Titelthema

Gemeinschaft ist heilsam

Wir können die Grenzen unserer Trauerkultur erweitern.
von Sarah Kemkes, erschienen in Ausgabe #23/2013
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© privat

 »Mein Mann ist tot.« Die Worte stehen im Raum. Alle schweigen. Mir selbst steckt ein Kloß im Hals, auch ich traue mich nicht mehr, etwas zu sagen. »Oh, das tut mir leid«, bekomme ich mit Mühe und Not über die Lippen. Wer kennt diese Gesprächssituationen nicht?
Trauer bestimmte den Alltag von Inge K., nachdem ihr Mann verstorben war. »Wieso soll ich morgens aufstehen und frühstücken?«, fragte sie sich. Niemand war da, um sie in dieser Zeit zu begleiten. Von der Palliativstation hatte sie einen Flyer mit nach Hause genommen. »Trauercafé Leuchtturm«, stand da. »Bevor ich noch das zehnte Mal auf den Friedhof renne, gehe ich dorthin«, dachte Inge und fasste Mut. Heute ist sie stolz auf diesen Schritt. »Es war für mich wichtig, dies bald nach der Beerdigung zu tun. Einen Monat später wäre ich wohl nicht mehr hingegangen.«
Damals, im Jahr 2011, leitete die Sozialpädagogin und Familientherapeutin Sigrid Schäfer das Trauercafé Leuchtturm in Ludwigshafen. Zuvor hatte sie sich als ehrenamtliche Sterbebegleiterin beim ambulanten Hospiz- und Palliativberatungsdienst engagiert. Dass dabei die Begleitung mit dem Tod eines Menschen endete, hatte sich für sie nicht stimmig angefühlt. Wiederholt war sie gefragt worden, wohin sich Trauernde wenden könnten, und so setzte sie 2009 die Idee eines Trauercafés in die Tat um.
Das Thema Trauer kam bereits in Sigrids Leben, als sie noch ein kleines Kind war. Durch den Suizid des Großvaters musste sie erfahren, was es bedeutet, wenn Tod und Trauer in der eigenen Familie zum Tabu werden. Mit dem Café wollte sie einen Raum schaffen, in dem man offen über den Tod von nahen Menschen sprechen, sich entspannt begegnen, Kontakte knüpfen und gleichzeitig professionelle Begleitung erfahren kann.
Sterbe- und Trauerbegleiterinnen bringen einen großen Koffer an Ideen und »Werkzeugen« mit, die dabei helfen, die Verlust­erfahrung gut ins eigene Leben zu integrieren. Das Trauercafé war deshalb nicht nur ein lockeres Beisammensein, sondern hatte feste Rituale, etwa eine Eingangsrunde mit einem Redestein, der von Hand zu Hand geht, so dass alle, die möchten, etwas über ihre persönliche Lage erzählen können. »Niemand sagt in so einem Rahmen: ›Jetzt ist doch mal gut mit dem Trauern!‹, oder ›Lenk dich doch mal ab!‹. Das ist sehr wohltuend«, erklärt Inge.
Ein Treffen pro Monat war vielen Gästen des Trauercafés aber zu wenig. Sigrid hatte ursprünglich gedacht, dass sich die Betroffenen aus dem Wunsch nach mehr Kontakt untereinander eigenständig vernetzen würden, doch keiner von ihnen brachte dieses Engagement aus eigener Kraft auf. Trotzdem war Sigrid überzeugt, dass es das Beste sei, wenn sie als professionelle Begleiterin weitgehend überflüssig würde. Doch wie kann es gelingen, dass keine Leitung mehr nötig ist? Dafür bedarf es einer Gemeinschaft.

Trauern darf kein Selbstzweck werden
Vielleicht könnte so etwas wie ein Freizeitstammtisch für Trauernde zum Selbstläufer werden? Sigrid organisierte einen Raum in einer Gaststätte und kündigte das neue Projekt im Trauercafé an. Alles andere überließ sie dem Fluss der Dinge. Inge freute sich damals über diese weitere Begegnungsmöglichkeit. Zu Beginn gab es im Café noch eine Ansprechperson für den Stammtisch, heute ist das nicht mehr nötig. Die Stammtischgemeinschaft, die sich den Namen »Guck vor« gegeben hat, organisiert sich selbst. Lediglich Raum und Wochentag der Treffen sind gleich geblieben.
Wenn Inge über die neu entstandene Gemeinschaft erzählt, leuchten ihre Augen. »Wir sind füreinander da – in jedem Moment.« Am wichtigsten ist ihr die Möglichkeit, immer jemanden anrufen zu können, wenn die Trauer wieder einmal erdrückend wird. Aus dem Stammtischkreis kommen aber auch ganz praktische Hilfen: »Wo finde ich einen guten Gärtner?« Es gibt Tauschangebote: »Ich hänge deine Lampen auf, bügelst du mir dafür die Hemden?« Und gemeinsame Ausflüge: »Heute Abend gibt’s ein schönes Konzert, hast du Lust, mitzukommen?«
Das Gemeinschaftsgefüge geht so weit, dass neue Wahlverwandtschaften entstehen. Inge ist für eine junge Frau, die ihren Mann verlor, zur Ersatzmutter und somit Großmutter eines Wahl-Enkelkinds geworden. Sogar eine neue Liebe hat sich gefunden.
Nach einem Jahr verabschiedete sich Inge vom Trauercafé. »Mit jedem Treffen wurde ich wieder in das alte Loch gezogen und brauchte einige Tage, bis es mir wieder gutging«, erklärt sie. Im Café berichtet jeder stets von seiner derzeitigen Trauersituation, so dass wenig Raum für andere Themen bleibt. Inge spürte deutlich, dass diese Form der Trauerarbeit nach einiger Zeit für sie nicht mehr das Richtige war. Den Stammtisch besucht sie hingegen immer noch, denn hier haben jedes Thema und jedes Bedürfnis so viel Raum, wie es die einzelnen benötigen und die Gemeinschaft es tragen kann.
Damit beim Stammtisch nicht nur über Trauer gesprochen wird und auch unbeschwert gelacht werden kann, hat die Gruppe die »Zwei-bis-drei-Stunden-Regel« eingeführt. In dieser Zeitspanne wird bei jedem Zusammentreffen nicht über die Verstorbenen oder die eigene Trauer gesprochen. Der ganz normale Alltag soll in diesen Stunden seinen Platz haben. »Es gab Besucher des Stammtischs, die diese Regel nicht einhalten konnten. Für sie gab es nur ihre Trauer. Jeder Versuch und jede Hilfestellung wurden abgewiesen«, erzählt Inge. So kam es, dass sich eine Person wieder von der Gemeinschaft löste.
»Was ist meine Kraftquelle? Ist dies ein Ort, der mir neue Energie gibt?« – Sich solche Fragen zu stellen und eigenständig zu beantworten, hat Inge von Sigrid gelernt. Jede und jeder trägt für sich selbst die Verantwortung. Wer nicht weiterkommt, soll sich zwar Hilfe holen, aber niemals die Selbstverantwortung abgeben.

