Gesundheit

Konkrete Inklusion

Menschen mit und ohne Behinderung gestalten gemeinsam ihren Kiez.
von Jana Kästner, erschienen in Ausgabe #31/2015
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© Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.v.

Mitten in Berlin, im Kreuzberger Gräfe-Kiez, bildet das Nachbarschaftshaus Urbanstraße e. V. einen Treffpunkt für Menschen mit verschiedensten Hintergründen. Nachbarschaftshäuser sind ihrem Selbstverständnis nach offen für alle. Doch es gibt sichtbare und unsichtbare Barrieren, die es wahrzunehmen und abzubauen gilt.


Seit Januar 2014 koordiniert Ulrike Pohl das Projekt »Inklusion konkret«. Als Ansprechpartnerin berät sie verschiedene Stadtteilzentren, regt den Erfahrungsaustausch untereinander an und sucht die Kommunikation zu Akteuren der Behindertenarbeit wie zu den betroffenen Menschen selbst. Initiiert wurde »Inklusion konkret« vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e. V., dem Nachbarschaftsheime, Bürgerhäuser und Stadtteilzentren aus ganz Deutschland angehören. Mit Geldern aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) soll inklusive Stadtteilarbeit gefördert werden.
»Inklusion ist für mich ein Herzensthema«, sagt die engagierte Sozialpädagogin. Selbst im Rollstuhl unterwegs, erlebte sie eine Kindheit, wie sie in der DDR für behinderte Kinder üblich war: »Mit acht bin ich ins Internat eingezogen. Zehn Jahre lang war ich weit weg von zu Hause.« Nur einmal im Monat konnte sie am Wochenende zu ihrer Familie fahren. Über 200 Kinder lebten mit ihr zusammen in der Einrichtung. Schülerstreiche an der Bushaltestelle auszuhecken – das war ihr verwehrt. »Ich musste kaum noch eine Jacke anziehen – man fiel aus dem Bett und war in der Schule«, beschreibt ­Ulrike Pohl diese Zeit. Seitdem geht sie ihren Weg jenseits von Sondereinrichtungen. »Es war ein Erlebnis, zum ­ersten Mal einen richtigen Arbeitsweg zu ­haben, erst zur Uni und später ins Büro.«
Den Weg ins Nachbarschaftshaus Urbanstraße legt Fred Kutzner mit dem E-Rollstuhl zurück; mit dem Fahrstuhl gelangt er ins Haus. Barrierefreiheit zu schaffen und diese auch öffentlich zu kommunizieren, bringt Gäste, die sonst ausgeschlossen wären. Sie nehmen nicht nur an Freizeittreffs und Kursen teil, sondern setzen sich als Expertinnen und Experten in eigener Sache für behinderte Menschen im Kiez ein. »Damit wir überhaupt wahrgenommen werden, müssen wir in der Öffentlichkeit gesehen werden. Aber wenn die nicht barrierefrei ist, kommen wir gar nicht dorthin«, beschreibt Fred Kutzner das gesellschaftliche Problem. So hat sich in der Urbanstraße eine Gruppe von Aktiven zusammengefunden. Gemeinsam überlegen sie, was sich an Stufen vor Läden und Cafés, am geringen Interesse der Medien oder an unverständlich geschriebenen Veranstaltungshinweisen ändern lässt.
Ulrike Pohl beschreibt, wie sie durch Entscheidungen anderer Menschen eingeschränkt wird: »Oben auf dem Fernsehturm ist eine Besucherplattform, von der aus man über Berlin gucken kann.« Der Zutritt ist aber für Nutzerinnen von Rollstühlen aus Brandschutzgründen untersagt. »Da nimmt man mir eine Entscheidung ab, die ich gern selbst fällen würde. Das wurmt mich. Ich würde gerne mal da rauf.«
Positive Erfahrungen macht sie jedoch in den Nachbarschaftshäusern. Dort trifft Ulrike Pohl auf Menschen, die offen dafür sind, Bedingungen für ein Miteinander aller zu schaffen und dieses Anliegen auch in den Kiez hineinzutragen. Damit noch mehr Menschen in Kreuzberg aktiv werden, wird in der Urbanstraße noch bis Mai eine Fortbildungsreihe zu dieser Thematik durchgeführt. Angehende Multiplikatoren und Expertinnen setzen sich dabei mit ihren eigenen Haltungen und Erwartungen auseinander; sie lernen, wie Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen barrierefrei gestaltet werden und wie sie gegenüber Behörden oder Gewerbetreibenden ihre Anliegen und Ziele vertreten können. Ulrike Pohl war an der Entwicklung des Konzepts beteiligt und wirkt als Referentin mit.
Welche Veränderungen möglich sind, zeigt die Aktivengruppe des Hauses in der Urbanstraße. Nach beharrlicher Kommunikation mit dem Ordnungs- und Tiefbauamt wurde der Kottbusser Damm barrierefrei umgebaut. Alle, die mit Rollstuhl, Rollator oder Kinderwagen unterwegs sind, kommen nun auf stabilen, ebenen Gehwegen gut voran und finden an den Kreuzungen abgesenkte Bordsteine, die leicht zu überqueren sind. Die Umgestaltung des Kottbusser Damms zeigt, wie Gelder, die nicht explizit für Behindertenhilfe, sondern beispielsweise für bauliche Maßnahmen bestimmt sind, genutzt werden können, um die Mobilität für viele Menschen zu verbessern.

