Bildung

Spielen macht schlau

Kinder sind Selbsterziehungsexperten. Jäger-und-Sammlerinnen-Völker wissen das seit Jahrtausenden.von Peter Gray, erschienen in Ausgabe #5/2010
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Einige hunderttausend Jahre lang, bis zu dem Zeitpunkt, als die Landwirtschaft erfunden wurde, waren wir alle Jäger und Sammlerinnen. Im Kontext dieser Lebensweise entstanden unsere ­Instinkte, und dazu gehört auch die instinktive Fähigkeit, zu lernen. Die Bemühung, dem instinktiven, kindlichen Lernen näher auf die Spur kommen, lohnt sich. Hilfreich ist dabei die Frage, wie Kinder in Jäger-Sammlerinnen-Gesellschaften lernen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachteten Ethnologen in Afrika, Asien, Australien, Neuguinea, Südamerika und anderswo zahlreiche Stämme, die sich – fast unbeeinflusst von der Moderne – ein Leben als Jäger und Sammlerinnen erhalten hatten. Obwohl jede Ethnie ihre eigene Sprache und spezifische kulturelle Traditionen kannte, schienen sie sich in vielen Aspekten stark zu ähneln, so dass es angemessen erscheint, im Singular von der »­Jäger-und-Sammlerinnen-Lebensweise« zu sprechen. Immer lebten sie in kleinen nomadischen Gruppen von 25 bis 50 Mitgliedern, die ihre Entscheidungen demokratisch trafen. Ihre Ethik konzentrierte sich auf egalitäre Werte und die hohe Bedeutung des Teilens. Sie pflegten reiche kulturelle Traditionen wie Musik, Kunst, Spiel, Tanzen sowie das Erzählen überlieferter Geschichten.
Wenig erforscht ist der Aspekt der Kindererziehung in diesen Kulturen. Deshalb wendete ich mich gemeinsam mit einem meiner Studenten, Jonathan Orgas, vor einigen Jahren an eine Reihe von Ethnologen, die unter Jägern und Sammlerinnen gelebt hatten. Wir baten sie, einen Fragebogen über das Leben der Kinder in den besuchten Völkern zu beantworten. Die neun Antworten, die wir erhielten, bezogen sich auf Jäger-und-Sammlerinnen-Kulturen aus Afrika, Malaysia, den Philippinen sowie aus Neuguinea. Sie verblüfften uns ebenso wie entsprechendes Bücherstudium, denn auch hier zog sich eine erstaunliche Übereinstimmung durch die unterschiedlichen Kulturen. Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen, die mir für die Frage nach den Bedingungen für selbständiges Lernen außerordentlich wichtig erscheinen. Wenn ich nun die Erziehungspraktiken dieser Kulturen beschreibe, verwende ich die Gegenwartsform – auch wenn viele von ihnen in den vergangenen Jahren weitgehend durch das Vordringen der »entwickelteren« Welt zerstört worden sind.

