Titelthema

Das Paradies ist immer regional

Mit der RegioStar-Genossenschaft auf dem Weg zur regionalen Selbstversorgung.von Norbert Rost, erschienen in Ausgabe #3/2010

»Es war einmal eine Gegend hinter den hohen Bergen, wo BurgerKing auch der Schachtelwirt genannt wird … « Aber dies ist kein Märchen. Es ist ein Bericht von Menschen, die selbst in Zeiten globaler Finanzkrisen daran glauben, das Paradies errichten zu können, und die sich durch die planetaren Turbulenzen geradezu herausgefordert fühlen, ihre Visionen voranzutreiben.

»Willkommen im Himmel auf Erden« begrüßt die Neubichler Alm in Piding im Berchtesgadener Land ihre Gäste. Das Hotel mit Familienprogramm, Pferden, Bogenschießen und Spielplatz liegt auf über 700 Metern Höhe – da passiert es durchaus, dass der Himmel die Erde berührt und sich der Watzmann in den Wolken versteckt. Die Alm ist Teil einer Idee, die in direkter Verbindung zu den platzenden Finanzblasen der Welt steht. Und das Projekt vom Paradies hat handfestere Hintergründe als flüchtige Nebelschwaden.

Im Jahr 2002 begründeten der Bankkaufmann Franz Galler und andere im nahen Ainring einen Tauschring. Nur wenige Kilometer entfernt startete ein Jahr später eines der interessantesten Wirtschaftsexperimente der jüngeren Geschichte: Der »Chiemgauer«, das Regiogeld rund um den Chiemsee. Galler legte den Tauschring einstweilen beiseite, kopierte das Chiemgauer-Modell, nannte es »Sterntaler« und begann eine anhaltende Zusammenarbeit mit Christian Gelleri, dem Initiator des Nachbarprojekts. Regionales Geld, so die Idee, soll einerseits regionale Wirtschaftskreisläufe fördern, andererseits einen anderen Umgang mit Geld lehren. Und doch war der Einstieg ins Regiogeld nur ein Anfang, der sich langsam zu einem eigenen alternativen Wirtschaftsmodell mausert.

In der alten Aldi-Halle verkauft jetzt der Bio-Peter
Für die Chefin der Neubichler Alm, Christiane Fischer-Urlbauer, ist die Nutzung des Sterntalers ein völlig normaler Vorgang. Sterntaler-Scheine, die ich ihr zur Bezahlung meiner Hotelrechnung über den Tresen reiche, werden gleichberechtigt mit den Euro-Scheinen mitgezählt. Sie wandern gemeinsam in die Kasse, die Rechnung ist beglichen. Keine Fragen, keine Diskussion. Das gleiche Erlebnis hatten wir einen Tag zuvor beim Bio-Peter, dem Bio-Markt in Ainring, der seit 25 Jahren von Peter Nagy betrieben wird, einem geborenen Ungarn. Vor vier Jahren zog der kleine Laden in ein altes Aldi-Gebäude um, so dass dort heute alles zu bekommen ist, was ein Mensch für sein tägliches Leben braucht. Hier kauft auch der überregional bekannte Musiker Hans Söllner – und zahlt mit Sterntalern. »Die Kunden«, sagt Peter Nagy, »wollen mehr Regionalität. Sie wollen Sicherheit und eine Story hinter den Produkten.« Die Story, das sind Geschichten aus der Nachbarschaft, denn regionale Produkte haben einen kurzen Weg hinter sich. Für den Bio-Peter ist der Sterntaler keine Modeerscheinung, sondern konsequente Weiterentwicklung seines Geschäfts. Kürzlich fragte ihn angesichts der Finanzkrise sogar ein Demeter-Lieferant, ob er Euros überhaupt noch annehmen solle.

Fünf bis zehn Prozent macht der Sterntaler-Umsatz im Bio-Laden aus. Das meiste fließt unbar, denn der Sterntaler nutzt die Infrastruktur des Chiemgauers mit elektronischer Kartenzahlung. Franz Gallers Aufgabe in diesem regionalen Wirtschaftskosmos ist es, Unternehmer miteinander zu verknüpfen und neue ins Netzwerk zu integrieren. Zwar können die Unternehmer ihre Sterntaler-Einnahmen in Euro zurücktauschen, das kostet sie aber fünf Prozent Rücktauschgebühr. Geben sie ihre Einnahmen wieder bei Lieferanten oder über ihr Personal aus, können sie sich diese Gebühr sparen. Galler sucht und überzeugt die Lieferanten, was nicht schwerfällt, wenn er neuen Umsatz in Aussicht stellen kann.

