Titelthema

Die Selbst­ermächtigung des Wir

Eine Utopie von Gandalf Lipinski, hinterfragt von Johannes Heimrathvon Johannes Heimrath, Gandalf Lipinski, erschienen in Ausgabe #4/2010
Photo

Gandalf Lipinski: Aus einer US-Immobilienkrise wurde die globale Finanzkrise. Diese führte zur Weltwirtschaftskrise. Nehmen wir den Klimawandel, das Scheitern des Kopenhagener Gipfels und das Öl-Desaster im Golf von Mexiko dazu. Das ganze Krisenszenario bringt auch die politische Machtfrage auf den Tisch. Das System der westlichen Demokratien scheint abgedankt zu haben.
Wo finden wir heute echte Gestaltungsmacht, die Möglichkeiten, unsere Lebenswirklichkeit und damit die gesellschaftlichen Strukturen merklich zu verändern? Wir blicken auf immer fernere Zentralen von Macht in Landes- und Staatsregierungen, in einer undurchschaubaren EU-Administration. Aber auch die scheinen von noch globaleren Einflussnehmern gesteuert zu werden. Wenn demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen vor den ­Finanzmärkten in die Knie gehen, ist die Frage erlaubt, ob das repräsentative Prinzip und die Organisation des politischen Willens durch Parteien wirklich der Höhepunkt politisch-sozialer Intelligenz und damit faktisch unantastbar sind.


Johannes Heimrath: Lieber Gandalf, ich will hinzufügen: Moskau und Pakistan geben derzeit das tragische Symbolpaar ab: Es brennt, und zugleich steht uns das Wasser bis zum Hals. Keine politische Macht der Welt kann die simpelste Lebensäußerung unserer Planetin – Regen – steuern. Es ist halt was anderes, sich mit ein paar hundert Milliarden vom Geld der arbeitenden und deswegen notleidenden Bevölkerung finanz­ökonomische Scheinsicherheit zu erkaufen, als einzugestehen, dass der Verlust realer Sicherheit, ja der Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen das Ergebnis der Traumtänzerei der die Welt definierenden Kaste ist. Du hast recht: An keinem dieser Ereignisse können wir unmittelbar mitbestimmen. Aber – welche Gesellschaftsform überhaupt würde einer Sintflut Herr werden?


Machen wir uns nichts vor. Wir geraten immer mehr hinein in eine strukturelle Krise der gesamten Gesellschaft. Wenn wir nicht wollen, dass die derzeitige Politikverdrossenheit sich zu einer Demokratieverdrossenheit verhärtet, gehört das System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie auf den Prüfstand. Mit dem Wissen, dass in jeder Krise auch eine Chance liegt, könnten wir die Demokratie, statt sie Stück für Stück resigniert aufzugeben, auch weiterentwickeln. Ich schlage vor, sie künftig als das Grundrecht und die Fähigkeit von Menschen zu definieren, ihre eigenen Angelegenheiten so selbstbestimmt und so gemeinwohlorientiert wie möglich in die Hand zu nehmen.


Aus meiner Sicht wirkt der klassische Geburtsfehler der Demokratie bis heute fort: Der attische Blut- und Finanzadel sträubte sich lang dagegen, dem Demos – den Vollbürgern eines Bezirks (= demos) – Partizipationsrechte am Geschick der Polis einzuräumen. Man einigte sich schließlich darauf, die über zwanzigjährigen Männer der freien Bürgerschaft mitreden zu lassen. Dabei ist es geblieben. Mitreden ist nicht gleich Entscheiden.


Haben wir überhaupt eine Alternative zum Weiterwursteln wie bisher? Ja, die haben wir! Die ersten Autos vor hundert Jahren mussten angekurbelt werden. Die modernen parlamentarischen Demokratien sind zum Teil deutlich älter. Doch während das »Prinzip Automobil« rasant bis zum Hybridfahrzeug weiterentwickelt wurde, sind die Versuche, Demokratie besser zu organisieren, steckengeblieben. Die Entwicklung der technischen Intelligenz, die unsere Gesellschaft auszeichnet, übersteigt bei weitem ihre soziale Intelligenz. Man muss nicht extrem links oder rechts sein, um zu erkennen, dass die demokratischen Strukturen dieser Gesellschaft zeitgemäß weiterentwickelt werden können und sollten.


