Die Kraft der Vision

Bildung der Zukunft

Die Zwangsbeschulung ist überholt: Bildung braucht Freiheit.von Peter Gray, erschienen in Ausgabe #34/2015
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Was die Zukunft der Bildung angeht, bin ich optimistisch. Ich bin zuversichtlich, dass wir als Kultur wieder zu Sinnen kommen und unseren Kindern die Freiheit zurückgeben werden, die Kontrolle über ihr eigenes Lernen zu übernehmen, damit Lernen als integraler Bestandteil des Lebens wieder eine freudvolle, aufregende Angelegenheit wird, keine deprimierende und angstvolle Mühsal.
Mein Optimismus rührt gewiss nicht von den etablierten Bildungsinsti­tutionen her. Dieses Establishment samt den dazugehörigen pädagogischen Fakultäten, der Schulbuch- und Prüfungsindustrie sowie den Lehrer- und Schulleiterverbänden ist so stark in Eigeninteressen und im Status quo verhaftet, dass es allenfalls dazu in der Lage ist, die immer gleichen Forderungen zu stellen: Wenn sich mal wieder herausstellt, dass Kinder in der Schule nicht viel von dem Unterrichteten lernen, hört man aus jener Richtung die lautstarke Forderung nach längeren Schultagen und mehr Hausaufgaben. Wenn 200 Stunden Unterricht in einem bestimmten Fach nicht reichen, wird vorgeschlagen, es mit 400 Stunden zu versuchen. Wenn die Kinder in der ersten Klasse nicht lernen, was ihnen beigebracht wird, dann sollten wir bereits in der Vorschule damit anfangen – und wenn sie es in der Vorschule nicht lernen, dann müssen wir eben im Kindergarten damit beginnen! Wenn Kinder über die Sommer­ferien das Wenige vergessen, was sie übers Schuljahr gelernt haben, dann sollten wir eben die Sommerferien abschaffen – und damit ihre Gelegenheiten zu einem Leben außerhalb von Schule weiter einschränken.
Fast alle, die im Bildungsbereich tätig sind, wünschen sich »Reformen« und erkennen damit implizit an, dass das gegenwärtige System nicht funktioniert. Das ist seit Beginn der Schulpflicht der Fall. Die einen wollen das System verändern, indem sie ihm einen Schubs in die eine Richtung geben (ein bisschen mehr Wahlfreiheit, ein bisschen weniger Leistungskontrolle), während andere es durch einen Schubs in die andere Richtung verändern wollen (ein noch standardisierterer Lehrplan und rigorosere Leistungskontrollen). Dies ist Gegenstand zahlloser Bücher und Artikel, die von Pädagogikprofessoren verfasst werden. Niemand im Bildungs-Establishment ist hingegen bereit, zuzugeben, dass Zwangsbeschulung gerade deshalb nicht funktioniert, weil sie auf Zwang basiert, und dass die einzig sinnvolle Reform darin besteht, Kindern die Verantwortung für ihr eigenes Lernen zurückzugeben.

