Gesundheit

Wo die Schmetterlinge fliegen

Ein Besuch im Kinder- und Jugendhospiz »Löwenherz«.
von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #23/2013
Photo
© kinderhospiz-loewenherz.de

 Es ist ein sonniger Herbsttag. Ich finde den flachen Hospiz-Neubau am Dorfrand von Syke bei Bremen, wo er sich idyllisch in die Landschaft schmiegt. Alles ist freundlich und hell gestrichen. Im Innenhof sitzen zwei Jugendliche mit zwei Erwachsenen. Sind es Mitarbeiter, Besucher, Klienten? Die Szene könnte auch an einem Ferienort stattfinden. In gewisser Hinsicht ist das Hospiz auch ein »Ferienort«, wie mir die Leiterin Gaby Letzing erklärt: »Unser Anliegen ist, den Familien einen Ort zu geben, wo sie Kraft schöpfen können. Sie brauchen ja keinen traurigen Ort – zwar auch Platz für die traurigen Momente und ihre Verzweiflung, aber die Grundstimmung hier im Haus ist eine ganz fröhliche. Die Kinder brauchen vor allem ein Ja zum Leben. Sie halten es schwer aus, wenn die Menschen um sie herum nur heulen.«

Eine Löwenarbeit
So, wie sie den Ort beschreibt, wirkt sie auch selbst: dem Leben zugewandt. Gaby Letzing war lange Jahre Kinderkrankenschwester, bevor sie 1998 begann, die Idee eines Kinderhospizes zu verbreiten. Sie hat diese besondere Mischung von Resolut­heit und Warmherzigkeit, der man sich gerne anvertraut, der man zutraut, auch in schweren Situation das Schiff auf Kurs zu halten. Wahrscheinlich hat sie ein Löwenherz in sich. Sie erklärt mir, welche Bedeutung dieser Name für ihre Initiative hat. In Astrid Lindgrens Erzählung »Die Brüder Löwenherz« erklärt Jonathan Löwenherz seinem kranken jüngeren Bruder, was passiert, wenn er diese Welt verlässt. Er weiß von Nangijala, dem Kirschblütenland, wo sich die Menschen nach dem Tod wiedersehen und Abenteuer erleben. Als dann Jonathan unerwartet als erster stirbt, wartet er dort auf seinen kleinen Bruder Krümel – und als der kommt, geht das Abenteuer erst richtig los. Die Brüder bändigen sogar einen Drachen, kämpfen für das Leben – und sind doch bereit, ohne Angst zu gehen, wenn es so weit ist. Dieses Märchen wirke in den Alltag des Hospizes hinein, erzählt Gaby Letzing: »Mich selbst berührt an dieser Geschichte, dass ich immer wieder erlebe, wie die Eltern wie Löwen für ihre Kinder kämpfen, wie sie in tiefer Liebe mit ihnen verbunden sind. Irgendwann haben wir festgestellt: Wir selber sind Löwenherzen. So steht es auf unseren T-Shirts: ›Ich bin ein Löwenherz‹. Die Kinder und Geschwisterkinder bezeichnen sich so auch selbst. Sie sagen nicht: ›Wir fahren ins Kinderhospiz‹, sondern: ›Wir fahren ins Löwenerz‹. Das hat eine kraftvolle Bedeutung.«
Während Gaby Letzing erzählt, leuchtet der große Löwe im Wandbild vor mir auf. Von Kinderhand gemalt, scheint er mir zuzuzwinkern. Der Löwenherz-Verein und die gleichnamige Stiftung erfahren große Solidarität. 1850 Mitglieder bringen die Hälfte der jährlichen Kosten von 2,4 Millionen Euro durch Spenden auf. Es ist ein riesiges Unterfangen, ein Kinderhospiz aufzubauen. Gaby Letzing schätzt es, dass die Arbeit von vielen getragen wird und so die Unabhängigkeit gewahrt bleibt. Das Projekt konnte sogar wachsen: Seit September gibt es auch ein Jugendhospiz. Schon immer waren ein Drittel der Betroffenen im Löwenherz Jugendliche. Mit dem eigenen Haus nur für die Größeren verändert sich aber etwas in der inneren Haltung. Bei den Kleinen geht es eher um ein Umsorgen und Schutzgeben. Mit den Jugendlichen wird eine partnerschaftliche Ebene gesucht: Was sind ihre Bedürfnisse nach Freiräumen, elternfreien Zonen, eigener Entwicklung?
Am 21. September kamen rund 7500 Menschen zur Einweihungsfeier des Jugendhospizes, mit der auch das zehnjährige Bestehen des Projekts gefeiert wurde. Jedes Jahr werden inzwischen bis zu 150 Familien betreut, die mit ihren Kindern einen Monat dort verbringen können. Es ist Platz für acht Familien gleichzeitig – mit dem neuen Jugendhospiz verdoppelt sich die ­Kapazität. Viele kommen immer wieder.

