Titelthema

Gemeinsam glücklich?

Öko-Wohnprojekte sind oft Zweckgemeinschaften – und dennoch Lebensgemeinschaften.
von Leonie Sontheimer, erschienen in Ausgabe #22/2013
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© Leonie Sontheimer

»Ich betrachte die Zeit, die wir für Entscheidungsprozesse brauchen, nicht als verschwendet«, sagt Andreas. Er wohnt in einem der beiden gemeinschaftlichen Wohnprojekte in der Wönnichstraße in Berlin-Lichtenberg. Andreas ist jung und wirkt sehr abgeklärt. »Das ist für mich Lebenszeit, in der Gemeinschaft aufgebaut wird.«

Im Jahr 1999 fanden vier Suchende ein Objekt, mit dem sie ihre langjährigen Pläne ökologischen Gemeinschaftswohnens umsetzen konnten: die Wönnichstraße 103. Als erfahrene Projektentwickler sanierten sie das Haus ökologisch und bezogen es Ende 2001. Heute leben dort 15 Erwachsene und drei Kinder. 60 Mitbewohnerinnen hat eine der Gründerinnen kommen und gehen sehen.
Vier Jahre nach dem Bezug der Wönnichstraße 103 wandten die vier Suchenden den Blick auf die andere Straßenseite, wo ein Altbau seit 15 Jahren unbewohnt war. Dieses Mal war das Objekt zuerst da und zog potenzielle Bewohnerinnen und Bewohner an, die sich über viele Monate trafen, um ihre Utopien zusammenzubringen. Der Verein Lichte Weiten wurde gegründet und kaufte die Hausnummer 104. Mit einem Kredit der GLS Bank wurde die 1,2 Millionen Euro teure ökologische Sanierung bezahlt. Die Stiftung Trias besitzt das Grundstück und verspricht, es auch in Zukunft nur an Hausgemeinschaften zu verpachten. So ist es vor dem wenig gemeinnützigen Immobilienmarkt sicher.

