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Schwarze Sonne (Buchbesprechung)

von Gandalf Lipinski, erschienen in Ausgabe #3/2010
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Was haben wir als aufgeklärte und politisch engagierte Menschen von heute mit einem Buch über Esoterik, Spiritualität und Rituale zu tun? Ach ja, die Nazis sollen damit zu tun gehabt haben. Der eine oder die andere mag geneigt sein, diesen Umstand eher als marginalen oder bizarren Schnörkel einer durch zahlreiche grausame Hardfacts ja mittlerweile sattsam bekannten Vergangenheit abzutun. Dem ist mitnichten so. Wer meint, die geistigen Aspekte des Nationalsozialismus zur Nebensache erklären zu können, ignoriert leider den fatalen Schatten, den diese Phase deutscher Geschichte bis heute auf alle Ansätze wirft, Politik ganzheitlicher und selbstbestimmter zu gestalten. Wichtiger als die Nebensache, ob wir uns persönlich für Spiritualität interessieren oder nicht, wiegt der Umstand, dass es in kaum einem Land so erschwert ist wie in Deutschland, den Zusammenhang zwischen Politik, ganzheitlichem Bewusstsein, Ge- meinschaft und Ritualen tiefer zu durchschauen.
Im Gegensatz zu den historisch-politischen, den ökonomischen und sexualenergetischen Ansätzen, die Entstehung und den »Erfolg« der speziellen deut- schen Variante des Faschismus zu verstehen, steckt die geistesgeschichtliche Aufarbeitung seines spiritu- ellen Kerns noch in den Kinderschuhen.
Dabei ist sie gerade heute notwendiger denn je. Denn alle Ansätze aus dem kulturkreativen Spektrum, speziell Spiritualität und Politik wieder im Zusammenhang zu denken, provozieren in Deutschland das grundsätzliche Misstrauen, vor allem aus dem seriös-wissenschaftlich-linken Milieu, quasi als automatischen Reflex. Wer Rüdiger Sünners »Schwarze Sonne« liest und den dem Buch als DVD beigegebenen gleichnamigen Dokumentarfilm sieht, beginnt auch zu verstehen, warum das so ist.
Mit großer Detailkenntnis, einem seltenen Differenzierungsvermögen und angereichert mit einigem authentischem Erfahrungsreichtum macht Sünner sehr schnell klar, wie eine undifferenzierte Tabuierung esoterischer und mythischer Themen das Gegenteil von dem bewirkt, was sich die aufgeklärten Verdränger erhoffen. Wenn wir beispielsweise den Gralsmythos, Parzival oder die Sonnenmysterien der alteuropäischen Megalithzeit auf Dauer für »unberührbar« erklären, berauben wir uns kulturell selbst.
Die detailgetreue Beschreibung des Missbrauchs der mythischen Seelenebene durch den National- sozialismus gehört somit zur unabdingbaren Grundausstattung all derer, denen »spirituelle Politik« heute am Herzen liegt. Es gibt auch heute noch Kräfte und Gruppen, die Esoterik und Mythen im Hitler’schen Sinn pervertieren. Aber es sind wenige, und wir sollten sie und ihre speziellen Ausdrucksformen kennen, um nicht erneut das Kind mit dem Bade auszuschütten und uns vom großen Reichtum unserer geistig-seelischen Tiefendimensionen selbst abzuschneiden. Wir brauchen diesen Kontakt, auch aus politischen Gründen: »Die modernen Massen, die der geistigen und geistlichen Kultur beraubt seien, stünden der Religion unwissender und ›barbarischer‹ gegenüber als die polynesischen Völker mit ihren Riten und Hexen. Wenn der religiöse Hunger ... erwacht, so geben sie sich womöglich mit dem Gröbsten zufrieden.« (Sünner zitiert den Kulturphilosophen Rougement aus den 1930er Jahren.)
In der Tat war es ein nicht zu unbedeutender Aspekt, der den Aufstieg Hitlers begünstigte, dass die Linke sich in der ideologischen Auseinandersetzung auf die vornehmlich aufklärerisch-rationale Ebene beschränkte und damit die geistig-seelische Tiefen- dimension der Rechten überließ. Wir tragen sie in uns, diese Gefühle und Sehnsüchte, die etwas zu tun haben mit Lagerfeuerromantik, rituellem Gemein- schaftserleben, der Überschreitung allzu enger Ich- Grenzen und der Verschmelzung mit dem Größeren.
Mehr noch als im Buch macht Sünner in seinem Film Kontakt mit diesen, manchmal heimlichen oder irrationalen Sehnsüchten. Er hat Jahreskreisrituale im neoheidnischen Kontext erlebt und kennt die »mythologische Heimatlosigkeit« speziell der Deutschen. So sind wir hier eher bereit, naturreligöse Dimensionen im Rahmen indianischer oder anderer außereuropäischer Traditionen zu suchen als in der eigenen Geschichte – vielleicht mal gerade noch im keltischen, aber wohl kaum im germanischen Zusammenhang.
Und immer wieder fordert Sünner ein genaueres Hinschauen. Die Mythen des alten Europas haben nicht automatisch zum Nationalsozialismus geführt. Genauso wenig wie die gesellschaftliche Fundamen- talkritik der Lebensreformbewegung gegenüber dem Kapitalismus automatisch zu Hitler führte. Hier sind wir dicht an des Pudels Kern.
Sowohl die Gesellschaftskritik der Lebensreformer als auch die Kraft und Verbindung, die wir in Mythen und Ritualen finden können, sind zuallererst positive und lebensdienliche Werte. Erst ihre bewusste Instrumentalisierung und Pervertierung durch eine konse- quente und demagogische rechte Ideologie haben sie zu vergifteten Waffen im Kampf um die Herzen und Hirne gemacht.
Sünners Buch und Film sind politische Schulung vom Allerfeinsten. Wer die Lektion verinnerlicht, ist weniger denn je bereit, sich von demagogischen Sündenbockideologien blenden zu lassen.

Schwarze Sonne
Die Macht der Mythen und ihr Missbrauch in Nationalsozialismus und rechter Esoterik;
Rüdiger Sünner
Drachen Verlag, 2009
250 Seiten mit 90-minütigem Dokumentarfilm auf DVD

ISBN 978-3927369443
38,00 Euro

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