Zusätzlich zum Verein, der ursprünglich als Träger des Systems entstand, gründeten regionale Akteure 2007 eine Genossenschaft, die RegioStar eG. Diese fungiert nun als Basis für die wirtschaftlichen Aktivitäten, wobei der Sterntaler nur eines der Geschäftsfelder ist. Das erklärte Ziel ist es, Lebensgrundlagen für die Genossenschaftsmitglieder zu erschaffen und zu erhalten. Und da man Geld bekanntlich nicht essen kann, gehören inzwischen auch andere Projekte zu dieser Konstruktion. Eines davon ist der Dorfladen in Mitterfelden. Der »Bio- und Regio-Laden« stand vor der Schließung, nun gehört er den Genossenschaftlern. Sie können dort gegen Euro, Sterntaler oder Talente fair gehandelte Schokolade oder Spielzeug, Obst und Gemüse, Kosmetika und Getränke kaufen. Zum Beispiel Eierlikör vom »Stadler«. Wer vom Dorfladen zur Neubichler-Alm fährt, kommt bei der »Kelterei Stadler« vorbei. »Nimmt der auch Sterntaler?« frage ich meinen Fahrer, Günter Urlbauer. »Ja freili. Sonst waar er net so guat im G’schäft. Do samma scho a bissl hart.«

Rettungsboot für den Fall eines Bankencrashs
Das Prinzip funktioniert: Das Regiogeld stimuliert die Nachfrage nach regionalen Produkten, wodurch neue regionale Lieferantenbeziehungen entstehen. Die Beziehung zwischen den Geschäftsleuten wird intensiver, das Netz dichter. 200 Unternehmen akzeptieren inzwischen Sterntaler, von denen etwa 70 000 in Umlauf sind. Doch das Finanzsystem der RegioStar-Genossenschaft hat noch zwei weitere Ebenen. Die eine existiert bislang nur theoretisch und soll nach dem Vorbild des japanischen Furei-Kippu-Systems der Altersvorsorge dienen. Die andere Ebene wird bereits rege genutzt: die Wiederbelebung des Tauschrings als Genossenschafts-Kooperationsring. Technisch wird dieser durch eine Internet-Plattform realisiert, auf der jeder Teilnehmer über ein Konto verfügt, das ihm gestattet, bis zu einem gewissen Limit ins Minus zu gehen und »Talente« zu überweisen. Privatpersonen organisieren so ihre Nachbarschaftshilfe, Unternehmer können damit ihre Lieferungen verrechnen. Umsätze werden von ihnen wie Euro-Einnahmen versteuert, was rechtlich mit der EU-Zahlungsmittelrichtlinie konform geht. Sollte dem Euro tatsächlich mal die Luft ausgehen, sieht Franz Galler in diesem System ein Rettungsboot. Denn auch wenn Banken schließen, der Tauschring kann weiterlaufen.

Gallers Vorbilder Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Leopold Kohr hatten eine Vorliebe für Selbstorganisation und kleine, überschaubare, beeinflussbare Strukturen: Small is beautiful! Der Nationalökonom Leopold Kohr prophezeite das »Ende der Großen« und meinte damit Konzerne ebenso wie Nationalstaaten. Er sympathisierte mit den spanischen Anarchisten und unterstützte Kleinstaaten wie Schottland bei ihrem Kampf um mehr Autonomie. »Alles hat seine ideale Größe, und Kohrs Schlüsselwort heißt ›Überschaubarkeit‹«, sagt Franz Galler. »Nur im Kleinen glaubte er an Perfektion. Wenn etwas zu groß wird, dann wird es krank und kann nur mit Macht zusammengehalten werden. Macht jedoch wird immer missbraucht.« Kapitalistischen und kommunistischen Systemen geht es nur darum, Macht zu erhalten. Franz Galler hingegen ist an der Schaffung einer neuen Art von bürgerschaftlicher Wertegemeinschaft zum Schutz seiner Region gelegen. »Wir haben hier ein eigenes regionales Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit komplementären Währungen umgesetzt, das ohne Wachstum funktioniert. Das begeistert mich. Und das schafft im wahrsten Sinn ›überschaubares‹ Handeln, wo ich die handelnden Akteure am besten persönlich kenne. «

Regionale Selbstversorgung will Galler befördern, weshalb er aktuell Geld für eine Photovoltaik-Anlage akquiriert. Die soll auf das Dach einer Schule und der Genossenschaft so einen neuen Geschäftsbereich bringen. Für die eingeworbenen Gelder wird keine Rendite gezahlt, sondern sie sind eine Investition der Genossenschaft. Diese Investition macht aus der Regio­Star eG einen kleinen Energieproduzenten. Lebensmittelproduzent ist die Genossenschaft bereits, seitdem im vergangenen Jahr am Fuß der Neubichler Alm ein Permakulturgarten entstand. Kraterbeete und ein Teich wurden angelegt, die »Gewächshäuser« haben die Form von Tipis und locken regelmäßig Wanderer an, die Kräuter der Kräuterspirale finden bereits ihren Weg in die Hotel-Küche. Auch wenn der Arbeitsaufwand unterschätzt wurde, hat die Alm-Wirtin mit dem »Sonnenalmgarten« weitere Pläne. Ein paar Weinreben auf dem ehemaligen Skihang etwa. Und wer weiß, vielleicht wird die Genossenschaft ja eines Tages auch noch Produzent einer besonderen Radieschen-Sorte. Ein Name ist schon gefunden: »Paradiesl« könnte sie heißen …

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