Bildung

Lernende Schulen

Ob staatlich, frei oder demokratisch – an vielen Schulen finden sich Kondensationskeime ­einer neuen Lernkultur. Anke Caspar-Jürgens fasst abschließend ihre Artikelserie »Strategien für neues Lernen in Schulen« zusammen.von Anke Caspar-Jürgens, erschienen in Ausgabe #28/2014

Was erwartet eine ehemalige Lehrerin, wenn sie sich nach rund dreißig Jahren Abstand erneut schulischem Alltag aussetzt? Ich selbst hatte nicht nur dem staatlichen, sondern auch dem alternativ geprägten Schuldienst schon in den 1980er Jahren enttäuscht den Rücken gekehrt – auch weil sogar die von mir initiierte Alter­nativschule ihr Konzept für das selbstverantwortliche Lernen der Kinder zunehmend unter dem Druck von Eltern und den normierenden Vorschriften der Schulbehörde verwässerte. Stattdessen begleitete ich eine außerlegale Eltern- und Kindergruppe, die ganz und gar dem Lernen in Selbstverantwortung vertraute. Diese für alle beglückende Erfahrung wurde nach vier Jahren durch ein behördliches Machtwort beendet. Seit ich die Bildungsrubrik der Zeitschrift Oya betreue, blieb ich dem schulischen Bildungsgeschehen kritisch auf der Spur und wünschte mir schließlich einen aktuellen Einblick in die Praxis. So besuchte ich während der vergangenen Monate Schulen in ganz Deutschland, allesamt preisgekrönt.
Das Spektrum reichte von Schulen in privater bis zu Schulen in staatlicher Trägerschaft, von der Dorfschule auf dem flachen Land bis zur gut tausend Menschen umfassenden Institution im Speckgürtel einer Großstadt. Die Konzepte reichten von hierarchisch strukturierten bis hin zu basisdemokratisch organisierten Schulen mit altersunabhängiger Gleichberechtigung und Selbstverantwortlichkeit. Die Rolle der Lehrer changierte vom überwiegend therapeutisch arbeitenden, Orientierung gebenden Vorbild bis zur Lernbegleiterin auf Augenhöhe.
Nach meinen Besuchen entstanden jeweils ein Artikel und ein knapper Kriterienkatalog zu meinen Leitfragen. Darin sollte sichtbar werden, in welcher Weise die jeweilige Schule das selbstverantwortliche Lernen der Schüler fördert und welche Strukturen sie sich dafür geschaffen hat. Die Kriterien sollten auch zeigen, welche Aspekte aus der Oya-Perspektive interessant sind und wie es um sie in der deutschen Schullandschaft steht.
Mir fiel besonders auf, dass sich die Schulen allesamt als lernende Systeme verstanden und – bezogen auf vorgegebene Strukturen und Inhalte – nach mehr Freiheit strebten. Vor allem in den unteren Klassen waren sie bemüht, sich dem bundesweiten Druck zum Zensieren zu entziehen, um den Kindern ihre ursprüngliche Lernfreude zu erhalten. Wenn die Schulen schon am Ende des Jahres ein klassisches Zeugnis ausstellen mussten, sollte dies doch bei den meisten im Einverständnis mit den Schülern geschehen.