Es gibt viel zu lernen
Kinder müssen in Jäger-Sammlerinnen-Gesellschaften ein großes Lernpensum bewältigen. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass Erziehung in Jäger-und-Sammlerinnen-Gesellschaften kein nennenswertes Thema wäre, weil sie nicht viel zu lernen hätten. Im Gegenteil, wollen sie einmal zu angesehenen Jägern werden, müssen sich etwa die Jungen mit den Gewohnheiten von allen zwei- bis dreihundert verschiedenen Säugetier- und Vogelarten vertraut machen, die auf der »Jagdliste« ihres Stamms stehen. Sie müssen anhand winziger Details die Fährten dieser Beutetiere lesen können und perfekte Jagdwerkzeuge und -waffen herstellen und anwenden können, wie etwa Pfeil und Bogen, Blasrohr, Fallen oder Netze.
Wollen die Mädchen angesehene Sammlerinnen werden, müssen sie lernen, welche der zahllosen Wurzel-, Knollen-, Nuss-, Samen-, Frucht- und Blattarten ihrer Umgegend essbar und nährstoffhaltig sind, wann sie sich wo finden lassen, auf welche Weise Wurzeln und Knollen auszugraben sind, wie sich die essbaren Teile einer Pflanze am besten von den nicht essbaren trennen lassen. Sie müssen auch wissen, wie sie manches Sammelgut so verarbeiten, dass es essbar wird oder einen höheren Nährwert erhält. Diese Fertigkeiten müssen in jahrelanger Praxis verfeinert werden. Zugleich gilt es, ein enorm umfangreiches, mündlich weitergegebenes Kulturwissen über Nahrungsmittel zu erinnern, anzuwenden, zu erweitern und gegebenenfalls auch zu verändern.
Daneben müssen die Kinder in Jäger-Sammlerinnen-Gesellschaften lernen, sich im riesigen Jagdgebiet zurechtzufinden, Hütten zu bauen, Feuer zu machen, zu kochen, Raubtiere abzuwehren, Wetterwechsel frühzeitig zu erkennen, Wunden und Krankheiten zu behandeln, bei Geburten zu assistieren, auf Kinder aufzupassen, die Harmonie innerhalb der Gruppe aufrechtzuerhalten, mit benachbarten Gruppen zu verhandeln, Geschichten zu erzählen, Musik zu machen sowie an den verschiedenen Tänzen und Ritualen ihrer Kultur teilzunehmen. Da diese Menschen lediglich die eine spezifische Arbeitsteilung kennen, nämlich dass Männer vornehmlich jagen und Frauen vornehmlich sammeln, ist bei ihnen jede und jeder Einzelne aufgefordert, sich einen Großteil des bekannten Kulturwissens und -könnens anzueignen.

Lernen ohne jeden Unterricht
Obwohl die Kinder in Jäger-und-Sammlerinnen-Gesellschaften also eine große Menge an Stoff zu lernen ­haben, kennen diese Völker nichts, was einer Schule ähnelte. Kein Erwachsener würde auf die Idee kommen, einen Lehrplan aufzustellen oder Kinder zum Lernen zu motivieren. Auf die Frage, wie denn bei ihnen die Kinder lernen, was sie lernen müssen, antworten erwachsene Jäger und Sammlerinnen ausnahmslos das Folgende: »Sie bringen es sich durch Beob­achtung, beim Spielen und beim Entdecken selbst bei.« Es mag vorkommen, dass ein Erwachsener seinen Ratschlag anbietet oder zeigt, wie sich etwa eine Pfeilspitze noch besser schärfen lässt. Doch solche Hilfestellung wird nur gegeben, wenn das Kind ausdrücklich danach verlangt. Die Erwachsenen sagen den Kindern nicht, was sie tun sollen, sie führen deren Aktivitäten nicht an und mischen sich auch nicht dort ein. Sie zeigen auch nicht die leiseste Sorge, was die Erziehung ihrer Kinder anbelangt, hat ihnen die jahrtausendelange Erfahrung doch gezeigt, dass Kinder wahre Experten darin sind, sich selbst zu erziehen.