Parallelwelten finden zusammen
Auch mit dem Stadtteilzentrum in Pankow arbeitet Ulrike Pohl für »Inklusion konkret« zusammen. Unter anderem leitet sie dort den »Perspektivwechsel«: Schülerinnen und Schüler können dabei mit Simulationsbrillen selbst erleben, wie Menschen mit Sehbeeinträchtigung ihre Umgebung wahrnehmen. Selbst einmal im Rollstuhl unterwegs, erfahren sie, wie Bordsteinkanten oder Treppen zu Hindernissen werden, die schwer oder gar nicht überwunden werden können.
Behinderte Menschen wirken auch in Pankow aktiv an der Öffnung des Hauses mit. Sie prüfen zum Beispiel, wie verständlich das Programmheft ist: Wird »Leichte Sprache« verwendet? Gibt es Bilder, die den Inhalt einfach erklären, damit er auch für Menschen, die nicht gut lesen können oder deren Muttersprache nicht Deutsch ist, deutlich wird? Ebenso wird auf die Preisgestaltung geachtet – denn auch zu hohe Kosten können der Grund sein, nicht an Veranstaltungen teilzunehmen. Entscheidend dafür, sich willkommen zu fühlen, ist letztlich die Offenheit, mit der Neuankömmlinge begrüßt werden. »Bin ich erwünscht?« »Werde ich komisch angeschaut?« »Verstehen mich die Menschen und verstehe ich sie?« Mit solchen Fragen umreißt Ulrike Pohl die ­Dimension von unsichtbaren Barrieren.
Bei Freizeit-, Bildungs- und Kulturveranstaltungen unterscheidet der Berliner Senat zwischen Behindertenhilfe und der Förderung von Nachbarschaften. Die Folge davon ist, dass behinderte Menschen zwar Angebote in speziellen Einrichtungen nutzen können, häufig aber nicht dort, wo ihre Freundinnen und Nachbarn aus dem Kiez sich treffen. »Warum legen wir diese Gelder nicht zusammen und gestalten gemeinsame Angebote, die im Sozialraum – also dem Kiez, stattfinden?«, fragt Ulrike Pohl und initiiert erste Gespräche zwischen den beiden Abteilungen in der Senatsverwaltung.
Ein intensives Miteinander von Nachbarschaftshäusern, Vertretungen behinderter Menschen und anderen Akteuren im Stadtteil gibt es erst seit kurzem. »Wir haben lange Zeit in Parallelwelten gelebt und es verpasst, aufeinander zuzugehen«, sagt Ulrike Pohl.
Da öffentliche Förderungen bei Läden, Arztpraxen und Kneipen nicht greifen, müssen die Besitzerinnen oder Betreiber hier persönlich angesprochen werden. Die Aktivengruppe unternahm gleich nach ihrer Gründung im April 2013 einen »Kiezspaziergang zur Barrierefreiheit«. Begleitet von Mitarbeiterinnen des Nachbarschaftshauses und Studierenden der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit sowie der Behindertenbeauftragten für den Stadtteil Kreuzberg, Ulrike Ehrlichmann, erfassten sie Barrieren und informierten darüber, wie mobile Rampen genutzt und wo sie erworben werden können. »Jalal Mocho, der Inhaber des Friseurladens ›Kristall‹ in der Urbanstraße, zimmerte selbst eine Rampe aus Holz, nachdem ich mich mit ihm unterhalten hatte. Jetzt lasse ich mir gerne dort die Haare schneiden«, erzählt Rainer Sanner von der Aktivengruppe.
Ehrenamtlich wurde in Nachbarschaftshäusern bereits einiges bewegt. Ulrike Pohl regt an, dass behinderte Menschen auch hauptberuflich dort tätig werden. Und es gibt noch mehr zu tun: »Um beim Thema Inklusion weiterzukommen, braucht es Menschen, die über lange Zeit dranbleiben«, sagt sie. Wenn das Projekt Inklusion konkret im Sommer ausläuft, warten weitere Ziele darauf, realisiert zu werden. »Noch immer gibt es große Heime für behinderte und alte Menschen. Wer hat denn Lust, dort zu leben?«, fragt Ulrike Pohl. »Wir brauchen andere Strukturen im öffentlichen Bereich und Kooperationen mit der Privatwirtschaft, den Wohnungsbau- und Verkehrsgesellschaften. Dazu will ich beitragen.« •


Jana Kästner (39) engagiert sich als Soziale Verhaltenswissenschaftlerin und Journalistin für eine inklusive Gesellschaft. Das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung gehört seit ihrer Kindheit zu ihrem Leben.


Hinein in die inklusive Stadtteilarbeit!
www.inklusionkonkret.info
www.nachbarschaftshaus.de
www.stz-pankow.de

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