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Vom Zorn zur Gabe

Lara Mallien porträtiert die rumänische Soziologin und Aktivistin Adela Fofiu.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #30/2015
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Auf der Degrowth-Konferenz Anfang September in Leipzig schleiche ich verspätet in einen Workshop über Aktivismus in Südosteuropa – einem für mich weitgehend weißen Fleck auf der Landkarte. Die Runde diskutiert über Widerstand gegen den Goldbergbau und über eine Karawane, die von einem »Ort des guten Lebens« zum nächsten ziehen soll. Mir gegenüber sitzt eine Frau mit wachen, grünen Augen. In ihren Redebeiträgen liegen eine Wärme und zugleich eine Leichtigkeit, die in dem kargen Seminarraum Wohlgefühl verbreiten. Wer ist sie?

»Adela & Dan, Casa de Cultura Permanenta, Cluj-Napoca, Romania«, lese ich auf ihrer Visitenkarte. Ein Haus der Permakultur – was bedeutet das? »Wir hatten einen Hotelbetrieb in Cluj, aber haben ihn vor einem Jahr aufgegeben«, erklärt Adela. »Immer war jemand im Hotel unglücklich: wir selbst, weil wir nicht mehr Teil der Tourismus-Industrie sein wollten, die Angestellten, weil sie von uns abhängig waren, die Gäste, weil irgendetwas fehlte. Heute praktizieren wir nur noch Schenkökonomie – und alle sind glücklich.«
Die quirlige Konferenz erlaubt kein längeres Gespräch. Adela und ihr Lebensgefährte Dan meinen, sie würden im November nach Słubfurt (alias Frankfurt an der Oder, siehe Seite 29) zum »Nowa-Amerika-Kongress« reisen, doch aus einem Treffen dort wird nichts. »Wir bauen gerade einen holzbefeuerten Küchenofen, wir können nicht weg«, mailen sie. Für Johannes Heimrath und mich steht Anfang Dezember eine Fahrt zu einem tschechischen Lernort im Böhmerwald an. Wäre das eine Gelegenheit, uns wiederzusehen? Nach dem Oya-Tag in Weimar starten Johannes und ich im Auto gen Südosten, holen Adela und Dan in Pilsen vom Bahnhof ab und schaffen es zu später Stunde gerade noch in das winzige Dorf Kváskovice in den Bergen, bevor ein verheerender Eisregen einsetzt. So verbringen wir einen tschechisch-rumänisch-deutschen Tag in einer zu Glas gefrorenen, neblig-weißen Winterwelt. Wir kochen, kraulen die Hauskatzen, schütteln Eis von brechenden Birken und denken gemeinsam nach: über unsere Heimaten, über Europa und die ganze Welt. »Und nachts im Traum über den Kosmos!«, lachen wir und trinken den besten Slivbovitz, den die Erde je hergegeben hat – ein Gastgeschenk aus dem Keller von Dans Großmutter.

