Titelthema

Mein Teller, ­unser Teller

Dass wir essen, vereint alle Menschen. Aber wie wir essen und womit – das ist weltweit unterschiedlich. Julia Herz-el Hanbli weist auf sinn­liche, gemeinschaftsstiftende Tischsitten hin.von Julia Herz-el Hanbli, erschienen in Ausgabe #29/2014
Photo
© Julia Herz-el Hanbli

Die Eltern-Kind-Cafés in deutschen Städten gleichen oft Knigge-Kursen für die Kleinsten. Schon früh werden sie in die Kunst des Essens mit Besteck eingeführt.

Ohne Besteck isst man in Europa nicht. Ein Mädchen, kaum drei Jahre alt, hat sich offenbar fest vorgenommen, die Nudeln selbst auf die Gabel zu spießen. Noch etwas unbeholfen macht sie sich das neue Esswerkzeug zu eigen. War sie erfolgreich, wird sie überschwänglich gelobt. Hilft sie jedoch den Nudeln mit der Hand nach, setzt es Tadel: »Das macht man doch nicht. Nimm dein Besteck!«
Essen mit den Händen ist in unseren westlich-europäischen Gesellschaften verpönt, und so drängen wir die Kinder zu Löffel, Gabel und Messer, denn: Mit bloßen Händen isst man nicht! Finger ablecken nach einem Brötchen? Pfui! Bei uns herrschen diesbezüglich »unausrottbare Verzehrtabus« erklärt die Autorin Anita Homolka in ihrem literarischen Streifzug durch die Geschichte der Tischsitten. Höchstens an menschenleeren Orten und im stillen Kämmerlein dürfen wir unseren »Sünden« frönen, Schokolade aus dem Glas löffeln oder nach Gewürzgurken mit bloßen Fingern ­fischen – Ausnahmen wie das Hühnerbein bestätigen die Regel.
Dabei ist die Geschichte des Bestecks eine recht kurze, wie die Autoren Gert von Paczensky und Anna Dünnebier in ihrem Werk »Kulturgeschichte des Essens und Trinkens« zeigen. Die Gabel fand erst vor gerade einmal 400 Jahren den Weg auf unsere Tische. Älter ist das Essen mit Stäbchen in asiatischen Ländern. Lange Zeit davor gab es nur ein Esswerkzeug: die Hände.
Mit Händen essen – in vielen Ländern ist dies tägliche Praxis. »Wenn ich genießen will, wenn ich aufwendig gekocht habe und mit Familie oder Freunden esse, dann esse ich mit der Hand«, erzählt die ghanaische Schriftstellerin Ama Ata Aidoo. »Aber wenn ich in Eile bin, einen Termin habe, dann schaufle ich mir auch mal schnell das Essen mit der Gabel rein.«
»Wir nähern uns dem Essen zunächst mit dem Tastsinn«, erklärt auch die Bengalin Chitrita Banerji die kulinarischen Vorteile der Finger. »Die verschiedenen Gemüsepürees, die unterschiedlichen Sorten Reis, die zahlreichen Arten Fisch, die wir essen, werden alle von den Fingern genossen, bevor sie in den Mund gelangen.«
Mag sich die Beziehung zwischen Mensch und Nahrung individuell unterscheiden, als kulturelle Praxis scheint es hier wie anderswo ähnlich zu sein: Gemeinsames Essen verbindet. Einen Unterschied gibt es dennoch. Während hierzulande jeder den eigenen Teller argwöhnisch bewacht, gar den eigenen Lebensgefährten ermahnt, nicht in des Nachbars Teller zu schielen, erfuhr ich als Gast im arabisch-islamischen Marokko das genaue Gegenteil. Dort essen Menschen gemeinsam von einem Teller. »Kuli a binti«, sagte mir meine marokkanische Schwiegermutter beim ersten gemeinsamen Abendessen, »iss, meine Tochter«, und während ich unbeholfen das Brot, das mir den Löffel ersetzte, in die Soße tunkte, schob sie die schönsten Gemüse- und Fleischstücke in meinen Winkel des gemeinsamen Familientellers.
Mit jedem Bissen und jedem Essen perfektionierte ich meine Handbewegungen. Ich lernte, dass Essen nur mit einer Hand – mit der rechten, die als »rein« gilt – berührt wird. Dass ich mich auf die (Ess-)Kultur des Gegenübers einlassen konnte, hat mich schnell zu ihresgleichen gemacht. Dies erfuhr ich auf einer marokkanischen Hochzeit, bei der ich mit fremden Menschen an einem Tisch saß. »Du kannst schon richtig gut mit den Händen essen«, sagten mir meine Tischnachbarn lachend. »Wie eine echte Marokkanerin.«

Hinter dem eigenen Tellerrand beginnt die Wir-Gemeinschaft
Im 11. Jahrhundert, als die Gabel durch die Heirat einer griechischen Prinzessin aus Byzanz nach Italien kam, fürchteten die Menschen sie als »Attribut des Teufels«. Das französische Volk fragte sich noch im 16. Jahrhundert, was der Sinn einer Gabel sei, wo doch auf dem Weg vom Teller zum Mund die Hälfte hin­unter­falle. 1859 findet sich dann in einem Londoner Benimmbuch der Hinweis: »Gabeln sind ohne Zweifel eine spätere Erfindung als Finger, aber da wir ja keine Kannibalen sind, neige ich zu der Auf­fassung, dass sie wirklich eine gute Idee waren!« So wurden jene, die eine Gabel benutzten zu »Zivilisierten«, und der »eigene« Teller ein Maß, die „Zivilisiertheit« von anderen zu messen.
Bräuche – wie das Essen mit den Händen oder mit der Gabel – sind Ausdruck menschlicher Kreativität. Dass es auch Spaß machen kann, sich nach dem Essen die Finger abzulecken, sehen wir in den Augen jener Kinder, die nicht ständig ermahnt werden: »Mit den Händen isst man doch nicht!« • 

weitere Artikel aus Ausgabe #29

Photo
Kunstvon Julia Vitalis

Kein Zweck, kein Ziel

Sie brauchen: Mehrere Frauen, einen öffentlichen Raum – in ­diesem Fall einen Gemeindesaal – drei Woks, Küchenzubehör, Lebensmittel und die Künstlerin Gabi Erne. Dann lassen Sie sich überraschen, was geschieht …Das waren die Zutaten für ein

Photo
von Carina Hoffmann

Wachstumswahn (Buchbesprechung)

Christine Ax und Friedrich Hinterberger stellen in ihrem Buch »Wachstumswahn« auf anschauliche und detaillierte Weise dar, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland seine Grenze erreicht hat. Im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten können heute keine höheren Zuwachsraten

Photo
von Leonie Sontheimer

Alles fühlt (Buchbesprechung)

Ich lese gerne draußen. Dabei krabbelt immer mal wieder ein Insekt über mein Buch. Normalerweise schnicke ich es behutsam weg, um in den Seiten fortzufahren. Als ich jedoch Andreas Webers »Alles fühlt« las, fügte es sich zu einem ganz natürlichen Teil meiner

Ausgabe #29
Satt und glücklich

Cover OYA-Ausgabe 29
Neuigkeiten aus der Redaktion