Da kommt mir einer der Reports in den Sinn, die mich immer wieder – oder sollte ich sagen, kaum noch? – erschüttern: Im April 2004 veröffentlichte das »World Business Council for Sustainable Development« – der Rat der Weltunternehmen für nachhaltige Entwicklung (WBCSD) – sein Werk »Doing business with the poor: A field guide« (Wie man Geschäfte mit den Armen macht: Ein Leitfaden). Im vergangenen Februar brachte die Gruppe den Report »Vision 2050 – The new agenda for business« (Neuer Fahrplan fürs Geschäft) heraus. Im Vorstand des WBCSD sitzen schwerreiche Ex- und Nochmanager der bekannten Globalspieler wie Shell, Syngenta, BP, Toyota, Unilever, PricewaterhouseCoopers, ArcelorMittal and so on. Alles Leute, denen man ihr unbedingtes Engagement für eine nachhaltige Welt abnimmt – werden sie doch nur bestehen, wenn sie auch in 40 Jahren noch was zu produzieren und zu verkaufen haben – und wenn es genügend mit Geld ausgestattete Menschen gibt, die ihre Produkte nachfragen. Ich stelle nachher ein paar Zitate daraus neben deinen Artikel. Wir werden sehen, wer die größere Utopie verfolgt, du und ich (denn ich stimme dir ja zu) oder die aktuellen Weltbeherrscher ...


Abseits des politischen Mainstreams hat es sehr wohl Fort­schritt und Entwicklung gegeben. Nehmen wir die Gemein­­schafts­bewegung: Sie hat einen enormen Fundus an Kom­munikations- und Entscheidungsfindungsverfahren entwickelt, die bereits in andere Felder der Gesellschaft hineinwirken. Systemorientierte Ansätze in Soziotherapie und Teamentwicklung sind nur zwei ihrer Anwendungsgebiete.


Dazu sagen unsere mächtigen Freunde: »Mit ›Vision 2050‹ haben 29 Mitglieds­unternehmen des WBCSD eine Vision von einer Welt erarbeitet, die gute Chancen hat, bis 2050 nachhaltig zu sein […]. Dazu braucht es eine fundamentale Veränderung unserer Staatsführung, unserer Strukturen und ökonomischen Rahmenbedingungen, der Art, wie wir Geschäfte machen und wie sich Menschen verhalten. Diese notwendigen Veränderungen sind möglich, und sie bieten denjenigen Unternehmen, die Nachhaltigkeit zu ihrer Strategie machen, kolossale Geschäftsmöglichkeiten. […] Wir fordern die Regierungen auf, mit ihrer Politik und Gesetzgebung die Gesellschaft dahingehend zu lenken und zu organisieren, den Märkten Anreize in Richtung Nachhaltigkeit zu geben und die Leute anzuspornen, ihren Alltag zu verändern.«
 Wir stehen im Wettbewerb darüber, wer tiefer in die Gesellschaft hineinwirkt, wir oder diejenigen, die nach kolossalen Geschäftsmöglichkeiten streben …


Intentionale Lebens- und Arbeitsgemeinschaften haben in den letzten Jahrzehnten in überschaubaren Lebenszusammenhängen an der Basis ein soziales Wissen und eine kommunikative Kompetenz entwickelt, die ihresgleichen sucht. Als Zukunftswerkstätten haben sie die ganze Gesellschaft bereichert. Eine Weiterentwicklung sozialer Intelligenz würden wir verzeichnen können, wenn es gelänge, diesen Erfahrungsschatz in den Aufbau intelligenter Basisstrukturen zu überführen.