Unternehmerin sein
Die heutige Urgroßeltern-Generation in Rumänien hat noch die Zeit vor dem sozialistischen Regime erlebt. Adelas Großmutter mütterlicherseits besaß einen ansehnlichen Bauernhof auf einer Anhöhe, die das transsilvanische Dorf Dăbâca überragte. Diese gutsherrschaftliche Position gefiel den Sozialisten nicht: Die Familie musste ins Tal umziehen. Doch auch als Adela mit ihren Eltern längst in der Stadt Cluj lebte, wanderte sie in den Sommerferien an der Hand ihrer Großmutter jeden Tag hoch auf den Hügel zur zerstörten Hofstelle, um in dem alten Garten einen Großteil des Gemüses für die Familie in der Stadt anzubauen. Nach der Rumänischen Revolution von 1989 wurde der Großmutter das enteignete Land, etwa 10 Hektar, wieder zugesprochen. »Diesen Sommer hat jemand das meiste davon über Nacht mit großen Maschinen umbrochen und darauf Mais angesät«, berichtet Adela empört. Bis heute war der Landgrabber nicht dingfest zu machen. Gegen die findigen Juristen der Agrarindustrie lässt sich ohnehin wenig ausrichten. Die Rechtslage ist in Bezug auf die Grundstücke mehr als verworren.
In der Stadt wächst Adela als Einzelkind auf. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde ihr Vater bald von seiner Offiziersstelle entbunden. Deprimiert ging er wie viele andere nach Spanien, um Geld für die Familie zu verdienen – mit mäßigem Erfolg. Ihre Mutter erlebt während Adelas Schulzeit, wie die Maschinenbau-Firma, in der sie als Ingenieurin im Bereich Budgetierung arbeitete, durch wechselnde Investoren von einer betrügerischen Pleite zur nächsten geführt wird. Immer wieder wird sie arbeitslos.
»Ich muss für meine Familie sorgen, und das kann ich am besten, indem ich für sie Arbeitsplätze schaffe« – das wird Adelas Credo als Soziologie-Studentin an der Universität von Cluj. Mit 22 Jahren, im Jahr 2006, lernt sie den 13 Jahre älteren Dan kennen. Die beiden werden nicht nur ein innig verbundenes Paar, sondern auch ein umtriebiges Unternehmerteam. Dan, der eigentlich Arzt werden wollte, aber während des Medizinstudiums das Krankenhauswesen so schrecklich fand, dass er auf Ökonomie umsattelte, arbeitet als Geschäftsführer eines öffentlichen Krankenhauses. Die erste Firma der beiden handelt mit Medizingeräten. Parallel bauen sie ein Büro für Personalentwicklung auf und organisieren Schulungen für größere Firmen. Da es immer wieder Probleme gibt, Seminargruppen in einer nicht zu teuren Pension gut unterzubringen, beschließen sie 2007, das Stadthaus von Dans Eltern in ein Hotel zu verwandeln. Fast den gesamten Umbau erledigen sie neben ihrer Arbeit im Krankenhaus und an der Universität selbst. »Im Juni 2008 brauchten wir dann eine Pause von der Knochenarbeit«, lacht Adela. »Da sind wir spontan für vier Tage nach Marokko geflogen.« Ein Weltmusikfestival in Fez hatte sie angelockt.
»Früher sind wir immer mit dem Flugzeug in den Urlaub gereist«, erinnert sich Adela. Der ökologische Fußabdruck war ein Fremdwort für sie. »Ich trug High Heels, hatte blondierte Haare und perfekt lackierte Nägel …« Sie war die moderne Unternehmerin und emanzipierte Akademikerin, die sich ihre eigene Welt gestaltete. Doch nicht alles hat mensch selbst in der Hand.
Als sich die beiden in Fez über den sonnendurchglühten Basar schleppen, stöhnt Adela auf Französisch: »Ist das heiß hier!« Einer der Händler hört sie, schaut ihr tief in die Augen und sagt: »Inschallah« – so Gott will! Für Adela steht die Welt still. »Akzeptiere, was ist, umarme die Gegenwart, schätze die Zeit, die dir gegeben ist« – das sagt ihr dieser Augenblick. Sie und Dan versinken in der Musik des Festivals: Da singen Sufis mit orthodoxen Christen Marien­lieder, und Sänger aus Finnland improvisieren mit Musikern vom Stamm der Tuareg. Diesen Geist der Verbundenheit über alle Grenzen hinweg wollen sie in ihr Hotel bringen. »Unseren Frühstücksraum haben wir wie ein marokkanisches Kaffeehaus eingerichtet. Es gab Tee, Kaffee, Baklava und Wasserpfeifen. Hier konnten unsere Gäste die Zeit vergessen und einfach da sein.« Adela und Dan suchen nun Bücher über den Wert von Zeit und über die Entwicklung von Kultur. »Warum beschleunigt sich die moderne Konsumgesellschaft derart?«, fragen sie sich. Wenn sie schon darin mitspielen müssen, wollen sie wenigstens »gute« Unternehmer sein. Im Hotel stellen sie Menschen mit sozialen Problemen ein und laden sie zur Mitgestaltung des Betriebs ein. Adelas Mutter wird die Buchhalterin; für alle gibt es viel zu tun. Nebenbei schreibt Adela ihre Dissertation über »die apokalyptischen Narrative der extremen Rechten in Rumänien«. Um die Arbeit zu beenden, geht sie 2011 an die Universität von Manchester.

