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Kommunale Intelligenz (Buchbesprechung)

von Peter Krause-Keusemann, erschienen in Ausgabe #25/2014
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Als zwei grundsätzliche vorgeburtliche Erfahrungen benennt der Neurobiologe Gerald Hüther in seinem jüngst erschienenen Buch über die »Kommunale Intelligenz« die Verbindung mit anderen Menschen sowie die Möglichkeit, durch Entwicklung über sich hinauswachsen zu können. Diese beiden Grunderfahrungen bildeten lebenslang den latenten Hintergrund für das Lernbedürfnis des Menschen. Zugleich würde ein Spannungsbogen zwischen Bedürfnis und Möglichkeiten indiziert, denn die Lebenswelt ist meistens für ein natürliches Lernen kaum noch zugänglich.
Was uns als Lebens- und Arbeitswelt umgibt, ist Ausdruck jener Entwicklungen, die durch Industrialisierung und Urbanisierung angestoßen wurden. Die natürliche Entwicklung der Fähigkeiten im Sinne eines selbstgewollten Lernens wird darin zugunsten der Anpassung an die technisierte Welt zurückgedrängt. In diesem Dilemma ging das Lernfeld der Kommune fast gänzlich verloren, stellt Hüther fest. Kinder erleben in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht mehr ohne weiteres, wie Nahrungsmittel erzeugt oder Gebrauchsgegenstände hergestellt werden. Folgenreich wirke sich diese Reduktion auf die Entwicklung der sogenannten Metakompetenzen aus, die von zentraler Bedeutung für die Fähigkeit zur Problemlösung sind. Diese Kompetenzen, so Gerald Hüther, lassen sich nicht im Unterricht vermitteln. Kinder und Jugendliche können sie also nicht erlernen, sondern müssen sie durch eigene Erfahrungen erwerben – und eben dazu sind jene kommunalen Lernräume und -gelegenheiten, die immer weniger werden, nötig.
Spannend zu erfahren ist, dass sich das Gehirn zeitlebens verändert. Neuronale Vernetzungen werden an seine Nutzung angepasst, und neue Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens macht, wirken bis in die Ebene der Gene. Diese Erkenntnis der Molekularbiologie unterstreicht, wie bedeutsam die Vielfalt dessen ist, mit dem sich ein Mensch in Beziehung setzt: »Unser Gehirn ist ein sozial geformtes Konstrukt.«
Laienverständlich wird hier erklärt, was ein Lernprozess ist und wie er idealiter ermöglicht wird. Dabei wird die Bedeutung des selbstbestimmten Lernens ebenso hervorgehoben wie die von »bewunderten Vorbildern«: Nur emotional aufgeladene Lerninhalte werden im Gehirn verankert, andere bald wieder vergessen. Wunderbar und einleuchtend wird herausgearbeitet, welche Bedeutung der Gemeinschaft, der Kommune für das Lernen zukommt.
Hüther löst mit diesem Buch einen Effekt aus, dem auch ich mich nicht entziehen konnte: Man beginnt die Welt mit anderen Augen zu sehen! Denn Lernende sind wir alle sicherlich, Lehrende hoffentlich. Zu beidem liefert das Buch erfrischende Inspirationen.


Kommunale Intelligenz
Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden.
Gerald Hüther
Edition Körber-Stiftung, 2013
ISBN 978-3896840981
125 Seiten
12,00 Euro

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