Titelthema

Italien im Wandel

Bürgerbewegungen in Italien stemmen sich gegen die Mafia und errichten auf beschlagnahmten Gütern ökosoziale Bauernhöfe als Keime für ein solidarisches Europa.
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© www.liberaterra.it

Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit – im ­Januar 2014 hatten 42,4 Prozent der italienischen Jugendlichen keinen Arbeitsplatz –, anhal­tende Pleitewelle bei kleineren und mittleren Unternehmen, Rückgang des Steueraufkommens, Rückgang der Ausgaben für Konsumgüter auf das Nachkriegsniveau, ­Zunahme des Staatsdefizits und der Staatsverschuldung – das ökonomische Bild Italiens ist düster. Hinzu kommen die Auswirkungen einer zwanzigjährigen reaktionären Medienpolitik, die jahrelang Entpolitisierung, Frauen- und Migrantenfeindlichkeit sowie Wettbewerb propagiert hat. Die Regierung Renzi ist derzeit darauf aus, Privatisierungen im großen Stil voranzutreiben.
Das Bild ist düster, aber es ist nicht vollständig. Es gibt auch ein anderes Italien, das neue Wege erfindet und menschliche Beziehungen in den Mittelpunkt stellt. Die Internetseite von »Paea« (Alternative Projekte für Energie und die Umwelt), www.paea.it, enthält einen Link zu einem »Amt für die Aufgabe des Arbeitsplatzes«. Es unterstützt Menschen dabei, wie sie ihren – auch siche­ren, gut bezahlten – Job an den Nagel hängen und glücklicher leben können.
Der Journalist Daniel Tarozzi hat in einer siebenmonatigen Reise durch ganz Italien Menschen besucht, die anders leben und wirtschaften. Seine Interviews gibt es als Videos auf www.italiachecambia.org (Italien im Wandel) und als Buch (»Io faccio così«). Durch solche Veröffentlichungen wird das Neue erkennbar. Unerhörte, nie ­dagewesene Dinge werden bekannt: Da ­haben kritische Konsumenten in den Städten von Nord- und Mittelitalien solidarische Einkaufsgruppen gegründet und ermöglichen so den Biobauern der Region das Überleben. Zudem verhalfen sie damit der neuen Anti-Mafia-Bewegung der Zivilgesellschaft in Sizilien zum Erfolg. Das kam so:

Schutzgeld ade
Eine Gruppe junger Leute, die sich in der globalisierungskritischen Bewegung engagierten, wollten im Jahr 2004 einen Fair-Trade-Pub in Palermo eröffnen. Im Geschäftsplan vermerkte ein Freund auch den Posten »Pizzo«, Schutzgeld. Doch die Gruppe wollte die Zahlung von Schutzgeld nicht in die Kalkulation aufnehmen und entwickelte einen Aufkleber mit dem Text: »Ein ganzes Volk, das Schutzgeld zahlt, hat keine Würde.« Bei Nacht und Nebel beklebten sie ganz Palermo damit. Die Aktion schlug wie eine Bombe ein. Nach anfäng­licher Panik verstanden die Ordnungskräfte, dass es sich um Widerstand gegen die Schutzgeld­erpressung handelte, und boten den Initiatoren Unterstützung an. Diese entrollten ein Transparent »Vereint gegen die Schutzgelderpressung!« mit ihrer E-Mail-Adresse. Bald meldeten sich die ersten Inhaber von Ladengeschäften und baten um Unterstützung. So entstand die Bewegung »Addiopizzo« – »Schutzgeld ade!«. Sie geht gegen diese uralte Mafia-Methode durch Veröffentlichung der Namen und Adres­sen von Ladenbesitzern und Kleinunternehmern, die sich weigern, Schutzgeld zu zahlen, vor. Ebenso werden die Kunden, die öffentlich erklären, dass sie diese Geschäftsleute mit ihren täglichen Kaufentscheidungen unterstützen, namentlich aufgelistet.
Allein in Palermo haben sich 600 Unternehmer angeschlossen, und mehr als 10 000 Kunden zählen zu den Unterstützern; die Bewegung feiert inzwischen Feste. Heute machen Mafia-Organisationen einen Bogen um die Läden, die das Addiopizzo-Logo an ihren Schaufenstern zeigen. Die Erpresser wissen, dass sie dort angezeigt werden.
Addiopizzo wird von der Bewegung für »kritischen Konsum« getragen, der sich vor allem unter jungen Leuten und in der Mittelschicht verbreitet. Sie nutzen die Macht der Einkaufstüte, um ihre Ablehnung des Mafia-Systems und der Schutzgelderpressung zu demonstrieren. Ladenbesitzer, die sich weigerten, Schutzgeld zu zahlen, mussten bisher befürchten, dass ihre Kundschaft ausblieb, weil sie Ärger witterte und sich nicht »einmischen« wollte; das brachte sie vielfach um ihre Existenz. Der kritische Konsum ermöglicht nun einen täglichen Ausdruck des Widerstands gegen das organisierte Verbrechen. Er kann sogar anonym vorgenommen werden und ist dadurch weniger riskant als andere Widerstandsformen. Indem er den Markt als Ort des Handelns wählt, stellt der gezielte Einkauf nicht nur die kulturelle Hegemonie der organisierten Kriminalität in Frage, er trifft auch ihre wirtschaftlichen Interessen.