Freiraum für die Eltern
Das Kinderhospiz wirkt auf mich wie eine Tankstelle der Hoffnung. Bettina spricht als Mutter sicherlich für viele Eltern, wenn sie über die zehn Jahre mit ihrem Sohn Mika im Kinderhospiz erzählt: »An den ersten Aufenthalt kann ich mich noch gut erinnern: Ich habe bei der Betreuerin fast auf dem Schoß gesessen, um zu sehen, ob sie auch alles richtig macht. Aber Mika wurde bestens liebevoll begleitet, und so hatten wir Eltern Zeit, auch mal für uns zu sein. Wir brauchen die 28 Tage, die wir pro Jahr im Kinderhospiz sein können, zum Auftanken. Unsere Kräfte schwinden. Die ständige Verantwortung, der Schlafmangel, die Kämpfe mit der Krankenkasse schwächen uns. Durch die Hilfe der Löwenherzen haben wir gelernt, mit einem schwerstkranken Kind zu leben und uns nach und nach wieder Freiräume zu verschaffen.«
Die Familien werden auch zu Hause nicht alleingelassen. Ein ambulantes Netzwerk von ehrenamtlichen Helfern begleitet in ganz Niedersachsen die Kinder, ­Geschwister und Eltern. Jede Familie hat zwei Helfer, die ein bis zwei Mal in der Woche kommen. Rita Rublack und Sabine Haasis sind zwei von ihnen; für sie bereichert das Engagement ihr Leben: »Wir freuen uns auf die Stunden mit den Familien, wissen aber nie wirklich, auf welche Situation wir uns einstellen müssen. Das fordert heraus und macht zugleich sensibel für unser Gegenüber. Wir erfahren zum Beispiel, dass in manchen Situationen das gemeinsame Weinen für alle befreiend sein kann. Es gibt Kraft, um danach weiterzumachen. Keine von uns beiden hätte je gedacht, wir sehr uns diese Erfahrungen verändern würden.«
Die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes einzustellen, scheint eine zentrale Voraussetzung zu sein, um hier zu arbeiten. »Wir erleben die Lebensverläufe der Kinder immer zugespitzter«, so beschreibt Gaby Letzing diese Herausforderung. »Wir erleben, wie manche immer mehr Fähigkeiten verlieren, immer mehr Krämpfe bekommen, immer schlechter atmen. Einige Kinder werden wütend über den Verlust ihrer Möglichkeiten. Den unmittelbaren Tod erfahren wir nicht so oft, meist nur drei bis fünfmal im Jahr. Die Kinder leben hier ein abschiedliches Leben, und die Familien haben immer wieder Angst um sie. Das macht oft sehr mürbe. Diese ständige Auf-und-Ab-Bewegung, dieses Aushalten und Immer-wieder-Weitermachen. Wichtig für die Familien ist vor allem das Gefühl, nicht allein zu sein. Wir bilden eine Gemeinschaft auf Zeit, wir essen gemeinsam, wir scherzen gemeinsam, wir machen zusammen Kamin­abende.«

