Gemeinschaft

Die Kraft der Solidarität

Die Initiative »Cucula« entwickelt selbstbestimmte Perspektiven mit Flüchtlingen.
von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #31/2015
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© Corinna Sy

Mitten in Berlin, im Kreuzberger Gräfe-Kiez, bildet das Nachbarschaftshaus Urbanstraße e. V. einen Treffpunkt für Menschen mit verschiedensten Hintergründen. Nachbarschaftshäuser sind ihrem Selbstverständnis nach offen für alle. Doch es gibt sichtbare und unsichtbare Barrieren, die es wahrzunehmen und abzubauen gilt.


Von Oktober 2012 bis zum April 2014 ­lebten Hunderte Geflüchtete in einem Camp auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg und protestierten damit gegen rassistische Flüchtlingspolitik und für ihr Bleiberecht. Viele von ihnen waren über das Mittelmeer nach Europa gekommen und zuerst im italienischen Lampedusa an Land gegangen. Nicht weit vom Oranienplatz ist das »Internationale JugendKunst- und Kulturhaus Schlesische27« zu Hause. Dort gehen Menschen jeden Alters und jeder Herkunft mit und ohne Fluchterfahrungen ein und aus. Sie beteiligen sich an ­Kreativprojekten, nutzen Fortbildungen, holen ­Schulabschlüsse nach oder besuchen Deutschkurse.

Dort fanden im Winter 2013/14 auch fünf junge Männer aus dem Oranienplatz-Camp – Ali, Maiga und Malik aus Mali sowie Moussa und Saidou aus Niger – ein Obdach. Um ihre kahlen Zimmer einzurichten, hatte der Produkt­designer Sebastian Däschle die Idee, mit ihnen in der Werkstatt des Kulturhauses Möbel zu bauen. Jedoch wurde schnell deutlich, dass die Geflüchteten viel dringend­er als eigene Möbel vor allem Arbeit und Einkommen brauchen.
Lampedusa-Flüchtlinge haben kein stabiles Aufenthaltsrecht in Deutschland, sondern müssten nach den europäischen Dublin-Gesetzen in Italien einen Asylantrag stellen. Dorthin wollen sie jedoch auf keinen Fall zurück. Ali berichtet: »Ich habe in Italien Papiere, aber Italien hat keine Arbeit, die Leute schlafen auf der Straße.«
Das »Einigungspapier Oranienplatz« zwischen der Senatsverwaltung und den Flücht­lingen, mit denen diese zum Abbau des Protestcamps bewegt wurden, verspricht ihnen »Zugang zur Berufsausbildung, zum Studium und zum Arbeitsmarkt«. Jedoch hat sich die Berliner Innenverwaltung unter CDU-Senator Henkel bislang an etliche Vereinbarungen mit Geflüchteten nicht gehalten, so dass wenig Hoffnung besteht, von Seiten der herrschenden Politik oder der Verwaltung Unterstützung zu bekommen.
Sebastian Däschle betont in dieser nicht ganz einfachen Situation: »Wir ­glauben an Selbstwirksamkeit, an Mut zum ­Handeln und an Kreativität.« Das ist der Kern ­seiner Idee, mit einem Möbelbau-­Projekt aus ­eigener Kraft ein Unternehmen von und für Flüchtlinge aufzubauen, mit dem diese sich Arbeitsplätze schaffen, um darüber ein Bleiberecht zu erhalten und nicht dauerhaft von Sozialleistungen abhängig zu sein.
Die engagierte Geschäftsführerin des Kulturhauses Schlesische27, Barbara Meyer, unterstützte das Vorhaben von Anfang an. Ein gemeinnütziger Bildungsverein gibt dem Ganzen vorerst den formalen Rahmen. Sein Name Cucula bedeutet in der westafri­kanischen Sprache Hausa, in der die fünf Geflüchteten sich untereinander verständigen, »etwas verbinden, gemeinsam machen« und drückt den Geist aus, von dem das solidarische Vorhaben getragen ist. Unter dem Dach des Vereins sollen die Voraussetzungen für ein Flüchtlingsunternehmen – eine »Refugees Company for Crafts and Design« – geschaffen werden.

