Titelthema

Alle haben ein Recht auf Genuss!

Wolfram Nolte sprach mit Herbert Richter, der sich im Rahmen der Slow-Food-Bewegung im Allgäu für den Erhalt regionaler ­Lebensmittel engagiert.von Wolfram Nolte, Herbert Richter, erschienen in Ausgabe #29/2014
Photo
© Wolfram Nolte

Herr Richter, Sie sind offenbar ein Genießer und zeigen das auch gerne – oder was soll der vier Meter hohe Schöpflöffel vor Ihrem Haus aussagen?

Die große Kelle am Eingang symbolisiert für mich die Fülle und das Austeilen. Ich habe immer schon gerne gekocht. Auch während meiner Ehe war meistens ich derjenige, der am Herd stand. Ich bin genusssüchtig. Ich liebe es, mir für das Essen Zeit zu nehmen und mit Freunden gut zu speisen. Das gehört auch zu den Grundideen von Slow Food. Die Bewegung steht ja für ein moderates Lebenstempo und bewussten kulinarischen Genuss. Außerdem geht es darum, die regionale Kochkultur zu erhalten – also auch die heimischen Pflanzen- und Tierarten – sowie die regionalen Lebensmittelproduzenten zu unterstützen.

Wie und wann sind Sie zur Slow-Food-­Bewegung gekommen?

Ich glaube, es war 1999, kurz vor meiner Pensionierung als Musiklehrer am Kemptener Allgäu-Gymnasium. Ich bekam damals einen Reiseführer in die Hände: »Weinreisen an Donau und Kamp – Geheimtipps für Genießer«. Darin wurde Slow Food erwähnt. Mein Interesse war geweckt, aber damals bin ich noch nicht Mitglied geworden. Mir gefiel, dass sich Slow Food weltweit für eine nachhaltige und gleichzeitig genussvolle Ernährungskultur einsetzt und gleichzeitig gegen die ungesunde und schädliche Fast-Food-Unkultur Stellung bezieht. Gut, sauber und fair sollen unsere Lebensmittel sein – so lautet die zentrale Forderung. Das war ganz in meinem Sinn. Aber erst nach dem Tod meiner Partnerin 2003 wurde ich für Slow Food aktiv. Ich wollte mir meine Freude an den schönen Dingen des Lebens bewahren und sie weiterhin mit Freunden genießen. Im Jahr 2005 wurde das »Convivium Allgäu« dann in einem Sonthofener Wirtshaus gegründet.

Die regionalen Gruppen der Slow-Food-­Genießer nennt man Convivien. Warum – und was kann ich mir darunter vorstellen? Wieviele Mitglieder hat das Allgäuer Convivium, und was passiert dort konkret?

Der Begriff »Convivium« bedeutet »Fest­tafel«, meint aber auch die »Festgemeinschaft«, die um die Tafel versammelt ist. Damit bezeichnen wir sowohl unsere ört­lichen und regionalen Gruppen als auch die Treffen, um auszudrücken, dass das gute, gemeinsame Essen und Genießen im Mittelpunkt steht. Unser Convivium erstreckt sich räumlich auf das ganze Allgäu von Lindau bis Kaufbeuren und von Oberstdorf bis hinter Memmingen. Wir haben 120 Mitglieder und 30 Förderer. Mir gefällt, dass es eine sehr gemischte Gruppe ist – vom Zahntechniker über die Käserin bis zum Landwirt sind verschiedenste Berufe vertreten, auch etwa gleich viele Männer und Frauen, Jüngere und Ältere, die meisten zwischen 40 und 50. An unseren monatlichen Convivien nehmen etwa 20 Mitglieder teil.
Meistens besuchen wir regionale Produzenten und lassen uns über die Herstellung ihrer Produkte informieren. Zum Beispiel haben wir im Juni eine Bodenseefischerei und im Juli den Floschenhof in Altusried besucht. Dort teilen sich die Puten mit Braunvieh und Gänsen eine Weide. Die Tiere bekommen natürliches Futter ohne Medikamentenzusätze. Als Abschluss von so einem Auflug gibt es selbstverständlich immer eine zünftige Brotzeit. Das Soziale ist für mich das A und O. Essen ist Gemeinschaftsbildung und hat eine ungeheure kulturelle Bedeutung. Manchmal finden die Convivien auch bei mir zu Hause statt, dann meistens mit einem kleinen Hauskonzert verbunden. Ich spiele nämlich immer noch leidenschaftlich gerne Cello. Viele treffen sich auch außerhalb der regulären Treffen im kleineren Kreis.

