« der »arteigenen Feinde« bekämpfte, fuhr er nach 1945 ohne eine Spur von Selbstkritik mit neuen Geistesfeldzügen fort. Jetzt waren es plötzlich die Nazis, die von der lichten Liebeskraft der Christen überwältigt werden mussten. Spura wurde als Kind früh in die Rolle des Fortsetzers solcher Schwarzeiß-Ideologien gesteckt: der lichte, sanftmütige »Mutter-Ritter«, der alles verstehen, verzeihen, sich selbst immer zugunsten höherer Ideale opfern muss.
Ein enges Korsett bürgerlicher Verhaltensregeln und Moralvorstellungen schnürte ihn ein, das erst durch die Kraft der Träume gesprengt wurde. Diese lehrten ihn auch die archaische, entfesselte, »heidnische« Seite seiner selbst und des Lebens: dunkle Verführungen, sexuelle Obsessionen, Gewaltfantasien, das schillernde Reich von phallischen Göttern und ekstatischen Naturgewalten, die Dämmerzone zwischen gut und böse, hell und dunkel, Vernunft und Abgrund. Viele Träume handeln auch von der grenzüberschreitenden Kraft des Wassers: Flüsse, Strömungen, Riesenwellen, unterirdisch weiterfließende Rinnsale signalisieren, dass unter scheinbar Festem noch Flüssiges lebt, das einen zu neuen Ufern treiben kann. Der Autor erfährt darin die beglückende Kraft von Transformation und Metamorphose.
Der mit Träumen und Mythen wenig bewanderte Leser mag sich vielleicht manches Mal fragen: Wann bricht endlich der Tag an in diesem Dämmerreich, und was lernt der Autor aus all diesen verschlungenen »Nachtmeerfahrten«? Doch es gibt immer wieder erlösende Bezüge zur taghellen Gegenwart: partielle Versöhnungen mit der Familie, produktive Kämpfe mit einer Psychotherapeutin, die keine mythenselige Jungianerin ist, präzise Beschreibungen der eigenen Beziehungen und schließlich die Geburt der Tochter. Gerade in diesen anrührenden Zeilen über die Persönlichkeit des zugleich zarten und sehr lebhaften Kinds geht die Sonne über Spuras Nachtfahrten auf. Es ist, als ob mit dem feurigen Temperament der kleinen Noreia das ganze glühende Magma der Nachtträume ins volle Leben schwappt: als Kraft, Herausforderung, irdisches Geheimnis, Lebensaufgabe, in der nun viele der Traumeinsichten zum Zug kommen können. So endet das Buch nach Abstiegen in schwärzeste Abgründe doch mit einem Auftauchen der Nachtbarke in helle, kraftspendende Bereiche, die dem Leser das Gefühl geben, an einer zeitgemäßen und produktiven Odyssee teilgenommen zu haben.
Die Aufarbeitung der starken Bilder in Spuras Autobiografie der Nacht ist ein therapeutischer Kraftakt sondergleichen. Für alle, die eine intensive Auseinandersetzung mit ihren Träumen suchen, hält die Lektüre dieses Buchs ein heilerisches Potenzial bereit. 

Autobiographie der Nacht
Ein Traumbuch.
Martin Spura
Königshausen und Neumann, 2015
288 Seiten
ISBN 978-3826057809
24,80 Euro

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