Die Tage des Schulzwangs sind gezählt
Mein Optimismus gründet sich stattdessen auf das, was außerhalb der etablierten Bildungsinstitutionen passiert. Mich ermutigt der immer größer werdende Strom derer, die der Zwangsbeschulung den Rücken kehren und sich dem entspannten Homeschooling, Freilernen, Freien Schulen nach dem Modell der »Sudbury Valley School« oder anderen Bildungsformen zuwenden, die Kindern die Kontrolle über ihr Lernen überlassen. Je repressiver das Schul­system wird, desto stärker wenden sich Menschen davon ab – und das ist gut so.
Die Schulflucht wird auch durch die IT-Revolution begünstigt. Heutzutage hat jeder, der sich Zugang zum Internet verschaffen kann, Zugriff auf das gesamte Wissen und alle Ideen der Welt, die erfreulich geordnet und durch intuitive Suchmaschinen einfach auffindbar sind. Für fast alles, was man machen möchte, findet man Anleitungen im Internet. Für fast jede Idee, über die man nachdenken möchte, findet man Argumente und Gegenargumente und kann sich sogar an einschlägigen Diskussionen beteiligen. Das ist der intellektuellen Entwicklung weit zuträglicher als die vorgegebenen Lösungswege des Regelschulsystems. Weil die Vorstellung, man müsse zur Schule gehen, um etwas zu lernen oder kritisches Denken zu kultivieren, aus Sicht von Kindern, die wissen, wie man im Internet recherchiert, schlicht lächerlich ist, wird es schwerer und schwerer, eine Beschulung von oben herab zu rechtfertigen. Und da textbasierte elektronische Kommunikation beinahe so alltäglich wird wie mündliche Kommunikation, lernen immer mehr Kinder noch vor der Einschulung selbst Lesen und Schreiben, was wiederum die Eltern veranlasst, die Notwendigkeit der Zwangsbeschulung infragezustellen.
Ich sage voraus, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft einen Wendepunkt erreichen werden. Jeder wird dann wenigstens eine Person kennen, die ohne Regelbeschulung aufgewachsen ist und im Leben wunderbar zurechtkommt. Ganz normale Menschen werden fordern, dass Gesetze geändert werden, die den Schulbesuch verpflichtend machen oder die vorschreiben, wie Schule auszusehen habe. Dies wird es immer mehr Menschen ermöglichen, das System der Zwangsbeschulung ohne all die juristischen Verrenkungen zu verlassen, die dieser Schritt derzeit noch erfordert und die viele davon abhalten, den Schritt überhaupt zu wagen.
Wie bei allen großen gesellschaftlichen Veränderungen liegt der Schlüssel in der Vorstellung davon, was normal und was nicht normal sei. Vor nicht allzu vielen Jahren wurde es von fast allen als abnormal betrachtet, homosexuell zu sein – als Sünde und Krankheit, je nachdem, ob man eher religiösen oder weltlichen Betrachtungsweisen zugeneigt war. Es gibt immer noch Menschen, die das so sehen, aber nur wenige von ihnen sind jünger als dreißig Jahre. Die Maßstäbe haben sich verändert. Homosexualität wird heute größtenteils als ein normaler Bestandteil des Spektrums menschlicher Vielfalt betrachtet, genau wie auch Linkshänder nicht mehr für abnormal gehalten werden. Diese Veränderungen sind deshalb geschehen, weil einige mutige Homosexuelle den Sprung ins kalte Wasser gewagt haben und durch ihr Coming-out den Stolz auf ihre sexuelle Orientierung zum Ausdruck brachten. Da im Lauf der Zeit mehr und mehr Menschen entdeckten, dass einige ihrer geschätzten Freunde und Verwandten wie auch auch einige gesellschaft­liche Idole homosexuell sind, wurde es immer schwieriger, Homo­sexualität zu verdammen oder als Krankheit zu bezeichnen.

Menschen streben nach Freiheit und Selbstbestimmung
An dieser Stelle gibt es eine Analogie zu dem, was meiner Ansicht nach im Bildungsbereich passieren wird. Je mehr Menschen auf Erwachsene treffen, die sich selbst oder ihre Kinder nicht dem Schulzwang unterstellten, desto schwieriger wird es, diese Entscheidung für abwegig zu halten. Und noch eine weitere Kraft ist hier am Werk: der natürliche menschliche Drang zu Freiheit und Selbstbestimmung. Aus der Geschichte wissen wir, dass Menschen sich für Freiheit entscheiden, wenn ihnen diese Alternative umsetzbar erscheint. Wenn Erwachsene feststellen, dass Zwangs­beschulung für den Erfolg in ihrer Kultur nicht notwendig ist, werden sie es zunehmend schwierig finden, sich gegen die Freiheit ihrer Kinder zu entscheiden, und auch die Kinder selbst werden diese Freiheit einfordern. Kinder werden nicht länger das Argument hinnehmen, sie müssten in den sauren Apfel der Beschulung beißen, weil diese notwendig oder gut für sie sei. Sobald mehr Menschen das Zwangsschulsystem verlassen, wird ein nennenswerter Teil der Wahlberechtigten die Forderung erheben, dass ein Teil der staatlichen Bildungsausgaben künftig zur Unterstützung selbstbestimmten Lernens verwendet werden solle – also um Bildungsmöglichkeiten anstatt Schulzwang zu finanzieren. Stellen Sie sich einmal vor, was man mit nur einem Bruchteil der etwa 600 Milliar­den Dollar an Steuergeldern tun könnte, die gegenwärtig in den USA pro Jahr für Zwangsbeschulung ausgegeben werden!
Als Gesellschaft haben wir in der Tat die Verpflichtung, jedem Kind unabhängig von familiärem Hintergrund oder Einkommen reichhaltige Bildungsmöglichkeiten zu bieten. Es gibt viele Wege, dies zu tun. Eine Möglichkeit wäre ein System von Schulen, deren Besuch auf Freiwilligkeit, nicht auf Zwang basiert – vielleicht nach dem Vorbild der Sudbury Valley School –, wo die Kinder in einer Umgebung spielen, forschen und lernen könnten, die ihrer gesunden ­intellektuellen, körperlichen und moralischen Entwicklung zuträglich wäre. Pro Schüler kosten solche Schulen nur die Hälfte dessen, was wir gegenwärtig für Zwangsbeschulung ausgeben – das brächte große Einsparungen für die öffentliche Hand mit sich.