Befreites Land
Eine verwandte Geschichte handelt von »Libera«, einem Bündnis von Vereinen, das in Turin gegründet wurde und ebenfalls Widerstand gegen die Mafia-Organisationen leistet.
Schon 1982 verabschiedete das italie­nische Parlament das Gesetz »Rognoni-­
La Torre Nr. 646/1982«, ursprünglich eingebracht von dem durch die Mafia ermordeten Parlamentsabgeordneten Pio La Torre. Es regelt die Beschlagnahmung von illegal erworbenem Vermögen durch den Staat. In der Folge wurden zwar viele Immobilien und Ländereien von Mafia-Bossen verstaatlicht, aber meist blieben sie dem Verfall preisgegeben oder sogar de facto im Besitz von Mafia-Familien. Im Jahr 2005 sammelte Libera eine Million Unterschriften für eine Petition zugunsten einer Verwendung dieser Güter für soziale Zwecke. Ein breites Bündnis von Organisationen, die italienweit agierten – vorwiegend außerhalb Siziliens – brachte die Petition zum Erfolg: Auf den beschlagnahmten Ländereien entstanden die ersten Landwirtschaftsgenossenschaften. In den ersten Jahren blieben sie unbekannt, aber dadurch, dass sie von Anfang an Landwirtschaft nach zertifizierten ökologischen Richtlinien betrieben, erfreuten sich ihre Produkte zunehmender Beliebtheit, vor allem in Nord- und Mittel­italien. Dank steigender Nachfrage nach gesunden, ökologisch und sozial fair produzierten Lebensmitteln begannen diese Genossenschaften zu gedeihen; die neu entstandenen Arbeitsplätze kamen vor allem jungen Leuten aus benachteiligten Schichten zugute.
Um die Dimension dieser Entwicklung richtig zu verstehen, muss man wissen, dass die Mafia von den Mächtigen heimlich protegiert wurde und so den italienischen Lebensmittelmarkt unterwandern konnte – wenigstens war es so bis zum Ende des Kalten Kriegs und auch unter der Regierung Berlusconi; selbst heute ist dieses Unheil nicht beendet. In den Regionen mit starker Präsenz der organisierten Kriminalität – ­Sizilien, Kalabrien und Kampanien – ist statistisch jeder dritte Landwirt von Übergriffen betroffen. Diebstahl von Maschinen und Ausrüstung sowie Schutzgelderpressung sind die häufigsten Delikte. Immer öfter werden Landwirte auch durch Drohungen gezwungen, die Ernte zu ­extrem niedrigen Preisen – oft sogar unter den Produk­tionskosten – abzugeben, was sie in das ­Dilemma stürzt, entweder der Erpressung nachzugeben oder die gesamte Ernte zu verlieren. In Sizilien werden Gemüse und Obst von unzähligen Familienhöfen angebaut. Diese kleinen Betriebe sind besonders verwundbar.
Die von Libera und anderen gegründeten Genossenschaften schlagen eine Bresche in die Festung der mafiösen Wirtschaft. Neue Genossenschaften entstehen, wenn beschlagnahmte Mafia-Ländereien von der zuständigen Kommune öffentlich ausgeschrieben werden. »Zuerst bewarben sich nur wenige Personen mit der entsprechenden Qualifikation«, sagt Umberto di Maggio von Libera in Francesca Fornos Buch »La spesa a pizzo zero« (Einkaufen zu null Schutzgeld). »Im Lauf der Zeit bewarben sich jedoch immer mehr junge, gut ausgebildete Landwirte.« Anfangs standen die Nachbarn den Genossenschaften misstrauisch bis feindselig gegenüber, doch nach und nach erkannten sie, dass die Vermarktung durch solidarische Kanäle gesündere Anbaumethoden und eine gesetzeskonforme Behandlung der Mitarbeiter mit sich brachte. Das zahlte sich aus – die Produkte mit der Kennzeichnung »Addiopizzo«, »Libera Terra« oder »Solidario Italiano« sind inzwischen sehr beliebt und besitzen einen hohen Symbolwert. Um ein wirksames Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität auch in anderen europäischen Ländern zu ermöglichen, wäre es hilfreich, wenn zum Beispiel das deutsche Parlament Gesetze verabschieden würde, die eine Beschlagnahmung des Vermögens überführter Mafiabosse – von denen derzeit viele ihre ergaunerten Gelder mit Vorliebe im »siche­ren« Deutschland investieren – ermöglichen würden. Dies sollte ebenfalls sozialen bzw. solidarischen Betrieben angeboten werden. Auch die Umkehr der Beweislast, die in Italien bei Mafia-Verdacht erfolgreich eingeführt wurde – der Beschuldigte muss dann nachweisen, dass er den Vermögensgegenstand rechtmäßig erworben hat –, müsste auf die EU-Länder ausgedehnt werden.