Appetit kommt beim Essen, Lebenslust beim Wandern
Die Erfahrungen des Stammtischs »Guck vor« zeigten Sigrid, dass ihre Ideen Früchte trugen. So entstand eine weitere Ini­tiative: Eine Frau erzählte, dass sie nicht gerne irgendwo sitze und Kaffee trinke, sondern lieber im Wald spazieren gehe. Alleine traue sie sich aber nicht. Sofort musste Sigrid an ihren Vater denken, einen 80-Jährigen, der den Wald, die Natur und gute Gespräche liebt. Die nächste Idee für eine Gruppe war geboren. Sigrid machte ihren Vater mit interessierten Menschen aus dem Café bekannt, die Lust auf Bewegung in der Natur hatten. Die Gruppe, die sich den Namen »Geh’ mer« gab, erwandert nun seit zwei Jahren einmal im Monat miteinander den Pfälzer Wald. Nach wie vor plant Sigrids Vater mit Begeisterung immer neue Strecken.
Ein weiteres Bedürfnis, das an Sigrid herangetragen wurde, war ein sonntäglicher Frühstücksbrunch. Der Sonntag ist bei Trauernden gefürchtet, da wiegt die Einsamkeit doppelt schwer. Der Name für die sich ebenfalls nach kurzer Zeit selbst organisierende Gruppe »GeSoLo« (Gegen das Sonntagsloch), war somit schnell gefunden.
Trauern ist ein individueller Prozess, der nicht in ein Schema gepresst werden kann. Doch das Wichtigste für alle, so Inge, war das gemeinsame Essen. In Gemeinschaft schmeckt es eben viel besser. Nicht nur das: Essen hält Leib und Seele zusammen. Beim Essen entsteht Geborgenheit; es wird möglich, sich offen voneinan­der zu erzählen. Heute hat Inge keine Scheu, auch mit nicht-trauernden Bekannten darüber zu sprechen, dass sie abends ihrem verstorbenen Mann von den Ereignissen des Tages erzählt. Manchmal bittet sie ihn um Hilfe, und hin und wieder kann es auch vorkommen, dass sie mit ihm schimpft – so wie früher eben. Trauernde haben zuweilen Angst, als psychisch auffällig zu gelten. Weshalb aber sollte es nicht »normal« sein, mit den Verstorbenen zu sprechen? Wissen wir, wohin der Ton geht, wenn er verklingt?

Die Verbindung halten
»Mein Mann ist tot.« Eine passende Antwort auf diesen Satz habe ich immer noch nicht. Doch ist das überhaupt so wichtig? Viel wichtiger scheint mir, dass ich mich von trauernden Menschen in meinem Umfeld nicht distanziere. Kleine Gesten, wie eine Karte am Geburtstag des Verstorbenen, können Wunder bewirken. Wenn ich in den kalten Wintermonaten eine leckere, warme Suppe koche, bringe ich häufig einen Teller zu meinem Nachbarn, der vor acht Monaten seine Frau verloren hat. Treffe ich ihn auf der Treppe, sagt er immer wieder: »Das Loch ist einfach zu groß! Wie will man 48 Jahre einfach so wegwischen?« Die Trauer braucht ihren Platz. Nach dem Gespräch mit Inge und Sigrid wird mir umso bewusster, warum es wichtig ist, auf der Treppe stehenzubleiben und dem Nachbarn zuzuhören.
Wir sollten alle anfangen, uns mit unserer eigenen Trauer auseinanderzusetzen, und nicht so tun, als wäre unser Erdenleben unendlich. Nichts ist unendlich, selbst ein Diamant wird irgendwann wieder zu Erde. Erst mit diesem Bewusstsein können wir offen über den Tod und die Verstorbenen sprechen. Dann bräuchten wir keine eigenen Schutzräume, keine Trauercafés und GeSoLos mehr. Trauernde würden im Alltag den Schutz ihrer Familie, ihrer Nachbarn, ihrer Freunde genießen. All diese Menschen könnten ihnen zeigen, wie sehr wir sie hier auf dieser Erde brauchen. •

 

Sarah Kemkes (26) arbeitet als freiberufliche Hebamme und macht die Ausbildung zur Sterbeamme nach Claudia Cardinal. Zuvor lebte sie ein Jahr in Indien, wo sie als Hebamme ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte.


Ein Trauercafé in der Umgebung finden
www.trauergruppe.de (im Aufbau)

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