Gesundheit

Phänomen Gesundheit

Bei den »Wartburggesprächen« wird Gesundheit aus sozialen, psychologischen und philosophischen Perspektiven betrachtet.von Frieder Kittler, erschienen in Ausgabe #26/2014
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© Frieder Kittler

Dieses Anliegen wurde 1992 auf der Wartburg bei Eisenach formuliert und es lebt in den jährlichen, nach der Burg benannten Gesprächen weiter. Damals, kurz nach dem Fall der Mauer, fanden sich die Initiatoren im Rahmen einer thüringisch-hessischen Nachbarschaftshilfe zusammen. Sie beschäftigten sich mit der Frage, wie sich aus den unterschiedlichen Gesundheitssystemen von Ost und West eine neue Perspektive entwickeln ließe. Wolfram Schüffel, Sprecher der Gruppe und Direktor der Klinik für psychosomatische Medizin an der Universität Marburg, hatte als Medizinstudent während eines Israel-Austauschs Aaron Antonovsky, den Begründer des Salutogenese-Modells, kennengelernt und fühlte sich von dessen Gedanken und Sichtweisen zutiefst inspiriert. Wesentlich für seine Vision, Medizin als Gesundheitswissenschaft zu gestalten und zu praktizieren, war und ist eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie der persönliche Austausch in Gruppen.

Konkret heißt dies: Professorinnen, Patienten, Ärzte, Studentinnen und Therapeuten lernen über drei Tage hinweg gemeinsam in einem möglichst gleichberechtigten Miteinander. Sie arbeiten und forschen kreativ und selbstwirksam am Thema Gesundheit. Die Grenzen zwischen Laie (Patient) und Expertin (Ärztin usw.) verschwimmen dabei. Gearbeitet wird mit dem »Wartburgphänomen Gesundheit« – für mich im Vorfeld der Tagung ein mysteriös klingendes und Neugier weckendes Kuriosum. Auch die Erklärung, dass sich die Beteiligten »durch ihre Empfindungen verbunden fühlen, zutiefst in sich spüren und dies auf Gesundheit beziehen«, schuf nicht mehr Klarheit darüber, was mich im hessischen Bad Nauheim erwarten würde. Was hängenblieb, waren die Begriffe »Empfinden«, »zusammen« und »Gesundheit«. Sind das die Grundsubstanzen, aus denen das Besondere der Wartburggespräche entsteht? Auf das Erlebte zurückblickend, meine ich: Es ist sicherlich das Zusammenspiel dieser drei Aspekte, das die Teilnehmenden als Phänomen bezeichnen.
Ende Januar, kurz nach meiner Ankunft am Veranstaltungsort, fand ich mich in einem angenehmen Saal wieder, dessen Stühle so angeordnet waren, dass man bei den Gesprächen möglichst leicht Verbindung zueinander aufnehmen konnte. Während der Eröffnung erfuhr ich mehr darüber, wie die noch fremden Begriffe »Gesundheitsgruppe«, »Gesundheitsgespräch« und »Wartburggespräch« zusammenhängen.

Beziehungsmedizin zwischen den Generationen
Gesundheitsgespräche finden regelmäßig im Rahmen des ­Seminars »Beziehungsmedizin – Klinik für Vorkliniker« an der Universität Marburg statt. Dort treffen sich junge Menschen, die gerade ihr Medizinstudium begonnen haben, mit medizinischen Laien der älteren Generation über ein Semester hinweg in einer regelmäßigen Arbeitsgruppe. Eine der Studentinnen und eine ­Rentnerin berichteten in der großen Runde von ihren persönlichen Erfahrungen. Sie erzählten davon, wie sie beide mit dem Thema Verbrennung zu tun hatten und wie durch die gemeinsame Reflexion eine tiefe Verbindung zwischen ihnen gewachsen war. Beide hat dies sehr berührt, und durch die innige Gemeinsamkeit zwischen Jung und Alt wurde eine Qualität von Verbundenheit im ganzen Saal spürbar.
Auch für die Wartburggespräche stellt ein offenes Gesundheitsgespräch am zweiten Tag einen wesentlichen Angelpunkt dar. Zunächst sind nur zwei Personen daran beteiligt. Hier waren es Wolfram Schüffel und ein praktizierender Arzt, den ein langjähriger, durch den Ischiasnerv verursachter Schmerz vom geliebten Sport abhielt und in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte. Im Lauf des Gesprächs wurde die Frage der Beweglichkeit aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und ein Bogen von den aktuellen Beschwerden zu früheren Erlebnissen und Emotionen gespannt. Nach und nach entstand ein mosaikartiges Bild von den Zusammenhängen der gesundheitlichen Situation.
Im zweiten Teil des Gesprächs richtete sich der Fokus auf die Resonanzen bei den Zuhörenden. Dabei wurden auch Deutungen der Geschichte des Arztes vorgeschlagen, der sich selbst in dieser Phase nicht weiter äußern durfte. Gerne hätte ich ihn gefragt, ob die Interpretationen der anderen mit seinen eigenen Empfindungen übereinstimmten, da er manchmal den Kopf schüttelte. Als Neuling bei den Wartburggesprächen war mir die Situation unangenehm, doch ich unterschätze vermutlich das Vertrauensverhältnis, das viele Menschen im Kreis untereinander und in das Gruppengeschehen entwickelt haben.