Spielt sich das Allgäuer Convivium-Leben nur in mehr oder weniger privaten Begegnungen ab? Gehen Sie mit Ihrem Anliegen einer gesunden, nachhaltigen und regionalen Ernährungskultur nicht an eine größere Öffentlichkeit?

Doch, das machen wir auch. So beteiligen wir uns an der jährlichen Slow-Food-Messe in Stuttgart, und auf dem Allgäu-Tag in Isny haben wir eine Verkostung verschiedener Käsesorten von drei regionalen Sennereien angeboten. Über einige Besuche schreiben wir auch Artikel für das Slow-Food-Magazin oder die lokale Presse. Das Bayerische Fernsehen hat auch schon über unsere »Arche-Passagiere« berichtet. Kennen Sie die »Arche des Geschmacks«, eine von Slow Food erstellte Liste der gefährdeten Lebensmittel, Kulturpflanzen und Nutztierrassen? Die Gruppen vor Ort legen fest, welche regionalen Produkte in die Arche aufgenommen werden. Das hilft den Erzeugern solcher Lebensmittel bei der Vermarktung und schafft ihnen eine größere Öffentlichkeit, was dem Fortbestand zugute kommt. Unsere Allgäuer Gruppe hat dafür gesorgt, dass der Weiß­lacker Käse und das Original Allgäuer Braunvieh als Passagiere in die Arche steigen können.

Wie viele Convivien gibt es in Deutschland? Muss man spezielle »Gourmet-Fähigkeiten« nachweisen, um Mitglied zu werden?

Nein, nein, wir sind für alle offen! Die Schulung des Gaumens und das Erleben der Geschmacksvielfalt ist nicht Bedingung, sondern wird das Ergebnis einer aktiven Mitgliedschaft sein, und die ist an keine Bedingungen geknüpft. Slow Food Deutschland hat etwa 12 000 Mitglieder und 80 Convivien. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 75 Euro im Jahr, darin sind sechs Ausgaben des Slow Food Magazins enthalten. Weltweit hat die Bewegung rund 100 000 Mitglieder.

In der August/September-Ausgabe des Slow-Food-Magazins hat Carlo Petrini, Gründer und Präsident von Slow Food International, zum 25-jährigen Bestehen der Organisation das »Recht auf Genuss für alle« gefordert. Es klingt für mich wie eine neue Akzentsetzung, wenn er fordert, dabei zuerst an die Unglücklichen und Unterdrückten zu denken, wenn er dem elitären Genießertum eine Absage erteilt und eine neue Brüderlichkeit einfordert. Wie könnte diese sich konkret realisieren?

Slow Food International hat mehrere Projekte in diesem Sinn gestartet. Eines ist »Terra Madre« – ein globales Netzwerk für regionales Wirtschaften, in dem sich Kleinbäuerinnen, Fischer und Lebensmittelhandwerker zusammengeschlossen haben, um mit Wissenschaftlern und NGOs für eine tragfähige Lokalwirtschaft und nachhaltige Landwirtschaft einzutreten. Terra Madre unterstützt das Bemühen um Ernährungssouveränität, also das Recht jeder Gemeinschaft, sich vom eigenen Land zu ernähren und selbst zu entscheiden, was sie anbauen, erzeugen und essen will. Ein anderes Projekt setzte sich das Ziel »1000 Obst- und Gemüsegärten für Afrika«. Gerade wurde es erfolgreich abgeschlossen. Jetzt geht es um »10 000 Nutzgärten für Afrika!«. Slow Food hat auch Kochschulen in den Favelas von Rio eingerichtet. Dort lernen junge Leute, einfache Lebensmittel genussvoll zuzubereiten und Verschwendung und Abfall zu vermeiden. Ebenso unterstützen wir auch die Verbreitung der solidarischen Landwirtschaft. Das finde ich gut und richtig.
Ich selbst bin kein Fan von Demons­trationen oder der Anprangerung von Missständen. Ich möchte nicht vom Negativen ausgehen, sondern auf positive Möglichkeiten hinweisen und sie unterstützen. Wenn die Menschen dabei auch noch Freude ­haben, ist das doch wundervoll!