Unter der Überschrift »Das ultimative Geschäft« führt der Leitfaden des WBCSD zum Geschäft mit den Armen wie folgt aus: »Fast zwei Drittel der Menschen auf diesem Planeten sind arm. Die meisten Unternehmen versorgen im besten Fall ein Drittel der Weltbevölkerung und konkurrieren erbittert um gesättigte Märkte. Doch merken inzwischen viele Manager, dass eine stärkere Präsenz in den Entwicklungsländern entscheidend für ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit und ihren Erfolg sein wird. Einige weitsichtige Mitglieder des WBCSD sind gerade in das Geschäft mit nachhaltigen Lebensgrundlagen (Sustainable Livelihoods, SL) eingestiegen: ›Geschäfte mit den Armen, von denen die Armen etwas haben und von denen das Unternehmen etwas hat.‹ Das SL-Geschäft dreht sich um die Beförderung der wirtschaftlichen Entwicklung und darum, einkommensschwachen Gemeinschaften und Familien zu helfen, ihre Lebensgrundlagen zu sichern.
 Doch aus mehreren Gründen muss die Betonung auf Geschäft und Profitabilität gelegt werden. Das heißt, dass das SL-Geschäft zum maßgeblichen Teil des Denkens und der Hauptaktivitäten des Unternehmens werden muss. Es heißt auch, dass SL-Investitionen, die ihre Profitziele erreichen, im Unterschied zu unternehmerischer Wohltätigkeit keine Budgetgrenzen nach oben haben.« – Noch Fragen?


Anthropologisches Wissen aus der Matriarchatsforschung aufzunehmen, würde zum Beispiel bedeuten, weniger auf Quoten und mehr auf den gegliederten Konsens getrennt beratender Frauen- und Männergruppen zu setzen. Quotenregeln führen in Politik und Wirtschaft eher zur Selektion und Anpassung einer kleinen Frauen­elite an patriarchale Muster, als dass sie ein anderes menschliches Know-how in diese Sphären brächten. Wenn in einer überschaubaren Gemeinschaft ein Thema zunächst in getrennt voneinander tagenden Frauen- und Männerkreisen vorbereitet wird, kommt der ganze Reichtum sozialer Kompetenz beider Geschlechter zum Tragen. Ziel ist dabei nicht der Aufbau zweier voneinander getrennter Kulturen, sondern immer wieder das gleichberechtigte Zusammenkommen, der Konsens auf Augenhöhe.


Konsens setzt doch Augenhöhe voraus, oder nicht? – Hier noch ein paar Sätze aus dem WBCSD-Leitfaden: »Die globalen Trends schaffen derzeit ein vorteilhaftes Umfeld für Unternehmen, die in das Geschäft mit den Armen einsteigen wollen:
• Viele Firmen sind gezwungen, aus reifen Marktsegmenten auszubrechen.
• Die Rahmenbedingungen in vielen Entwicklungsländern verbessern sich.
• Die Kommunikation ist heute schnell und billig; die Welt ist kleiner geworden.
• Die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Unternehmen ändern sich. […]
Alle Unternehmen, egal welcher Branche, können lokale Märkte stimulieren und die Armen zu aktiven Teilnehmern an diesen Märkten machen, als Kunden und Kleinunternehmer. Wer dieser Herausforderung mit clever designten Geschäftsmodellen begegnet, bahnt seiner Firma prächtige Straßen zum Wachstum.«
 Kann so der Konsens außerhalb unserer »Halbinseln« (siehe Oya 2) gelingen?


Es geht um Räte, die weniger Entscheidungs- und mehr Kommunikations-, Ausgleichs- und Konsensversammlungen sind. Bei Dissens geht eine Entscheidung auch mal wieder an die Basisgliederungen zurück. Das muss nicht länger dauern als in einem repräsentativen Stellvertretersystem, dafür werden die resultierenden Beschlüsse ausgereifter und von den Menschen, die sie betreffen, mitgetragen sein.
Eine solche Form der direkten Demokratie unterscheidet sich vom heutigen System fundamental. Delegierte in einem solchen Rätesystem verstünden sich nicht als Stellvertreter, die im Rahmen ihrer Machtbefugnisse entscheiden, sondern verhandeln als Dienende ihrer jeweiligen Basis, beauftragt, deren Willen mit dem anderer Gruppen zu einem übergeordneten Konsens zu bündeln.