Unterwegs durch verschiedenste Schulen
Im Rückblick entdecke ich zu meiner Überraschung, dass sämtliche Schulen trotz aller eingespurten Schultraditionen, einengenden rechtlichen Rahmen und den Einschränkungen durch soziale und wirtschaftliche Bedingungen entscheidende Aspekte für eine zukunftsfähige schulische Bildung verwirklichen. Unvermeidlich begleiteten mich bei meinen Besuchen meine in den vergangenen 30 Jahren gesammelten Erfahrungen mit dem Lernen von Kindern außerhalb von Schule. All den Fragen, die vor diesem Hintergrund erwuchsen, nachzugehen, hätte mein Vorhaben gesprengt, und so reduzierte ich sie schließlich auf genau eine Kernfrage: »Können Kinder hier selbstverantwortlich lernen?«
Ich beginne mit dem ersten Artikel der Serie zur Freien Naturschule Pankow, die ich als einzige nicht selbst besucht habe. Der Autor Bastian Barucker setzte seinen Fokus auf den Aspekt, wie Menschen von Beginn der Kulturgeschichte an lernten – in und mit der Natur. Eine der Lehrerinnen berichtete mir später fasziniert von den Auswirkungen dieses ursprünglichen Lernens. Da trauten sich Sechstklässler auf eine mehrwöchige Reise nach England – mit ihr, die ausschließlich Englisch mit diesen Kindern spricht wie auch die Gastgeber in den spartanischen Unterkünften. Die Klasse war deren Hilferuf nach Unterstützung bei der Erntearbeit gefolgt. Ungerührt von Wind und Wetter lebten alle in dieser Zeit unter kargen Bedingungen und kamen strahlend und erfüllt wieder nach Hause. Ihre Hilfe war hochwillkommen gewesen, sie wurden gebraucht.
Was gute Lehrer schon immer wissen und was mittlerweile auch die Neurobiologie als unverzichtbare Voraussetzung für das Lernen erforscht hat, ist eine gute – wenn nicht gar eine von Liebe getragene – Beziehung zwischen Lernbegleiter und Kind. Welche Wunder eine solche Beziehung in Bezug auf die Entfaltung der Lernfähigkeit von Kindern bewirkt, belegen die Kollegen und ihre Schüler der Schule »Am Park« in Behrenhoff. Diese Förderschule nimmt Kinder auf, die durch schwierige Zeiten an anderen Schulen oder persönliche Dramen zu Lernverweigerern geworden waren.
Kinder sind vollwertige Menschen. Ob Kleinkind oder Urgroßmutter – alle Menschen brauchen für die gesunde Entfaltung ihres So-Seins altersunabhängig Anerkennung und die Erfahrung, ernstgenommen zu werden. Jahrelang hatte ich selbst in meiner beruflichen Praxis Kinder zu belehren gehabt, hatte über die Köpfe jüngerer Mitmenschen hinweg Entscheidungen getroffen. An der »Demokratischen Schule X« (DSX) in Berlin durfte ich erleben, wie Kinder in einem auf Gleichberechtigung und auf Freiheit der Entscheidung hin ausgerichteten Raum Mit- und Selbstverantwortung, Kreativität und Lernleidenschaft entfalten. Viele von ihnen hatten bis vor einem halben Jahr nur hierarchische Schulen erlebt. Im deutschen Schulwesen ist es höchst ungewöhnlich, dass Kinder und Erwachsene gleichberechtigt über die Regeln ihres Lernorts abstimmen, aber die DSX kann sich »zur Erfüllung ihrer Bildungs- und Erziehungsziele« auf die Auflagen des Landes Berlin beziehen, die unter Paragraph 1 festlegen, dass der Auftrag der Schule darin bestehe, »alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen«. Außer festgelegten Kompetenzen und allgemein gefassten Erziehungszielen werden weder bestimmte Inhalte noch Lernmethoden vorgegeben, wohl aber gilt wie in ganz Deutschland die Schulanwesenheitspflicht.
Die DSX schlussfolgert in ihrem Konzept: »Da sich Schüler in demokratischen Schulen nicht an vorgegebenen Maßstäben und Lernzielen orientieren müssen, sind sie es gewohnt, selbständig zu denken und gemäß ihren eigenen Überzeugungen zu handeln.« Dies berechtigt die DSX, den Schülern innerhalb ihres institutionellen Rahmens vollständige Selbstverantwortlichkeit zu gewähren, jenseits von bundesweit und innerschulisch zu absolvierenden Tests und Evaluationen. Haben die jungen Menschen für sich entschieden, einen beruflichen Weg zu gehen, für den bestimmte Zeugnisse unverzichtbar sind, wird an der DSX immer wieder ungläubig staunend beobachtet, mit welchem Eifer und in welch hohem Tempo sich die Kinder das dafür erforderliche Wissen aneignen und ihren Weg erfolgreich gehen. Ein solcher Handlungsspielraum steht prinzipiell allen Berliner Schulen zu.
Die »Montessori-Schule Dietramszell« hat Ambitionen, ihre Schulmauern zu sprengen – sei es durch Aufgaben der Kinder in sozialen und wirtschaftlichen Bereichen, zu denen sie sich selbst verpflichten, über Ernteeinsätze in italienischen Olivenhainen bis hin zu besonderen Zeiten für die Siebt- und Achtklässler, die sechs Wochen lang ihr Leben gemeinschaftlich auf einem Bauernhof eigenverantwortlich gestalten. Da wird nicht etwa die Welt zum Klassenzimmer, sondern sie wird zum authentischen Lebensraum der Kinder mit all den fortwährend sich organisch aus dem realen ­Leben ergebenden Lernherausforderungen.
Wie wäre es, wenn sich Lernen nicht nur im Rahmen der Schulgemeinschaft ereignete, sondern Teil des dörflichen Lebens würde, wie es die Dorfschule Wallmow versucht? Wenn die Aufgaben einer Schule zum Anliegen des Dorfs und die Projekte des Dorfs zum Teil des Schullebens würden? Die große Dorfgemeinschaft bildet in Wallmow für die kleine Gemeinschaft der Grundschule ein von Jahr zu Jahr wachsendes Umfeld der Geborgenheit, so dass eine altersübergreifende Lerngemeinschaft im Entstehen begriffen ist.
An der Gestaltung der großen Anne-Frank-Schule in Bargteheide zeigt sich, was Eltern und eine couragierte Lehrerin mit der Kraft einer klaren Vision selbst im Rahmen einer auf den ersten Blick »normalen« staatlichen Schule entwickeln können, wenn ein mutiges Kollegium sich selbst dazu ermächtigt, neue Wege zu gehen. Ich beobachtete an der Anne-Frank-Schule, wie der Wunsch nach persönlicher Beziehung, nach gemeinschaftlicher und ganzheitlicher Arbeit das große Team der Lehrerinnen und Lehrer veranlasst, sich in immer kleinere Teams auszudifferenzieren. Die Aufgliederung der Gesamtschule in vier miteinander verbundene kleinere Schulen macht die Notwendigkeit deutlich, überschaubare Rahmen zu schaffen, wo noch jeder jeden kennen kann. Alle Verantwortlichen hatten sich bewusstgemacht, dass solche Qualität in einer großen Institution nicht von alleine entstehen kann, sondern dass dafür die Offenheit aller Beteiligten für Fortbildungen in Kommunikation notwendig ist. Für deren Finanzierung benötigt die Schule aufgeschlossene Sponsoren, da im Schulbudget für dergleichen kein Geld vorgesehen ist.