Viel Zeit zum Spielen und Entdecken
Auf unsere Frage nach der Zeit, die Kinder in Jäger-und-Sammlerinnen-Gesellschaften für das Spielen zur Verfügung haben, gaben alle Ethnologen an, dass die von ihnen beobachteten Kinder die Freiheit hatten, jeden einzelnen Tag ganz – oder zumindest fast ganz – mit Spielen zu verbringen. Typische Antworten waren beispielsweise: »Die Kinder [der Batek] konnten so gut wie immer spielen, wenn sie wollten. Bis sie in ihre späten Teenager-Jahre kamen, erwartete niemand von ihnen, dass sie echte Arbeit übernahmen« (Karen Endicott). »[Bei den Nharo] hatten Mädchen wie Jungen fast den ganzen Tag fürs Spielen zur Verfügung« (Alan Barnard). »Bis zum Alter von etwa 15 bis 17 konnten die Jungen [der Efé] so gut wie immer spielen. Auch die Mädchen verbringen dort, abgesehen von ein paar Botengängen und etwas Babysitting, den Tag mit Spielen« (Robert Bailey). »Die [!Kung-]Kinder spielten von Sonnenauf- bis -untergang« (Nancy Howell).
Die Freiheit dieser Kinder lässt sich zumindest teilweise damit erklären, dass die Erwachsenen dort wissen, dass spielerischer Zeitvertreib den sichersten Pfad zur Erziehung darstellt. Daneben erwächst diese Freiheit aus dem sehr egalitären Geist sowie dem hohen Grad an individueller Autonomie, die für Jäger-Sammlerinnen-Kulturen typisch ist. Erwachsene Jäger und Sammlerinnen betrachten Kinder als vollständige Persönlichkeiten, deren Rechte sich kaum von den ihrigen unterscheiden. Sie gehen davon aus, dass Kinder nach freien Stücken anfangen werden, zur Ökonomie der Gruppe beizutragen, sobald sie von ihrer Entwicklung her in der Lage dazu sind. Es scheint keinerlei Grund zu geben, Kinder oder sonst irgendjemanden zu etwas zu nötigen. Ist es nicht bemerkenswert, dass unsere ­Instinkte, zu lernen und zum Wohl der Gemeinschaft etwas zu leisten, in einer Welt entstanden sind, in der die Menschen großes Vertrauen in den Impuls hatten, zum Gemeinwohl beizutragen?

Spielen: Beobachten und Nachahmen
In Jäger-Sammlerinnen-Kulturen werden Kinder zu keinem Zeitpunkt von den Tätigkeiten der Erwachsenen ferngehalten. So können sie direkt beobachten, was im Camp vor sich geht: die Vorbereitungen fürs Weiterziehen, den Bau der Hütten, die Herstellung und Reparatur von Werkzeugen und anderen Artefakten, die Zubereitung der Nahrungsmittel, die Pflege von jünge­ren Kindern, die Vorkehrungen, die gegen Raubtiere oder Krankheiten getroffen werden, das Schwätzen, Diskutieren, Streiten und politische Verhandeln, die Tänze und festlichen Anlässe. Hin und wieder begleiten sie Erwachsene auf Nahrungsmittel-Sammelgängen, und wenn sie etwa zehn Jahre alt sind, kommen die Jungen manchmal mit auf die Jagd. Die Kinder beobachten all diese Aktivitäten, integrieren sie in ihr Spiel und erlernen sie so ganz nebenbei. Mit zunehmendem Alter wird ihr Spiel immer mehr zu der wirklichen Aktivität, die es nachahmt. Dabei ist der Übergang von spielerischer Teilnahme zu wirklicher Teilnahme an den angesehenen Aktivitäten der Erwachsenen fließend.
Beispielsweise schießen Jungen mit ihren kleinen Bögen zunächst spielerisch Pfeile auf Schmetterlinge, um dann in einem nächsten Schritt kleine Säugetiere zu jagen, die sie bei Erfolg nach Hause bringen, wo sie gegessen werden. Und irgendwann begleiten sie die Männer auf deren echten Jagdausflügen, wobei dies immer noch im Geist des Spielens geschieht. Für gewöhnlich bauen sowohl Mädchen wie Jungen Spielhütten nach dem Vorbild jener Hütten, die ihre Eltern errichten. In ihren Antworten auf unseren Fragenkatalog stellte Nancy Howell heraus, dass die Kinder der !Kung einige hundert Meter von der Ansammlung der echten Hütten entfernt ein ganzes Spielhütten-Dorf bauen. Dieses Dorf ist ihr Spielplatz, wo sie viele Szenen nachstellen, die sie sich bei den Erwachsenen abgeguckt haben.