Kaufe einen Stuhl und schaffe einen Platz
Die Produkte, mit denen Cucula sich am Markt behaupten möchte, sind Design-klassiker des Italieners Enzo Mari. Dieser veröffentlichte bereits 1974 Bauanleitungen für rustikale Möbel, die jede und jeder selbst bauen kann, mit wenigen Werkzeugen und ohne Vorkenntnisse. Seine Produktserie »Autoprogettazione« umfasst Stühle und Bänke, Tische und Betten, Schränke und Regale. Dahinter steckte die Idee, dass Menschen lernen können, wie Möbel konstruiert sind, wenn sie diese selbst bauen, statt fertige Industrieprodukte zu kaufen. Vierzig Jahre später zeigt Enzo Mari sich ­begeistert von Cucula und überlässt dem Projekt die exklusiven Rechte, seine Designs für ihre Produkte zu verwenden. So werden nun bei Cucula die Möbel nicht zum eigenen Gebrauch, sondern zur Sicherung des Bleiberechts und der ökonomischen Existenz der Geflüchteten hergestellt.
Ein ganz besonderes Möbelstück ist der Stuhl mit dem Namen »Botschafter«. In ihm sind Planken von Booten verbaut, die in Lampedusa an Land gespült wurden. »­Dieses alte Holz von Schiffswracks aus Lampedusa ist Teil unserer Geschichte«, sagt Malik. »Es ist wichtig, dass diese Geschichte nicht vergessen wird.« Mit der Weiterentwicklung der Entwürfe von Enzo Mari können Ali, Maiga, Malik, Moussa und Saidou ihre eigenen künstlerischen Fähigkeiten entfalten und vielleicht wenigstens einen Teil ihrer Fluchterfahrungen verarbeiten. Bei der Herstellung der Designermöbel erwerben sie handwerkliche Basisquali­fikationen, die sie auf eine formale Berufsausbildung vorbereiten.
Das ambitionierte Projekt hat mittlerweile eine eigene Werkstatt gefunden, nicht weit vom Kulturhaus Schlesische27 in der selbstverwalteten Kulturfabrik am Flutgraben. Neben Sebastian Däschle als Werkstattleiter arbeiten dort Corinna Sy als Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit sowie Jessy Medernach als Zuständige für Finanzen und sozialpädagogische Betreuung mit den Geflüchteten zusammen. Der strukturierte Arbeitsalltag ist für Menschen, die jahrelange Flucht und existenzielle Bedrohungssituationen überlebt haben, besonders wichtig, um endlich zur Ruhe zu kommen. So berichtet Maiga: »Von neun gestarteten Schiffen sanken acht bei der Überfahrt. – Ich habe auf meiner Flucht viele Menschen sterben sehen. Ich konnte nichts dagegen tun.«

Bildungsstätte und Familienersatz
Der Vormittag dient dem praktischen Lernen und der Arbeit in der Werkstatt; nachmittags gibt es Deutschunterricht, Alltagsunterstützung und bei Bedarf rechtliche Beratung sowie Hilfe in allen Behördenangelegenheiten. Das Team verbringt auch viel Freizeit miteinander, sie kochen und essen, feiern, unternehmen etwas in der Stadt. Cucula ist für die Geflüchteten wie eine Familie. Vielleicht ist dieses Projekt das erste stabile Umfeld, das sie überhaupt erleben, denn sie haben sich bereits als Kinder oder Jugendliche auf die Flucht begeben müssen.
Cucula wäre kaum möglich ohne diejenigen, die in vielfältiger Weise zum Gelingen beitragen, zum Beispiel durch Rat und Tat in rechtlichen, steuerlichen oder finanziellen Fragen, bei der Öffentlichkeitsarbeit und mit monetärer Unterstützung. Dabei ist sicherlich nicht zu unterschätzen, dass die Mitwirkung an dem Projekt ein Geben und Nehmen ist: Es hilft gegen Gefühle der Ohnmacht und Verzweiflung angesichts einer übermächtig scheinenden, ­unmenschlichen Ausländerpolitik und einer rassistischen Verwaltungspraxis, wenigstens im Kleinen einen konkreten Beitrag für eine menschlichere, solidarische Welt zu leisten.
Um ein professionelles Unternehmen aufzubauen, ist viel Geld nötig. Daher hat Cucula im November 2014 auf ­­Startnext.de
eine Crowdfundingkampagne mit einem Fundingziel von 150 000 und einer Fundingschwelle von 70 000 Euro gestartet. Dieser ungewöhnlich hohe Betrag war eine mutige Entscheidung, denn wenn im Finanzierungszeitraum bis zum 1. Januar 2015 keine 70 000 Euro zusammengekommen wären, dann hätten die Geldgeberinnen ihr Geld zurückbekommen und Cucula wäre leer ausgegangen. Aber das Team war so tief vom Projekt überzeugt und hatte so viel Vertrauen in die Solidarität der Crowd, dass es alle Warnungen und Bedenken in den Wind schlug und bei dem hochgesteckten Ziel blieb.