Vom Zorn zur Gabe
Zurück in Rumänien, ist sie urlaubsreif, will aber nicht schon wieder ihre Heimat verlassen. Sie schlägt Dan vor, Roșia Montană zu besuchen. Der Ort ist in Rumä­nien wegen anhaltender Proteste gegen die geplante Überflutung zugunsten des Goldbergbaus bekannt. »Noch auf dem Weg dorthin dachte ich, der Protest sei zwar eine gute Sache, habe aber mit mir nichts zu tun«, erinnert sich Adela. »Doch als ich aus dem Auto stieg, die zauberhafte Landschaft und das 2000 Jahre alte Städtchen sah, sagte etwas in mir: »Du, genau du bist an dieser Zerstörung beteiligt, wenn du nicht sofort etwas in deinem Leben radikal änderst!«
»Wir waren schon auf dem Weg, uns zu verändern«, ergänzt Dan. »Roșia Montană brachte ein volles Fass zum Überlaufen.«
Die beiden geraten vor Ort in ein Camp der Aktionsgruppe »Reclaim the Fields«, die sich für Ernährungssouveränität und kleinbäuerliche Landwirtschaft einsetzt. Im Camp grassiert ein Magen-Darm-Infekt. Die Aktivisten aus ganz Europa sitzen im Kreis und suchen nach einer verbindlichen Lösung für das Geschirrspülen. Der Konsens ist fast gefunden. Da sagt eine Frau, sie töte nichts und wolle auch keine Bakterien töten – die Diskussion beginnt von neuem. Adela ist wie vom Donner gerüht: Eine einzelne Stimme zählt hier?
In den nächsten Monaten wandeln sich Adela und Dan mit Leib und Seele zu Aktivisten. Sie besetzen Häuser, protestieren gegen die Zerstörung von Grünflächen, gegen die Abschiebung von Roma und die Kürzung der Kulturbudgets – letzteres, indem sie mit 300 Büchern den Eingang des zentralen Gebäudes der Regierungspartei zumauern. »In dieser Zeit, 2011 und 2012, war ich eine sehr zornige Person.« Adela lacht – aber: »Ich war auch zornig auf mich selbst! Wir Aktivisten gingen nach der Demo in der Kneipe ein Bier trinken und organisierten uns über Mobiltelefone. Aber genau dieser Habitus und diese Geräte verlangten doch den Abbau seltener Erden, gegen den wir protestierten!« Mehr und mehr suchen die Hoteliers nach »freiwilliger Einfachheit«. Ihre Gäste aber wollen nach wie vor Cola trinken.
»Unser Hotel lief als netter Familien­betrieb weiter, während wir auf der Straße gegen das System anschrien.« Der Zwiespalt war nicht länger auszuhalten. Im Winter 2012 teilten Adela und Dan ihren Mitarbeitern mit, dass sie noch sechs Monate hätten, um sich neu zu orientieren. Dann würden sie das Haus verkaufen. Doch der Immobilienmarkt schwächelte, und im August 2013 war noch kein Käufer gefunden. 

Was tun?
Inzwischen hatten die beiden die Prinzipien der Permakultur kennengelernt: Nutze, was da ist; kümmere dich um die Erde. Was hieß das für ihre Situation? Über eine »Ökonomie der Gabe«, die Wechselseitigkeit als lebendigen, nicht-linearen Prozess versteht, hatten sie schon etwas gelesen. Aber würde das in der Praxis funktionieren? »Seit wir begonnen haben, Schenkökonomie zu praktizieren, erfahren wir vor allem Fülle«, strahlt Adela. Die »Casa de Cultura Permanenta«, wie ihr Hotel heute heißt, ist ein Ort geworden, an dem Menschen ihre Fähigkeiten, Erfahrungen und ihr Wissen miteinander teilen – sei es das Selbermachen von Seife oder Methoden zur Tiefenentspannung. »Früher entstanden zwischen uns und den Angestellten unweigerlich Abhängigkeitsverhältnisse, obwohl wir das nie wollten«, erklärt Dan. »Heute wirken hier alle aus freien Stücken zusammen, das ist etwas völlig anderes.«Nach kurzer Zeit taten sich für Dan und Adela bisher unsichtbare Netzwerke auf: Ob es um solidarische Landwirtschaft, Gesundheit oder Übersetzungs-Leistungen geht – in Rumänien organisieren sich viele Menschen nach den Prinzipien einer Gemeingüter-Ökonomie. Als die beiden für ein paar Monate in Irland auf einem Selbstversorgerhof mithelfen, begreifen sie, dass das Wachsen einer Allmendekultur eine europäische Bewegung ist. Daran wollen sie in ihrem Heimatland, wo viele Menschen Alternativen zur Abwärtsspirale des Kapitalismus suchen, mitwirken. Aus Leipzig bringt Adela einen Sauerteig mit. Seitdem bäckt sie ihr eigenes Brot. Ihre Urgroßmutter soll das besonders gut gekonnt haben; sie hängte den Sauerteig stets mäusesicher am Dachbalken auf. »Heute bin ich dem kleinen Mädchen, das mit seiner Oma auf den Hügel wanderte, wieder ganz nahe«, sagt Adela.

Im Dämmerlicht, das aus der böhmischen Eiswelt in das Zimmer sickert, in dem wir zu viert unser Gespräch geführt haben, leuchtet wieder diese Wärme von ihrem Gesicht, die mir in Leipzig aufgefallen war. Dan schaut versonnen. Die tschechischen Freunde haben gekocht. Wir speisen in großer Verbundenheit und stoßen an – selbstverständlich mit dem besten Slivbovitz der Welt – auf Europa! •

Gäste sind Adela und Dan jederzeit willkommen
permanentacasa.wordpress.com

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