Worauf kommt es an?
Soweit die kleine Zusammenfassung meiner Erfahrungen und Einsichten beim Besuch der Schulen, die ich aus der Liste der in den letzten Jahren mit dem von der Robert-Bosch-Stiftung verliehenen »Deutschen Schulpreis« bedachten Bildungsorte ausgewählt hatte. Was aber beschäftigte mich derweil in der Tiefe? Vor dem Hintergrund meiner biografischen Erfahrungen und der Lebenswirklichkeit an den Schulen kristallisierten sich eine Reihe von Leitfragen heraus, die ich in meinem geistig-seelischen Rucksack mit mir herumtrug und die Konturen für ein Wunschbild menschenwürdigen Lernens in Schulen formen:
→ Fühlen sich die Menschen in der jeweiligen Institution wohl? Können sie dort mit Leidenschaft leben und lernen?
→ Können junge Menschen ihr angeborenes Bedürfnis, ihr Leben selbst zu gestalten, in die bewusste Erkenntnis wandeln, dass letztlich sie selbst es sind, die über ihr Leben entscheiden und es selbstbewusst führen?
→ Konnten sie den Mut entwickeln, eigene Wege zu beschreiten, selbst mit dem Risiko, jenseits von vorgebahnten Karrierewegen weiterwandern zu müssen?
→ Zeigen die Schulen einen Ansatz bzw. einen Kondensationskeim für eine neue Lebenskultur im Sinn von »Miteinander statt Konkurrenz«?
→ Sind die beteiligten Erwachsenen derart an den Kindern interessiert, dass es ihnen gelingt, auch ungewohnte Ansichten zu entdecken und deren Umsetzung zu riskieren?
→ Ermöglicht die Schule den jungen Menschen ein Lernen im konkreten Lebensumfeld, ohne ihr Alltagsleben abzuspalten?
→ Bildet sie einen Ort generationenübergreifenden Lernens: als Lernzentren, als Demonstrationsorte für Partnerschaftlichkeit?
→ Werden Naturerfahrungen wie auch Beziehungen zu Menschen, die sich um die Erde kümmern, ermöglicht? Trägt die Schule zum Erhalt eines entsprechend alten Wissens bei?
Was mir viel zu denken gibt: Die von mir besuchten Schulen und noch viele weitere tun ihr Bestes – aber wie hoch ist das Risiko, dass sie damit zur Reparatur und Konsolidierung eines maroden Systems beitragen, und sich eine Komfortzone schaffen – was ihren lebensfördernden Zielen letztlich widerspricht?