Woher kommt die Kraft?
Ich mache mir bewusst, welche Herausforderungen das Team im Löwenherz meistert, um diese Gemeinschaft gelingen zu lassen. Wie wird den Helferinnen und Helfern geholfen, möchte ich wissen, wie wird mit den eigenen Gefühlen umgegangen? Gibt es unter den Menschen, die hier arbeiten, ein Wir-Gefühl? »Wenn Mitarbeiterinnen keine Kraft mehr haben, müssen wir dafür sorgen, dass sie sich Auszeiten nehmen können«, erklärt Gaby Letzing. »Wir haben zum Beispiel eine Sabbat-Struktur – nach fünf Jahren gibt es die Möglichkeit, drei Monate frei zu bekommen. Wenn nicht alle mit Leib und Seele dabei sein können, funktioniert unsere Arbeit nicht. Die Menschen müssen empfänglich bleiben, und das ist in einer Erschöpfungssituation nicht möglich.«
Im Jahr gibt es drei gemeinsame Teamtage, an denen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam etwas unternehmen. Alle sind dabei: Hauswirtschafter, Krankenschwestern, Sozialpädagogen, Technikerinnen, insgesamt derzeit 80 Menschen.
Und wie viele Männer arbeiten im Team? Derzeit drei. Bei der letzten Ausschreibung für einen möglichst männlichen Sozialpädagogen haben sich zwei Männer und sechzig Frauen beworben. Eine wissenschaftliche Studie kommt zu dem Ergebnis: Kinderhospizarbeit ist weiblich und bräuchte mehr Männer. Wenn schon Sozialarbeit, dann eher handfest mit Streetwork und Drogentherapie, sagen sich viele Männer. Hier aber geht es eher um innere Stärke. Mir scheint, da liegt ein großes Aufgabengebiet für den »neuen Mann«!
Was es aber im Löwenherz gibt, sind »Väterwochen.« Da kommt ein erkranktes Kind mit seinem Vater, ohne Mutter und Geschwister. Viele Männer müssen dabei zuerst realisieren, dass sie kein »Stammtisch« erwartet. Nach diesen Wochen verbringen sie meist sehr viel mehr Zeit mit ihrer Familie zu Hause. »Die Väter bekommen das Gefühl: ›Wir sind hier erwünscht!‹«, erklärt Gaby Letzing. Nicht selten werden ihnen Erwartungen von ihren Frauen mit auf den Weg gegeben: »Sieh zu, dass dein Sohn gesund wieder zurückkommt!« Das erzeugt jede Menge Druck. »Um den Männern Raum zu geben, um ihnen zuzutrauen, mit ihren Kindern gut umzugehen, laden wir sie alleine ein. Es ist bei schwerstkranken Kindern fast unmöglich, einen Fuß in die Tür dieser speziellen Mutter-Kind-Beziehungen zu kriegen.«

Hospizarbeit ist Kulturarbeit
Die Frage nach den Männern führt uns zu einem größeren Thema: Hier im Kinderhospiz geschieht Kulturarbeit. Auch Gaby Letzing ist überzeugt, dass ihre Arbeit eine gesellschaftliche Bedeutung hat: »Am Anfang haben die Leute uns für verrückt erklärt. ›So viele sterbende Kinder gibt es doch gar nicht!‹ Jetzt sehen sie, dass das Haus voll ist. Ich glaube, dass die Hospiz­arbeit insgesamt sehr stark in die Gesellschaft hineingewirkt hat. Es ist eine Gegenbewegung zur immer technischer werdenden Gesundheitspolitik. Vor 30 Jahren war das Bewusstsein, mit Behinderung, Tod und Krankheit anders umzugehen, noch gar nicht vorhanden. Erst vor etwa 20 Jahren hat diese Gegenbewegung begonnen. Ein menschlicherer Umgang wurde gefordert. Das hat unsere Gesellschaft sehr verändert.«
Während ich Gaby zuhöre, denke ich an die eigenen Erfahrungen in meiner Gemeinschaft mit dem Sterben. Wenn wir Schmerz, Veränderung und Abschied miteinander teilen, bekommt das Leben eine neue Dimension – davon habe ich eine Ahnung bekommen dürfen. Dann sind wir anders miteinander.
Ich muss an den Taxifahrer denken, der mich ins Kinderhospiz gefahren hat. Als ich ihm erzählte, wohin es geht, wurden seine Augen feucht. Sonnengebräunt, muskelbepackt, Sonnenbrille auf der Stirn, bekannte er: »Ich bin so nah am Wasser gebaut. Ich ertrage es kaum, wenn wir Patienten zur Chemotherapie fahren und sie dann irgendwann nicht mehr abgeholt werden müssen.« Er sagte, dass es ja für Menschen das Schlimmste sei, wenn ihre Kinder stürben.Und zum Abschied: »Wenn du mal wieder in Oldenburg bist, fahre ich dich, mein Freund.« In dem Moment weiß ich: Bei diesen Themen können wir mit jedem Menschen Gefühle teilen.

