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Imperium (Buchbesprechung)

von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #16/2012
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Der Nürnberger August Engelhard gehörte sehr wahrscheinlich zu den bizarrsten Vertretern der großen Lebensreform-Bewegung, die sich zur vorletzten Jahrhundertwende in verschiedensten Ansätzen aufmachte, der Industriegesellschaft eine neue Kultur, ja, einen neuen Menschen entgegenzusetzen. Wie viel gibt es da zu entdecken! Fast alles, was heute zum Themenspektrum der Kulturkreativen zählt, wurde schon vor mehr als hundert Jahren ausgeheckt und ausprobiert. August Engelhards ganz spezielle Vision spann sich dabei um die Utopie eines »Sonnenordens«, einer Gemeinschaft von streng vegetarisch lebenden Nudisten, die er in seinem Buch »Eine sorgenfreie Zukunft« ausmalte. 1902 machte er mit seiner Ideologie ernst, schiffte sich in die kaiserliche Kolonie im Pazifik, genauer, nach Neupommern in Deutsch-Neuguinea, ein und erstand dort das kleine Eiland Kabakon mit seiner Kokosplantage. In Engelhards krudem Gedankengebäude spielte diese Nuss die Hauptrolle; wer sie esse, verzehre quasi Sonnenlicht, esse also Gott – und werde zu Gott. Mehr als diese Nahrung brauche der Zukunftsmensch nicht. Mittels im europäischen Deutschland geschalteten Anzeigen sowie der Veröffentlichung eines »Kokos-Evangeliums« gewann er tatsächlich zwei Dutzend Anhänger für das »barbarisch«-einfache, gottgefällige Leben am Äquator. Allerdings sollte die neureligiöse Gemeinschaftskolonie recht bald an ihren Widersprüchen, Naivitäten und Unvollkommenheiten zerschellen – und auch die totale Kokosdiät erwies sich irgendwann als gefährliche Mangelernährung.
Christian Kracht hat die ohnehin schon unglaubliche Story um Engelhard aufgegriffen und auf köstliche, bitter-böse Art zu seinem vierten Roman aufbereitet. Nicht alle Handlung orientiert sich darin strikt an den Überlieferungen vom realen Kleinstimperium Engelhards. Doch wem Authentizität wichtiger ist als ein äußerst packendes Lesevergnügen, der mag die Fakten um den Ritter der Kokosnuss im Netz recherchieren. Krachts Erzähler jedenfalls rollt die Begebenheiten in amüsant halbironischem Ton auf. Mitunter verfällt er dabei in manieristische Ausdrucksweisen aus der Zeit Kaiser Wilhelms; obwohl oft recht kompliziert, lesen sich seine Sätze immer mit Freude. Und nicht erst auf den letzten Seiten, als der – durchaus wohlwollend dargestellte – Gutmensch sein kolossales Scheitern erlebt, überkommt einen das Gefühl, einen echten, einen wirklich guten T. C. Boyle in den Händen zu halten. ◆ 


Imperium
Christian Kracht
Kiepenheuer & Witsch, 2012
256 Seiten
ISBN 978-3462041316
18,99 Euro


Weiterlesen: T. C. Boyle: Gesamtwerk • Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene • Uwe Timm: Morenga

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