Zum Konsens, lieber Gandalf, fällt mir noch ein Grübeln ein, das mich am 16. August beim Lesen folgender Spiegel-Meldung überkam: »Die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung klingt sonor und ruhig, fast als ob sie über einen normalen Verwaltungsvorgang spricht. ›Wir haben der Bevölkerung eine Lehre erteilt‹, sagt der Mann, ›nun wissen sie, was passiert, wenn man gegen die Regeln des Korans verstößt.‹ Maulawi Emamuddin nennt sich der Mann […], Taliban-Schattengouverneur von Dasht-i-Archi. Er hat hier das Sagen, seine Kämpfer haben die Kontrolle –
nicht die Kabuler Regierung, die afghanische Polizei oder die in Kunduz stationierte Bundeswehr. […] Was Emamuddin verkündet, hat sich am Sonntagnachmittag auf dem belebten Markt von Mullah Qolie zugetragen. Rund hundert Taliban waren mit Motorrädern und ihren umgehängten Waffen in das Dorf gekommen. Sie brachten zwei Gefangene mit: den 28-jährigen Abdul Qayom und die 20-jährige Sedeqa. Der verheiratete Mann und die junge Frau hatten angeblich eine Liebes­beziehung. […] Der Polizeichef der Region Dasht-i-Archi schildert den Fall knapp und nüchtern: […] Zuerst habe ein Kommandeur eine Erklärung verlesen. Dann hätten die Kämpfer mit der blutigen Hinrichtung begonnen. ›Das Paar wurde eine Stunde lang gesteinigt‹, berichtet Hamid Agha, ›und da die junge Frau noch nicht tot war, richteten sie die Taliban am Ende mit einem Kopfschuss hin.‹«
 Ich stelle mir vor, wie wir nach Afghanistan gehen und in den dortigen Stammesräten unser anthropologisches Wissen aus der Matriarchatsforschung vermitteln …


Die Versammlungen an der Basis dürften daher nicht nur beraten, wie sie künftig mit immer weniger Geld zurechtkommen, sie würden in allen Fragen der Politik mitentscheiden. Es versteht sich von selbst, dass bei dieser Art der Organisation der Willensbildung die einzelnen Menschen viel mehr und die Parteien viel weniger Einfluss hätten.
In diese Richtung könnte sich die Demokratie heute weiterentwickeln. Sie würde vor allem zwei Prinzipien nachhaltiger fördern als dies dem jetzigen parlamentarischen System gelingt: das Prinzip der Subsidiarität und das der Souveränität des Volks.
Subsidiarität besagt, dass eine gesellschaftliche Basisgliederung, z. B. eine Gemeinde, nur solche Aufgaben, Rechte usw. an die nächsthöhere Ebene (Kreis, Land, Bund) delegiert, die sie selbst nicht ausüben kann. Tatsächlich sieht dies das deutsche Grundgesetz vor. Selbstverständlich hängt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung von der Fähigkeit zur Selbstversorgung ab. Gemeinden und Regionen, die einen Großteil der Dinge, die sie brauchen, auch selbst produzieren oder leisten können, emanzipieren sich von politischer oder ökonomischer Erpressbarkeit.
Subsidiarität bedingt allerdings auch eine verwirklichte Souveränität. Nach oben delegierte Hoheitsrechte sind immer nur verliehene Souveränität; sie muss zurückgeholt werden können. Denn als Faustregel gilt: Je größer der umfassendere Verband ist, umso ferner von der ­Basis ist die politische Macht, je kleiner der Verband, umso direkter kann sich die Selbstbestimmung der Basis entfalten.
Statt also gebetsmühlenartig die Verschlankung des Staats im neoliberalen Sinn zu fordern, sollten wir die Kompetenz des Souveräns wieder mit der Basis verbinden. Werden abstrakte Staatsaufgaben wieder zu konkreten Gemeinschaftsaufgaben, brauchen wir sie nicht an globale Konzerne zu delegieren, sondern können sie selbstbestimmt in den Gemeinschaften, Gemeinden und Regionen vor Ort regeln.


