Literatur

Übersetzungen aus der Natur (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #14/2012
Photo

Alle menschliche Sprache wurzelt in der mehr-als-menschlichen Welt, schreibt der Naturphilosoph David Abram in seinem Werk »Im Bann der sinnlichen Natur«: Vogelrufe, Wolfsgeheul, Donnergrummeln – sie alle tragen als Ausdruck der belebten Welt zum Lexikon menschlicher Rede bei. »Ein Mensch ist ein weit durch die Zeit in Sprache geströmter Komet«, drückt diese Tatsache der australische Poet Les Murray aus. Wo sich die mehr-als-menschliche und die menschliche Sprache nichts mehr zu sagen haben, muss man übersetzen. Dieser Aufgabe nimmt sich der Ausnahmepoet in der vorliegenden Gedichtsammlung an. Er bearbeitet das Sediment menschlicher Sprache mit den ihm gegebenen Werkzeugen der dichterischen Einfühlung, des poetischen Ausdrucks und der lyrischen Verdichtung – manchmal so lange, bis nur noch ein paar lautmalerische Krumen aus Sirren, Grunzen, Gurren, Pfeifen bleiben –, und nähert sich so einem in der natürlichen Welt wurzelnden Kern der Sprache an.
Als Vermittler zwischen menschlicher und mehr-als-menschlicher Sphäre leiht uns Les Murray seine Empfindungsgabe, um einzutauchen ins Bewusstsein eines Schwarms von Fischen – dem »Aug-und-Auge« (eye-and-eye), dem »Ich der Augen« (the eyes’ I) – oder in das der »Massen« eines Grashalmkollektivs, und leiht uns sein Poetenohr, um dem elegischen inneren Monolog von Rindern auf der Schlachtbank zu lauschen, dem rohen Brechsprech gepferchter Mastschweine, den hochfrequenten Schallkaskaden der Fledermausakustik: ah, eyrie-ire, aero hour, eh?
Der verdienstvollen Übersetzung dieser zweisprachigen Ausgabe kommt zugute, dass sie gar nicht erst versucht, jeden Klangeffekt nachzubilden, sondern mit Präzession auf der Ebene der Wortbedeutung arbeitet. Es gibt in der englischen Sprache keine Poesie, lobte Derek Walcott, »die so verwurzelt ist in ihrer Heiligkeit«. Dies wäre Grund genug, Les Murrays Gedichte zu lesen. Dass er zu den sprachmächtigsten Vertretern seiner Zunft gehört, ein langjähriger Anwärter auf den Literaturnobelpreis ist und uns in seinen aus der Natur destillierten Gedichten zu unseren Ursprüngen zurückführt, ebenfalls. Nicht weniger bedeutsam ist aber, dass seine Sprache rundum beglückt.


Übersetzungen aus der Natur
(englisch/deutsch)
Les Murray
Edition Rugerup, 2007
96 Seiten
ISBN 978-9189034150
17,90 Euro


Weiterlesen: Tomas Tranströmer: Der wilde Marktplatz • Inger Christensen: Alphabet • Les Murray: Gedichte, groß wie Photos

Direkt beim Verlag bestellen.

weitere Artikel aus Ausgabe #14

Photo
von Elena Rupp

Kreuzberg kocht (Buchbesprechung)

Ausprobieren und sehen, wie’s schmeckt – dazu möchte die etwas ungewöhnliche Rezeptsammlung »Kreuzberg kocht« einladen. Doch ist hier nicht etwa nur das Nachkochen von Kochrezepten gemeint: Zwei Jahre lang haben die Fotografin Anna Schroll, die Günderin des

Photo
Bildungvon Nicholas Czichi-Welzer

Es muss kein Schornstein sein

Sie ist die Tochter einer der Gründer von Robin Wood. Die ­Tochter von jemandem, der irgendwann einmal genug davon hatte, tatenlos zuzuschauen, wie die Menschen die Welt für ein paar Rohstoffe ausquetschen. Die Mitarbeiter von Robin Wood, die sich speziell dem Schutz der nahen und

Photo
von Juliane Rudloff

Die neue Kunst des Wohnens (Buchbesprechung)

»Sich wohlfühlen« ist einer der am häufigsten genannten Wünsche in Bezug auf das Wohnen. Doch wie dieses Wohlgefühl genau aussieht oder wie es geschaffen werden kann, ist vielen Menschen oft nicht so klar. Vielleicht fühlen wir uns in unserem Leben irgendwie

Ausgabe #14
Welterben

Cover OYA-Ausgabe 14
Neuigkeiten aus der Redaktion