Revolution durch Genuss guter und fair gehandelter Lebensmittel? Kann sich das jeder leisten? Was ist mit der Massentierhaltung, mit der Lebensmittelverschwendung, mit dem Verschwinden biologischer Vielfalt und der rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen? Müssen wir da nicht mehr tun?

Wenn wir es nicht lernen, unsere Nahrungsmittel wertzuschätzen und uns an ihrer Qualität statt an Quantität zu erfreuen, wird sich nichts ändern. Die praktizierte Massentierhaltung und die Art der Tötung der Tiere ist tatsächlich grauenhaft. Wenn Tiere schon getötet werden, darf das nur mit Respekt und Achtung passieren! Auch auf diesem Gebiet ist es wichtig, positive Alternativen kennenzulernen, auf sie hinzuweisen und sie zu unterstützen. Wenn jemand aus ethischen Gründen kein Fleisch essen will, verstehe ich das, aber ich bin kein Anhänger der vegetarischen Lebensweise oder des Vegan-Kults. Ich glaube, der Mensch ist so gebaut, dass er gemischt isst. Aber der gegenwärtige Fleischkonsum ist verwerflich – die meisten wollen nur noch das Filet. Der Rest wird nicht mehr gegessen. Die Koch-Shows, in denen arrogante Starköche nur die feinsten Stücke bearbeiten, sind schrecklich. Doch wie köstlich sind geschmorte Rinder- oder Kalbsbacken, Ochsenschwanz, Quer- und Hochrippe, von guten Innereien ganz zu schweigen! Ich finde, wir sollten alles essen, und das in Maßen.

Herr Richter, was sind Ihre Perspektiven und Wünsche – persönlich, für die Allgäuer Gruppe, für Slow Food allgemein?

Ich bin jetzt 75 Jahre alt und habe schon, als ich den Vorsitz des Allgäuer Conviviums übernommen habe, angekündigt, dass ich im Januar 2015 zurücktreten werde. Das werde ich auch tun. Ich hoffe, dass meine Nachfolger die Arbeit in meinem Sinn fortsetzen. Für die Allgäuer Gruppe wünsche ich mir, dass sie mehr von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Für Slow Food allgemein wünsche ich mir eine stärkere Vernetzung mit Bauern, Gastronominnen und Lebensmittel-Händlern. Vielleicht lassen sich auch die großen Vermarkter mehr auf Slow-Food-Linie bringen. Vor allem aber wünsche ich mir, dass die Menschen ihr Leben ästhetischer gestalten, dem Guten und Schönen im Leben auf allen Gebieten mehr Achtung und Aufmerksamkeit schenken.

Das ist ein schöner Wunsch! Herzlichen Dank für das Gespräch. •

 

Herbert Richter (75) hat Slow Food Allgäu aufgebaut und setzt sich dafür ein, dass regionale Lebensmittel, die »gut, sauber und fair« produziert werden, entdeckt und empfohlen werden.


Noch langsamer lokale Köstlichkeiten genießen
www.slowfood.de
www.terramadre.info
Literatur:
Slow Food Genussführer Deutschland 2015, oekom-Verlag

weitere Artikel aus Ausgabe #29

Photo
Gemeingütervon Dieter Halbach

Reines Wasser

Vor mir steht ein Glas Wasser. Klar und rein, ohne Aroma und Farbe – ein Wesen ohne Eigenschaften? So wie saubere Luft oder Stille ist die reine Schwester Wasser ein kostbares Gut, das wir leicht übersehen. Doch alles Leben entstand aus dem Wasser, ­Menschen bestehen zu etwa

Photo
von Maja Klement

Kleine Gefühlskunde für ­Eltern (Buchbesprechung)

»Eltern-Kind-Beziehungen sind in erster Linie Liebesbeziehungen«, zitiert Vivian Dittmar den bekannten Familientherapeuten Jesper Juul am Anfang ihres Buchs »Kleine Gefühlskunde für Eltern«. Wie jede Liebesbeziehung rufe auch diese Gefühle von

Photo
(Postwachstums-)Ökonomievon Nicole Hille-Priebe

Essen ist eine Kultur-Tat

Die Idee ist einfach, und sie sollte sich am besten so schnell verbreiten wie die Bewegung für urbanes Gärtnern: offene Küchen, in denen reihum auf Spendenbasis gekocht wird.

Ausgabe #29
Satt und glücklich

Cover OYA-Ausgabe 29
Neuigkeiten aus der Redaktion