In Oya 1 hatte Matthias Fersterer von der Notwendigkeit geschrieben, eine neue »große Erzählung« für unsere Zeit des Wandels zu dichten. Dieses Vakuum, dass wir keine Heldinnen und Helden mehr haben, die wir auf ihrer symbolischen Reise zu Erkenntnis und Reife begleiten können, spüre ich auch hier. Möge der Heroismus in der Geschichte versunken bleiben und nie wiederkehren! – Wo aber sind die neuen, begeisternden Geschichten über die egalitäre, von Liebe getragene Konsensgellschaft? Und wenn es sie gibt, wie schaffen sie den Sprung über die unsichtbare Wand zwischen dem Mainstream und den Lagerfeuern der visionautischen Subkultur, die den globalen Krisen zum Trotz für sich ein gutes Leben zu verwirklichen versucht? Welche Bilder sind so attraktiv, um in der Zivilgesellschaft eine derart breite und tiefe Sehnsucht nach ihrer Verwirklichung entstehen zu lassen, dass der Ansturm der Menschen kaum gebändigt werden kann, die alle die Segnungen der Konsumwelt verlassen und stattdessen grüne, friedliche und dem Leben als Ganzem geweihte Formen und Methoden lernen wollen? Wer sagt dem Geldverdienen Adieu und wendet sich dem zu, was er wirklich, wirklich tun will? Wer begräbt seine Vorurteile und geht auf die vermeintlichen Gegner zu? Wer schenkt sich der Welt im schlichten Vertrauen, dass sie ihn im Gegenzug am Leben erhält? Wer kann sich das überhaupt leisten, selbst wenn sie oder er es gerne wollte? Und das alles recht schnell, nicht morgen, sondern jetzt?


Das bezieht sich nicht nur auf Produktion und Konsum, sondern auch auf fast alle Bereiche des öffentlichen Dienstes, des Schul- und Bildungswesens, des Gesundheitswesens, Versicherungen, Steuern, ja sogar Transport und Verkehr. Wir treffen uns regelmäßig zu gemeinsamen Versammlungen, um über alle politischen Fragen miteinander zu reden und zu entscheiden. Gemeinsam mit den benachbarten Basisgemeinschaften bilden wir Gemeinden, deren Räte zu allen relevanten Themen mitreden. Aus den Gemeinderäten setzen sich die Kreis- und schließlich die Regionalräte unserer autonomen Regionen zusammen. Fast alle unsere materiellen und kulturellen Grundbedürfnisse sind in einem solchermaßen aufgebauten Regionalzusammenhang selbstbestimmt und gemeinsam zu befriedigen. Auf diese Weise werden umfassendere Verbände, die über autonome Regionen hinausgehen, von sehr viel Macht und zentralen Verwaltungsaufgaben befreit und zu schlanken Fördera­tio­nen umgestaltet.
Ein Europa, das sich statt aus ein paar Dutzend Nationalstaaten aus ein paar hundert autonomen Regionen zusammensetzt, würde der Verschiedenheit und den Eigenarten seiner Menschen und seiner Landschaften gerecht werden können. Statt alles auf Vater Staat oder die Allmacht des Markts zu projizieren, würden wir unsere Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen.