»Wir brauchen solche Projekte …«
Aber das Team war so tief vom Projekt überzeugt und hatte so viel Vertrauen in die Solidarität der Crowd, dass es alle Warnungen und Bedenken in den Wind schlug und bei dem hochgesteckten Ziel blieb.
Mit dem Geld sollen für ein Jahr Ausbildungsstipendien für Ali, Maiga, Malik, Moussa und Saidou bezahlt werden. Wer sich an der Aktion finanziell beteiligt hat, konnte ein Möbelstück aus der Autoprogettazione-Serie erwerben – die 50 verfügbaren Botschafter-Stühle waren bald ausverkauft. Und das Vertrauen in die Solidarität der Crowd wurde belohnt: Schon elf Tage vor dem Ende der Kampagne war der erforderliche Mindestbetrag gesammelt. Insgesamt konnte Cucula über Startnext fast 124 000 Euro einnehmen.
Für die Crowdfunding-Kampagne hat Cucula prominente Botschafterinnen und Botschafter gewinnen können, die in Video­clips auf dem Kampagnenblog darlegen, warum sie das Projekt unterstützen. So sagt zum Beispiel der Direktor der Berliner Filmfestspiele, Dieter Kosslick: »Diese Initiative zeigt, dass man etwas machen kann.« Der bekannte Künstler Olafur Eliasson ist überzeugt: »Solche Projekte kommen nicht nur den Flüchtlingen zugute, sondern unserer Gesellschaft insgesamt. Wir brauchen diese Projekte, weil sie uns unterstützen und uns helfen, unsere Gesellschaft neu zu denken.«
Der Erfolg des Crowdfundings ist ein deutliches Signal aus der Bevölkerung, dass es das Projekt Cucula geben soll. Die Idee »Kaufe einen Stuhl und schaffe einen Platz« ist angenommen worden. Nun, nachdem die Ausbildungsstipendien für ein Jahr finanziell gesichert sind, beginnen die mühsamen Verhandlungen mit der Ausländerbehörde. Dabei wird politischer Rückenwind weiterhin notwendig sein, sowohl durch die Unterstützerinnen und Unterstützer als auch durch die Parteien im Abgeordnetenhaus –
denn es geht hier um mehr als um die derzeit fünf Geflüchteten im Projekt! Die Refugees-Company soll dauerhaft Perspektiven für viele weitere Geflüchtete anbieten.
Mit Cucula wollen sie ein Zeichen setzen, dafür dass sich der Umgang mit Menschen, die nach Deutschland flüchten, ganz grundsätzlich ändern muss. •


Elisabeth Voß (59) beschäftigt sich intensiv mit anderen Lebens- und Arbeitsformen. Sie veröffentlicht zu Themen rings um alternative, solidarische und genossenschaftliche Wirtschafts­weisen. www.elisabeth-voss.de

 

Noch mehr Solidarität mit Flüchtlingen zeigen
Neben Cucula (www.cucula.org) gibt es zahlreiche weitere Projekte, die sich für Solidarität mit Flüchtlingen einsetzen. Die Seite www.wie-kann-ich-helfen.info gibt einen bundesweiten Überblick. Auf www.fluechtlinge-willkommen.de sei besonders hingewiesen: Diese Gruppe organisiert z. B. in Berlin Zimmer in Wohngemeinschaften für Geflüchtete. Weitere Initia­tiven enthält die Broschüre »Refugees welcome. Gemeinsam Willkommenskultur gestalten« von Pro Asyl und der Amadeu Antonio Stiftung (www.amadeu-antonio-stiftung.de).