Malerei als Fenster in die Zeit vor der Geburt
Das Thema der diesjährigen 22. Wartburggespräche lautete »Zusammenhänge erfahren zwischen gegenwärtigem Erleben und pränatalen Empfindungen«. Neben den Gruppengesprächen und den theoretischen Vorträgen erwies sich die »Funktionelle ­Entspannung« als ein weiteres zentrales Element der Veranstaltung. Körpertherapeuten laden dabei ein, bis in die letzten, noch so kleinen Winkel des Körpers hineinzuhorchen und nachzuspüren, was für Impulse das Gehörte und Erlebte weckt. Anfangs noch etwas befangen, wurde mir im Lauf der Tage zunehmend bewusst, wie diese immer wiederkehrenden Zeiten eine Art der körperlichen Reflexion boten, die die Wahrnehmung über das rationale Denken hinaus erweiterte.
In Anlehnung an die Faktoren, die Aaron Antonovsky als wesentlich für die Entstehung von Gesundheit identifizierte, boten verschiedene Kleingruppen Gelegenheit, das Tagungsthema unter den Aspekten Kohärenz, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit oder Sinnhaftigkeit zu vertiefen bzw. über eine künstlerische Herangehensweise zu erforschen. Der Kunsttherapeut Thomas Wirth, der schon länger bei den Wartburggesprächen mitwirkt, erzählte, dass er es anfangs nicht für möglich gehalten habe, derart verschiedene Menschen zusammenzubringen. Für ihn seien der phänomenologische Ansatz und die Art von lernendem Kollektiv, in dem alle mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Horizonten ernstgenommen würden, immer wieder erstaunlich. Durch die Gespräche habe er gelernt, nicht nur nach der Pathogenese zu schauen, sondern die Frage nach der Gesundheit zu stellen.
Den Reiz der Wartburggespräche machen genau diese vielschichtigen Dimensionen aus. Sie wecken ein Interesse an dem, was als Wartburgphänomen Gesundheit bezeichnet wird – einem kreativen, lebendigen und wirkungsvollen Prozess. »Wir alle können Gesundheit – zusammen«, lautet die Devise. Könnte so ein Gesundheitssystem der Zukunft aussehen?
In den letzten 22 Jahren haben sich nicht nur die Teilnehmenden an den Gesundheitsgesprächen verändert, sondern auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Vision, der Gesundheit im salutogenetischen Sinn näherzukommen, bleibt für Wolfram Schüffel jedoch unverändert, und sein Vertrauen in das kollektive Wissen über Gesundheit und Krankheit, das in jedem Menschen verankert ist, aber erst in einer Gruppe zugänglich wird, ist gewachsen. Diese Erfahrung möchte er an die Generation der zukünftigen Ärztinnen und Ärzte weitergeben.
Der heutigen Medizin liegt ein Krankheitsparadigma zugrunde, das den Fokus auf die Unterscheidung zwischen krank und gesund richtet. Anhand von Diagnoseschlüsseln wird das Maß an Hilfsbedürftigkeit definiert und über die Gewährung von Sozialleistungen entschieden. Die Leitfrage der Wartburggespräche »Wie kann ich mich dieses Jahr gesund erhalten?« beinhaltet dagegen einen positiven Blick in die Zukunft und lädt dazu ein, sich dem Potenzial der eigenen Selbstwirksamkeit bewusst zuzuwenden. Wenn wir uns daran orientieren, könnte ein Verständnis wachsen, aus dem heraus sich immer mehr Menschen fragen, was für sie – und ihre Nachbarn – Gesundheit bedeutet.
Nun: Was bedeutet Gesundheit für Sie? •


Frieder Kittler (24) befindet sich im zweiten Semester des Master­studiengangs für Klinische Psychologie und Psychotherapiewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke.

 

Dem Phänomen Gesundheit auf der Spur
www.schueffel.com
Literatur:
Wolfram Schüffel (Hrsg): Wartburgphänomen Gesundheit. Projekte-Verlag ­Cornelius, 2012

 

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