Angenommen, lieber Gandalf, wir hier – in Deutschland – verwirklichten so ein Modell, ganz egal, was in der mächtigen Welt um uns herum passiert. Wieviele Menschen bräuchten wir zu so einem Wandel? Und was müssten diese Menschen können, wer müssten sie sein? – Zur Klarstellung: Deine Vision ist wichtig und, da wir ihre Auswirkungen – weil erst aus zukünftiger Rückschau zu beurteilen – nicht kennen, so richtig wie jede lebensfördernde Vision. Ich selber sehe keinen anderen Weg, als uns auf die Kraft unserer Vision zu besinnen (nachzulesen in meinem Beitrag »Auf in die Post-Kollaps-Gesellschaft« in Oya 2). Längst aber kann ich die Vision nicht mehr ohne den krassen Kontrapunkt der globalen Wirklichkeit denken.
Jüngst waren du und ich auf derselben Veranstaltung, die auch viel mit Vision zu tun hatte. Ich habe schon gestaunt, dass einige Teilnehmer argumentierten, sie bekämen Angst angesichts der kleinen Einflechtungen der Wirklichkeit, die mir deshalb wichtig sind, weil sie die Vision herausfordern. Es ist doch so: Hält die Vision dem Blick auf die Realität stand, dann hat sie genügend Kraft, den Einsatz unserer Lebenszeit für eine herzenswarme Prüfung zu lohnen. Geraten wir aber ins Wimmern, dann dürfte sich das, was so scheinbar harmonisch und ermutigend auftritt, als Illusion entpuppen, die unsere Lebenskraft vergeudet, indem sie die Erdung vermeidet.
 Ja, »Erdung« – das Aufsetzen auf dem Boden der Realität ist für viele hart. Doch da fühle ich mich mit Joanna Macy einig. Schmerz ist eine nicht zu vermeidende Durchgangsstufe zur Verwirklichung der Vision. »Honoring Pain« – den Schmerz würdigen. Auf Seite 74 in diesem Heft sagt sie: »Diese Gefühle auszudrücken und miteinander zu teilen, nimmt uns die Angst vor starken Emotionen, und wir erkennen, dass wir mit allen Lebewesen verbunden sind.« Amen, Om Tat Sat.


Was heißt nun Selbstermächtigung des Wir? – Viele Menschen, mit denen ich im Austausch stehe, teilen diese Vision. Die meisten teilen auch die Einschätzung, dass, menscheitsgeschichtlich gesehen, ein Wandel in diesem Sinn gerade jetzt überfällig wäre. Aber kaum jemand wagt es, ihn konkret zu denken oder gar planend vorzubereiten. Noch fehlen uns die sozialen »Wärmeräume«, in denen die einzelnen Komponenten des besseren Lebens erfahren werden können. Es geht dabei auch um Überschaubarkeit. Demokratisches Verhalten will gelernt und im Alltag gelebt werden. Dazu braucht es menschliche »Biotope«, in denen der Einzelne die Konsequenzen seines Handelns und seiner Entscheidungen wahrnehmen, verstehen und beurteilen kann. Gemeinschaftsbewegung und die Demokratie­reformer verbindet mehr miteinander, als beide Seiten bisher ahnen.


Lieber Gandalf, wir sind uns wohl einig, dass dein Modell eine klassische Post-Kollaps-Utopie beschreibt. Von der gegenwärtigen Verfasstheit der voll entwickelten Demokratien (davon gibt es nach dem »Economist Intelligence Unit’s Index of Democracy 2008« sowieso nur 30 in der Welt, allgemein wird ein Verfall in der Mehrzahl der restlichen 50 sich offiziell »Demokratie« nennenden Staaten konstatiert) führt keine Brücke zu den von dir vorgeschlagenen Strukturen und Verfahren, geschweige denn von den totalitär regierten Gesellschaften. Wenn wir keinen mehr oder weniger gewaltsamen Umsturz wagen wollen, werden wir wohl den immer wahrscheinlicheren Zusammenbruch der ökonomischen und politischen Fundamente der gegenwärtigen Gesellschaftskonstruktion benötigen. Seit ein paar Tagen kursiert auf einigen Transition-Blogs ein noch nicht offiziell veröffentlichtes Papier des Zentrums für Transformation der Bundeswehr zum Peak Oil im Rahmen ihrer Forschungsreihe zu den sicherheitspolitischen Implikationen knapper Ressourcen. Darin heißt es: »Vor dem Hintergrund einer nun abnehmenden Zahl relevanter Ölexporteure […] und ihrer finanziellen Potenz sind alle Bedingungen für die erneute Bildung von Monopolen gegeben. Ressourcen­nationalismus ist der Ausdruck eines legitimen Interesses der Bevölkerung an einem gerechten Anteil am Reichtum des eigenen Landes. Mit einer Verstaatlichung von Ölfirmen […] wüchse aber auch die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung von Abhängigkeiten. […]. Je klarer wird, wie knapp Erdöl tatsächlich ist, desto stetiger werden die Preise des Erdöls und damit die Gewinne der Förderländer steigen. Das Kalkül des ›Political Peakings‹ würde umso nachvollziehbarer werden.«
 Man höre und staune! Der beschworene »Ressourcennationalismus« kommt schon nahe an die von mir und anderen befürchtete Ressourcendiktatur heran.