Bildung befreien, Lernorte bilden!
Eine andere Möglichkeit wäre ein System gemeinschaftlicher Lernorte, die allen ohne Eintrittsgeld offenstünden. Stellen Sie sich einen Ort in ihrer Nachbarschaft vor, in dem Kinder und auch Erwachsene spielen, forschen, lernen und neue Freunde kennen­lernen könnten. Computer, Material zur künstlerischen und sportlichen Betätigung sowie wissenschaftliche Gerätschaften stünden zum Spielen bereit. Menschen aus der Umgebung würden Kurse anbieten, etwa in Musik, bildender Kunst, Sport, Mathematik, Fremdsprachen, Kochen, Unternehmensführung, Buchhaltung oder anderen Dingen, die Menschen für amüsant, interessant oder wichtig genug halten, um sie sich in strukturierter Form anzueignen. Es gäbe keine Pflichtkurse, keine Noten, keine Einstufungen oder Vergleiche zwischen Menschen. Örtliche Theater- und Musikgruppen könnten dort auftreten, und Menschen jeden Alters könnten sich gemäß ihren jeweiligen Interessen zu neuen Lerngruppen zusammenschließen. Es gäbe eine Sporthalle zum Drinnenspiel und, je nach Möglichkeit, Felder und Wälder für das Spielen und Forschen an der frischen Luft. Kinder würden nicht deshalb an den Lernort kommen, weil sie müssen, sondern weil dort ihre Freunde sind und es dort so viele spannende Dinge zu tun gibt.
Die Geschicke eines solchen Lernorts könnten von allen, die ihm beitreten und ihn nutzen, im Stil einer Gemeinschaftsversammlung demokratisch mitbestimmt werden. Der Preis für die Teilnahme am Lernort wäre die Bereitschaft, die Regeln einzuhalten, und vielleicht auch die Bereitschaft, kleinere Aufgaben für seinen Betrieb zu übernehmen. Kinder wären genau wie Erwachsene stimmberechtigt. All dies könnte zu einem Bruchteil der Kosten geschehen, die gegenwärtig für die Zwangsbeschulung anfallen.
Ich kann nur vermuten, was an die Stelle der Zwangsschule treten mag. Der Niedergang der Schulpflicht und der Aufstieg freier Bildungsmöglichkeiten wird allmählich erfolgen, auf lange Sicht jedoch wird das System der Zwangsbeschulung schwinden. Wir werden dann erleben, wie die Epidemie der Angst, der Depression und der gefühlten Hilflosigkeit, unter der so viele junge Menschen heute leiden, verschwindet und die Fähigkeit der Kinder zur Selbstbestimmung wiederhergestellt und ihrem Wunsch nach Lernen in Freiheit Rechnung getragen wird. •


Bearbeitete Fassung aus: »Befreit lernen. Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt«, übersetzt von Johannes Terwitte, Drachen ­Verlag, 2015. Die deutsche Übersetzung von Peter Grays Buch kann hier bestellt werden: www.drachenverlag.de


Peter Gray (71) ist evolutionärer Entwicklungspsychologe, Bildungsexperte und Autor der bislang in sechs Auflagen erschienenen Einführung »Psychology«. Er lehrte als Professor für Psychologie am Boston College, USA. Gray erforscht die kindliche Entwicklung aus evolutionsbiologischer Perspektive. Als dezidierter Kritiker des Schulzwangs beschreibt er Regelschulen mit Schulanwesenheitspflicht als Gefängnisse. Die ­Inhaftierung junger Menschen aufgrund ihres ­Alters stehe im deutlichen Widerspruch zu demokratischen Grundwerten. Grays besonderes Forschungsinteresse gilt der Bedeutung von Spiel und Neugierde für natürliches, selbstmotiviertes Lernen. So lernten Kinder in indigenen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften alles, was sie zum Leben bräuchten, aus dem freien Spiel in alters­gemischten Gruppen. Diese Erkenntnis ist auch für uns westlich geprägte Menschen der Indus­triemoderne von hoher Relevanz, denn während 99 Prozent unserer Geschichte waren auch wir ­Jäger und Sammler – und sind es, genetisch betrachtet, noch heute. Eine Schule, die diesem Umstand Rechnung trägt, erkennt Gray in der basisdemokratischen »Sudbury Valley School«, an der er Forschungsprojekte durchgeführt hat. Peter Gray schreibt auf seinem persönlichen Blog bei der Zeitschrift »Psychology Today« regelmäßig über die Grundlagen von menschlicher Bildung.
www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn

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