Zukunftsvisionen
Kinder integrieren sich unvermeidlich in ihr jeweiliges Umfeld, denn sie wollen überleben. Lernen ist daher für sie so notwendig wie Essen und Trinken. Unter diesem Aspekt frage ich mich, was es bedeutet, wenn Lehrer letztlich nicht verhindern können, dass Kinder im Lauf ihrer Schulzeit immer mehr der Zeugnisse wegen lernen und sich mit scheindemokratischer Beteiligung zufriedengeben müssen; wenn sie sich Prüfungen unterwerfen, deren Inhalte und Ziele sie nicht reflektieren durften, sondern die letztlich den Interessen von Politik und Wirtschaft entspringen. Der an Schulen übliche Leistungsdruck und die Konkurrenz um die »besten« Plätze prägt Kinder fast unvermeidlich auf Anpassung und Nichthinterfragen. Unsere Gesellschaft ist dadurch manipulierbar geworden – des besseren Verdiensts wegen sind Menschen bereit, für lebensfeindliche Interessen zu arbeiten. Die Besinnung auf den vom humanistischen Geist geprägten Entwurf des eigentlichen Begründers des modernen Schulwesens, Wilhelm von Humboldt, ist überfällig. Für Humboldt war Schule ein Ort der Besinnung auf das Wesentliche: ein Freiraum für die Entdeckung dem Leben zugewandter, neuer Wege.
Lässt sich aus den Qualitäten der sechs in dieser Artikelserie vorgestellten Schulen in diesem Sinn die Vision einer »Schule der Zukunft« destillieren? Wenn ich sie mir ausmale, ist diese Schule ein Ort mit wilder Natur im nahen und weiteren Lebensumfeld. Das Lernen verbindet dort Muße, Freiheit und Verbindlichkeit der eigenen Entscheidung mit dem Kultivieren des eigenen Denkens und der eigenen Urteilskraft in einer Atmosphäre der Geborgenheit und vernetzt sich mit dem, was für alle Beteiligten Bedeutung hat. An dieser Schule engagieren sich Lernbegleiter, die je nach Bedarf auch die Lernenden sind, die sich in ihrer Begeisterung für neues und altes Wissen begegnen, die Fertigkeiten erwerben und weitergeben wollen. Dort qualifiziert sich jemand für eine Aufgabe, wenn sie oder er dafür brennt und entsprechende Fähigkeiten erwirbt. Schon heute gibt es Lehrbetriebe sowie Fach- und Hochschulen, die Zeugnisse ignorieren und lieber durch eigene Tests herausfinden, ob junge Menschen die benötigten Qualifikationen mitbringen. Für mich geht es in einer Schule der Zukunft um Lern- und Lehrbeziehungen auf Augenhöhe. Auch wenn es heute vielerorts mehr Freiheiten gibt, so dass sich Schüler z. B. selbst beurteilen dürfen, gelten nach wie vor von außen gesetzte, nicht hinterfragbare Maßstäbe, und die Freiheit dämmert innerhalb der Schulmauern vor sich hin. Werden Schüler spätestens in der Pubertät mit der Welt des Leistungsdrucks konfrontiert, glauben sie bald nicht mehr an Demokratie. Nicht nur die unsichere Zukunft, schon unsere Gegenwart erfordert ein ursprüngliches Lernen über alle Sinne und reale Herausforderungen – für die Fähigkeit, zu sich zu stehen und Anpassungsdruck zu widerstehen, für die Entwicklung von Resilienz. •

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