Die anderen Orangen
Während »grüner Konsum« in Deutschland oft nur einen urbanen Hedonismus befriedigt, ist in Italien die Bewegung für einen »kritischen Konsum« ein Politikum. Gruppen von jeweils rund 50 Familien – »Gruppi di Acquisto Solidale« (GAS) genannt – tun sich zusammen und kaufen gesunde Lebensmittel direkt von Biobauern aus der nahen Region. War die Bewegung früher vorwiegend in Nord- und Mittel­italien verbreitet, hat sie es inzwischen bis in den Süden geschafft. Auch Orangenbauern in Sizilien und Süditalien erfuhren vom Prinzip der GAS und wollten sich damit von der räuberischen Mafia-Vertriebsmaschinerie emanzipieren. Hilfsbereite Menschen aus dem Netzwerk der »Gasisti« organisierten für sie in vielen Städten in Anlehnung an die Direktvermarktung der Fischer »Anlandungen auf der Piazza«, also Märkte, auf denen die Orangenbauern ihre Zitrusfrüchte direkt verkaufen können. Indem sie den Zwischenhandel umgehen, verdienen sie genug, um ihre Mitarbeiter – oft Flüchtlinge aus Afrika – anständig bezahlen zu können. Das ist wichtig, denn bei der Orangenernte herrschen zum Teil sklavenähnliche Arbeitsbedingungen. Nach heftigen Unruhen in der Mafia-Hochburg Rosarno im Januar 2010, wo Jugendliche – darunter der Sohn des ’Ndrangheta-Oberhaupts – mit Luftgewehren auf afrikanische Tagelöhner geschossen hatten, gründete sich unter großem Zuspruch eine GAS für sizilianisches Bio-Obst. Niemand wollte mehr Sklaven-Orangen kaufen.