So wie die Gemeinschaftsbewegung schon mal vorausgegangen ist, so können wir uns auch politisch selbst ermächtigen. Dazu müssen wir weder eine Revolution anzetteln noch warten, bis der Deutsche Bundestag uns alles so einrichtet, wie wir es gerne hätten. Die skizzierten politischen Basisstrukturen können wir selbst aufbauen. Wenn wir auf zivilgesellschaftlicher Ebene anfangen und die Zusammenhänge, die wir brauchen, selber schaffen, wird die staatliche Ebene nachziehen.
Dass wir uns gemeinsam dazu ermächtigen, steht jetzt an. Ob es uns auch gelingt, wird in erster Linie dadurch entschieden, ob wir es denn wirklich, wirklich wollen.
Gelingt uns die Selbstermächtigung im individuellen Rahmen, dann haben wir ein paar schönere Menschen, freiere Geister und mutige Pioniere in den Nischen und an den Rändern unserer Kultur. Wenn uns aber die Selbstermächtigung des Wir gelingt, haben wir eine andere Gesellschaft.


Die Hoffnung, dass die Zeit dazu reicht, ist klein. Wir können nichts anderes tun, als unverdrossen und jetzt in dieser Richtung handeln. //




Kaum zu glauben, aber jederzeit nachzulesen
Die beiden Reports des World Business Council for Sustainable Development (www.wbcsd.org) findet man unter: http://is.gd/eqmSY und http://is.gd/eqn8W. Die Statistik der Demokratien liefert http://is.gd/eqwgB, und die Peak-Oil-Studie der Bundeswehr gibt’s unter 
http://is.gd/eoT5P

weitere Artikel aus Ausgabe #4

(Postwachstums-)Ökonomievon Lara Mallien

Quergedacht: Grundeinkommen

Haben Sie Besuch, und befürchten Sie einen langweiligen Abend, dann bringen Sie das Thema »­Bedingungsloses Grundeinkommen« auf den Tisch, und für Diskussionsstoff ist gesorgt. Das empfiehlt dm-Drogeriemarktchef und Vordenker der Grundeinkommens-Bewegung Götz Werner auf seinen Vorträgen.

Photo
von Sabine Maiya Storch

Schmelzt das Eis in euren Herzen! (Buchbesprechung)

Angaangaq, Ältester der Eskimo-Kalaallit aus Grönland, hat bereits 1978 vom schmelzenden Eis in Grönland berichtet, auch vor den Vereinten Nationen. Sein neues Buch, herausgegeben von dem Theologen und Philosophen Christoph Quarch, der viele Jahre lang die evangelischen Kirchentage

Gemeingütervon Jochen Schilk

Maximale Selbstbestimmung?

»Der Kapitalismus ist kein Erfolg. Er ist weder intelligent noch schön, er ist weder gerecht noch tugendhaft – und außerdem funktioniert er nicht. Kurz gesagt, wir mögen ihn nicht und fangen an, ihn zu verachten. Wenn wir allerdings darüber nachdenken, was wir an

Ausgabe #4
Zumutung

Cover OYA-Ausgabe 4Neuigkeiten aus der Redaktion