 

Anmerkung der Autorin zur Abweichung dieses Textes von der gedruckten Version

Nachdem ich den Cucula-Beitrag „Die Kraft der Solidarität“ abgegeben hatte, wurden von der Oya-Redaktion noch Änderungen am Text vorgenommen, die nicht mit mir abgesprochen waren. Dieser Online-Text ist die Ursprungsfassung.
Wichtig ist mir insbesondere der Absatz direkt unter der Überschrift „Kaufe einen Stuhl und schaffe einen Platz“. In der gedruckten Ausgabe steht dort (Seite 75, mittlere Spalte): „Vierzig Jahre später zeigt Enzo Mari sich begeistert von Cucula und überlässt dem Projekt die exklusiven Rechte, seine Designs für ihre kommerziellen Produkte zu verwenden.“ Das Wort „kommerziell“ stammte nicht von mir, sondern wurde von Oya eingefügt.
In der Oya-Endredaktion war die Frage aufgekommen: „Wenn sich jeder die Sachen selbst bauen kann, warum müssen dann Rechte überlassen werden?“ Mit dem Begriff „kommerziell“ sollte verdeutlicht werden: „Nur der Selbstbau ist open source, wenn man mit den Möbeln handeln will, braucht man die Rechte des Designers.“ Dieses Anliegen kann ich nachvollziehen, und vielleicht hätte ich das deutlicher ausformulieren sollen. Nur ist nach meinem Verständnis der Begriff „kommerziell“ hier vollkommen fehl am Platz.
Laut Duden bedeutet kommerziell: „a. den Handel betreffend, geschäftlich; b. Geschäftsinteressen wahrnehmend, auf Gewinn bedacht“. Und damit ist das Problem bereits benannt.
In der kapitalistischen Warenwelt werden Produkte in der Regel zum Zweck des Verkaufs hergestellt, um damit einen möglichst hohen Gewinn (Überschuss der Erträge über die Kosten) zu erzielen. Dieser Gewinn wird vielleicht teilweise reinvestiert (für zukünftig steigende Gewinne), dient aber wesentlich der privaten Aneignung als Profit. Der Begriff „kommerziell“ drückt also weit mehr aus als nur die oberflächliche Beschreibung, dass ein Produkt verkauft wird. Er beinhaltet gleichzeitig, dass dieses Produkt genau zum Zweck der Verkaufs und der Gewinn-als-Profit-Erzielung hergestellt wird. Ein möglichst hoher Tauschwert (Preis) ist das Ziel dieses Wirtschaftens, der Gebrauchswert (Nutzen) des Produktes tritt in den Hintergrund und verschwindet zunehmend – das lässt sich an abnehmender Qualität und Lebensdauer, gesundheitsschädigenden Inhaltsstoffen etc. gut erkennen.
Demgegenüber steht bei Produkten, die in alternativen/ sozialen/ solidarischen Ökonomien hergestellt werden, die Erfüllung von Bedürfnissen, der Nutzen oder Gebrauchswert im Vordergrund. Darüber hinaus bzw. oft direkt damit verbunden entsteht ein sozialer Mehrwert. Der Verkauf (sofern nicht andere Formen des Austauschs gewählt werden) ist nicht vorrangiges Ziel und einziger Zweck dieses Wirtschaftens, sondern dient anderen, sozialen und solidarischen Zielen. Oft reicht es bereits aus, die Kosten zu decken. Wenn darüber hinaus ein Gewinn erzielt wird, dann wird er in der Regel im Sinne der ideellen Zwecke verwendet – zumindest sollte dies so sein.
Im Fall der Cucula-Produkte geht es vorrangig darum, den Geflüchteten einen sicheren Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen, für sie und mit ihnen Arbeit, Ausbildung, Einkommen und einen sozialen Rahmen dafür zu organisieren. Diesem Ziel dient der Verkauf der Designermöbel, der Botschafter-Stuhl macht das besonders schön deutlich. Insofern sind die Cucula-Produkte keineswegs kommerzielle Produkte, auch wenn sie als Waren auf dem Markt erscheinen.
Unter dem gleichen Begriff verstehen verschiedene Menschen oft ganz Unterschiedliches, und es lohnt sich, genau zu sein und sich darüber auszutauschen, was wer womit meint. Insofern finde ich es gar nicht so schlecht, dass ich diese Änderung meines Textes – über die ich mich natürlich sehr geärgert habe – nun als Gelegenheit nutzen kann, an dieser Stelle hoffentlich ein wenig zur Begriffsklärung beizutragen.
Elisabeth Voß, März 2015

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