Rituale verwandeln
Im Eingang des Kinderhospizes hängen Schmetterlinge. Gaby Letzing erklärt: »All die Schmetterlinge sind die Kinder, die noch leben. Wenn das Kind stirbt, hängen wir den Schmetterling ab und legen ihn auf den Erinnerungstisch. Dort wird eine Kerze angezündet. Und später, in einem Abschiedsritual, fliegt dieser Schmetterling in den Himmel. Die Eltern lassen ihn meistens am Heliumballon steigen, das ist ein ganz leibhaftiges Loslassen. Später wird ein bunt bemalter Erinnerungsstein in den Garten gelegt.«Es brennt recht häufig eine Kerze, 20 bis 25 Löwenherz-Kinder versterben jedes Jahr. »Wir leben mit dem Sterben alltäglich zusammen«, sagt Gaby Letzing. »So wird die Hürde mit der Zeit deutlich niedriger, du wirst vertraut mit diesen Themen. Wir ­laden auch zu Erinnerungsabenden ein, da kommen meistens 20 bis 30 Eltern.«
Es sind ganz normale Eltern, die so durch ihr Kind auf einen spirituellen Weg, in eine innere Herausforderung geworfen werden. Können sie das annehmen? »Wenn die Eltern einen sehr trostreichen Abschied erlebt haben, und das Kind friedlich gehen konnte, dann sind sie oftmals beseelt davon. Wenn das Sterben sehr dramatisch war, dann ist das oftmals schwer auszuhalten. Mit den Ritualen beginnt da langsam eine Verwandlung.«
Nachdem ich mich verabschiedet habe, stehe ich wie am Anfang allein in der Eingangshalle. Über mir schweben gut 30 Schmetterlinge. Ein jeder für ein noch lebendes Löwenherz-Kind. Als ich kam, hatte ich sie nur als die übliche Kindergarten­folklore wahrgenommen. Jetzt sehe ich auf jedem Schmetterling ein Foto mit dem Gesicht eines Kindes. In diesem Moment wird die Eingangshalle für mich zur Kathedrale. Das Licht der Sonne tanzt mit meinem Schmerz und meiner Freude – und mein Herz beginnt sich zu öffnen. Ich bin zutiefst dankbar für diesen Ort. •


Mehr Geschichten und Bilder vom Kinderhospiz
www.kinderhospiz-loewenherz.de

weitere Artikel aus Ausgabe #23

Photo
von Bastian Barucker

Grüne Erziehung (Buchbesprechung)

Heike Freire ermutigt in ihrem Buch dazu, »grün zu erziehen«. Darunter versteht sie einerseits, unseren Kindern den so wichtigen Naturkontakt zu ermöglichen. Doch sie geht noch weiter.Ähnlich wie in den Titeln »Das letzte Kind im Wald« von Richard Louv und

Photo
Sein & Sinnvon Franziska Hoheisel

Tod, wenn du das Leben erwartest

Wenn Geburt und Tod zusammenfallen, herrscht Stille: Zum Kind, das fehlt, kommt nicht selten noch ein betreten schweigendes Umfeld. Immer mehr Initiativen zeigen lebendige Wege auf, aus der Leere hinauszutreten.

Photo
Permakulturvon Hermann Paulenz

Viele Hände – schönes Gelände

Nicht nur in der australischen ­Permakulturszene etabliert sich momentan ein gemeinschaftsstiftendes Kooperationsmodell zur Überwindung des Einsam-vor-sich-hin-Schuftens. Die »Blitz«-Aktionen ­haben ihre Wurzeln in der Tradition der gegenseitigen landwirtschaftlichen Hilfe in vielen Regionen.

Ausgabe #23
Endlich leben

Cover OYA-Ausgabe 23
Neuigkeiten aus der Redaktion