Die glücklichen Hühner
Der Sizilianer Roberto Li Calzi ist einer der Bauern, der das Prinzip GAS weiterverbreitet. Ursprünglich war er politischer Aktivist und lebte in der Stadt. Als seine Freundin ein Kind erwartete, beschloss er, Landwirt zu werden. In Agnone bei Syrakus begann er mit dem Anbau von Zitrusfrüchten, züchtete Bienen und übernahm »ausgediente« Legehennen aus der Massentierhaltung – arme Geschöpfe, halb gerupft, verhaltensgestört, erschöpft. Er erzählt, dass sich die im Orangenhain freigelassenen Hühner nach einer Weile erholen und abends oft auf die Äste der Orangenbäume flattern, um dort zu schlafen.
Roberto hatte wie die anderen sizilianischen Kleinbauern unter den Übergriffen, der Arroganz und der Ausbeutung durch mafiöse Großhandelsagenten zu leiden, bis er von den GAS erfuhr und dazu überging, solidarische Einkaufsgruppen direkt zu beliefern. Auf diese Weise konnte er nicht nur seine eigene Produktion vermarkten, sondern auch die seiner Nachbarn. So gründete er ein Konsortium, das er – inspiriert von seinen Legehennen – »Le Galline Felice« (Die glücklichen Hühner) nannte. Derzeit vereint es 15 Ökobauern mit dem Ziel, »eine freudvolle Beschäftigung zu schaffen, die die Würde der Arbeit und die Natur respek­tiert«, wie Roberto sich ausdrückt. Außerdem gründete er das »Archipelago Siqillyah« (»Siqillyah« ist ein uralter Name für Sizilien) – ein Netzwerk, zu dem auch Handwerker und andere Kleinunternehmer gehören.
»Wir helfen Produzenten, ihre Produkte in solidarischen Kreisläufen zu verkaufen.In einem Land wie diesem, wo die Bauern überlegen, ob sie sofort oder erst im nächsten Jahr aufgeben sollen, bedeutet das für uns, die eigene Energie einzusetzen, um unseren Konkurrenten zum Erfolg zu verhefen, denn wir können nur gemeinsam überleben.« Robertos »Galline Felici« ziehen immer größere Kreise. »Die Landwirtschaft ist Zugmaschine für andere Aktivitäten der Region. Wir brauchen in Sizilien nicht nur Tourismus, sondern auch Kommunikatoren, Grafiker, Programmierer, Steuerberater, Ingenieure, die alte Häuser instandsetzen, Rechtsanwälte, die ihren Beruf solidarisch ausüben, Installateure, die ihre Mitarbeiter korrekt bezahlen. Das Ziel ist, die gesamte Gesellschaft in solidarische Kreisläufe einzubeziehen, einschließlich der schwächeren Menschen. Wir brauchen die kleine, sanfte Revolution.« Für Roberto ist ein solidarisches Europa das einzig mögliche Europa. Doch wie kann es sich weiter ausbreiten? Durch Messen, Kongresse und vor allem durch die Runden Tische des Netzwerks ­Solidarische Ökonomie, einer Arbeitsgruppe, die Gesetze zur Förderung gemeinschaftlichen Wirtschaftens formuliert und in Kommunen und Regionen einbringt.
Der Weg aus der Nische verläuft über das Erzählen und Veröffentlichen – und über die eigene Entscheidung, sich mit den Produzenten aus der unmittelbaren Umgebung solidarisch zu verbinden. •

 

Giuliana Giorgi (64), Politologin und Dolmetscherin, lebt in Berlin und engagiert sich bei Attac und beim Forum Solidarische Ökonomie e. V.

Libera-Terra-Produkte sind auch hierzulande erhältlich
www.legalundlecker.de

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