Frei lernen in einer »zivilisierten« Welt?
Was bedeuten diese Beobachtungen für die Erziehung in einer Welt, in der das Jagen und Sammeln kaum noch Bedeutung hat? Sicherlich sind Zweifel darüber angebracht, ob sich das, was wir hier über die Erziehung bei Jägern und Sammlerinnen erfahren haben, erfolgreich in unsere Kultur übertragen lässt. So kennen Jäger und Sammlerinnen weder Lesen noch Schreiben noch Rechnen. Anders als bei Jägern und Sammlerinnen existieren bei uns sehr viele unterschiedliche Lebensstile und eine unüberschaubare Vielzahl an Ausbildungsmöglichkeien und Wissensbereichen. Außerdem ist es Kindern bei uns nicht möglich, in ihrem Alltag all die Tätigkeiten der Erwachsenen direkt zu beobachten. Die Kinder sind in unserer Kultur weitestgehend abgeschnitten von der Arbeitswelt der Erwachsenen, und dies beschneidet ihre ­Möglichkeiten, die Tätigkeiten der Großen in ihr Spiel zu integrieren. Dennoch gibt es gute Argumente dafür, dass die natürliche Weise, durch Spiel zu lernen, ebenso gut bei unseren Kindern funktioniert.
Ein Beispiel ist die von mir über viele Jahre hinweg untersuchte Sudbury-Schule in Framingham, Massachusetts, wo sich Kinder und Jugendliche seit vierzig Jahren mit außergewöhnlichem Erfolg durch selbstangeleitetes Spiel und Forschen eigenständig erziehen. Das Bemerkenswerte an dieser Schule mit rund 200 Schülern aus unterschiedlichsten Milieus ist ihre partizipative, demokratische Organisation. Alle Entscheidungen werden in der Schulversammlung beschlossen, und sowohl die Schüler als auch die Lehrer haben in dieser Versammlung jeweils eine Stimme – die vierjährigen Vorschulkinder ebenso wie die Erwachsenen. Hier wird über alle Regeln der Schule entschieden ebenso wie über anstehende Anschaffungen. Zu den Regeln gehört zum Beispiel, dass man niemanden daran hindert, den eigenen Interessen nachzugehen, Ruheräume nicht stört, seine Sachen wegräumt und nichts kaputtmacht. Keine der Regeln beziehen sich auf das Lernen, denn es gibt keinen Lehrplan und nichts, womit der Lernerfolg der Schüler bewertet würde. Kurse finden statt, wenn Schüler die Initiative ergreifen, sie zu organisieren. Die Erwachsenen betrachten sich nicht als Lehrer, sondern als Teil einer Gemeinschaft, die für die anderen da ist, und dazu gehört manchmal auch das Lehren. Inzwischen folgen gut 30 Schulen weltweit dem Modell der Sudbury Valley School in Framingham.
Wie in den Jäger-Sammlerinnen-Gesellschaften lernen die Kinder an Sudbury-Schulen weitgehend beiläufig als Nebeneffekt des selbstbestimmten Spielens. Die Schule in Framingham ist ein wunderbarer Ort, an dem es sich gut spielen lässt. Hier gibt es eine voll ausgestattete Küche, eine Holzwerkstatt, einen Kunstraum, Computer, Spielsachen und viele Bücher. Ein Wald nahebei, ein Teich und Wiesen laden zu Naturerfahrung ein. Wie in den Stammesgesellschaften verbringen Kinder unterschiedlichsten Alters Zeit miteinander, und dieses altersgemischte Spielen bringt mit sich, dass die Jüngeren beständig von den Älteren lernen. Viele der Jüngsten lernen dort Lesen, weil sie bei Spielen mitmachen möchten, in denen es um geschriebene Wörter geht. Sie lernen zu lesen, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind.
Auch als zivilisierte Menschen haben wir die Fähigkeit, instinktiv zu ­lernen, offenbar noch nicht verloren. Wäre es nicht an der Zeit, als aufgeklärte Gesellschaft der Gegenwart wieder in diese Fähigkeit zu vertrauen? 


Peter Gray (66) forscht als Professor für Psychologie am Boston College, USA. Sein Forschungsschwerpunkt ist derzeit die Bedeutung des Spielens für lebenslanges Lernen.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: www.humantouch.de

Mehr von Peter Gray und den Sudbury Schulen im Internet
www.psychologytoday.com/blog/bloggers/peter-gray
www.sudbury.de
www.sudval.org

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