Hausgemeinschaftsversammlungen
Der Nachbarschaftsgarten zwischen der Hausnummer 104 und der Straße wirkt wie eine eigene, kleine Welt. Hohe Kastanien spenden Schatten, die Türen und Fenster des Hauses sind geöffnet, lassen einen heißen Sommernachmittag herein. Zwei Planschbecken stehen auf der Wiese. Die Tomaten im Gewächshaus werden rot, eine Katze schläft auf einer Decke. Es sind Sommerferien.
»Mama, ich will hier niemals wegziehen«, hat Jana vor kurzem von ihrer sechsjährigen Tochter gesagt bekommen. Jana ist 34 Jahre alt und wohnt seit der Sanierung in der Wönnichstraße 104. Derzeit leben hier 16 Erwachsene und siebeneinhalb Kinder. Sie verbindet der Wunsch, den eigenen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Eine Photovoltaikanlage, gute Wärmedämmung, eine hauseigene Regen- und Brauchwasseraufbereitungsanlage sowie eine Solarthermieanlage für warmes Wasser im Sommer und ein Pelletofen für die Zentralheizung im Winter machen das Wohnen hier ökologisch verträglicher. Dass sich auch sozial schwächer Gestellte ökologisch sanierte Wohnungen leisten können, ist ein zentrales Ziel für den Verein Lichte Weiten. Ganz besonderen Wert legt er auf das Leben in einer generationsübergreifenden Gemeinschaft. Für die Mitglieder der Nummer 104 ist es wichtig, dass es keinen Privateigentümer gibt, der mit dem Projekt Gewinn macht. Gemeinsam genutzte Räume und vor allem die Selbstverwaltung verleihen Gemeinschaftsgefühl. Dafür bedarf es einer ausgeklügelten Organisationskultur.
»Unseren Entscheidungsprozessen liegen fünf Seiten Theorie zugrunde, die jeder unterschreibt, wenn er einzieht«, erzählt Daniel und hält ein paar zusammengeheftete Blätter hoch. Daniel ist Soziologe und war mit Frau und Tochter einer der Erstbewohner der 104.
Alle zwei Wochen finden sich alle in der 104 zum »HGT« zusammen, dem Hausgemeinschaftstreffen. Welche Farbe der Hausflur haben soll und wer neu dazuziehen darf – alles wird im HGT entschieden, möglichst im Konsens. »Saubermachen war lange Zeit ein Dauerthema«, erzählt Otto, der sich im Verein um die Buchhaltung kümmert. »Ich habe mein Leben lang gemacht, was ich wollte. Hier in der Wönnichstraße muss ich mich einordnen. Das nervt schon manchmal.«
Dafür gibt es auch Entscheidungen, die leichtfallen. Das Austauschen der Toiletten zum Beispiel. Da habe eine Person auf ein allgemeines Bedürfnis der Gruppe reagiert und die Initiative ergriffen. Plötzlich ging alles ganz schnell. Die dysfunktionalen Urinseparierungstoiletten wurden durch wassersparende handelsübliche Toiletten ersetzt.
In der 103 gibt es ähnliche Strukturen: »Wir haben jede Woche eineinhalb Stunden Plenum. Alle sechs Wochen nehmen wir uns den ganzen Tag, um Sachen tiefer anzugehen«, erzählt Andreas. Grundsätzlich findet er, dass zu viele Dinge im Plenum besprochen werden, die auch in den kleineren Arbeitsgruppen ausdiskutiert werden könnten. »In der Anfangszeit dauerten unsere Treffen oft bis Mitternacht, da waren wir im Diskussionsfluss«, erinnert sich Jana. Aber viele Menschen hier seien berufstätig, teils mit Kindern, und seien abends müde. »Um immer auf einen Konsens zu kommen, bräuchten wir mehr Zeit«, meint Daniel. »Andererseits kann es frustrieren, nicht handlungsfähig zu sein. Bisher ist es uns gut gelungen, zur Aktion überzugehen, ohne jedes kleinste Detail diskutieren zu müssen«, sagt er. Es gebe Reibungen, aber keinen Dogmatismus. Das schätze er sehr. »Meine fünfjährige Tochter hat vorgeschlagen, mal ein HGT für Kinder zu machen. Es tut gut, den Kindern etwas vorleben zu können.«
Die Mitglieder der 103 stecken gerade in der Gründungsphase eines Hausvereins. Letzte Instanz soll aber weiterhin das Plenum bleiben. Ein Binnenvertrag soll dafür sorgen, dass nicht nur der Vereinsvorstand, sondern alle Mitbewohnerinnen haften. Für den Verein Lichte Weiten wiederum ist es wichtig, dass ein Vorstandsmitglied nicht im Projekt lebt, sondern eine externe Sicht bewahrt. Die Unterschiede zwischen den zwei Projekten sind fein. Sie liegen in kleinen Details: In der 103 findet sich ein Buch, in dem sich alle außerhalb des Plenums schriftlich austauschen. Im gegenüberliegenden Haus herrscht aufwendige, digitale Bürokratie. »In jedem HGT wird ein Protokoll geschrieben. Beschlüsse sind dort rot markiert. Über einen Mailverteiler erhalten alle das Protokoll und haben zwei Wochen Zeit, Bedenken zu äußern«, erklärt Daniel. Im besten Fall würden Bedenken gut vorbereitet in die nächste Versammlung getragen. Das klappt manchmal bereits aus zeitlichen Gründen nicht: Maja ist zum Beispiel gegen die Einführung eines WLAN, hat es aber zeitlich nie geschafft, ihre Argumente diskussionsreif vorzubereiten.
Beide Wohnprojekte kennen freilich auch angespannte Stimmungen in ihren Plenen. »Manchmal versuchen wir, das Problem nicht nur durch Diskussion zu lösen. Dann visualisieren wir, stellen uns zum Beispiel gemäß unserer Meinung in einem Strahl auf.« Andreas ist auch auf seiner Arbeit mit solchen Prozessen beschäftigt. Er ist Teil eines veganen Laden-Kollektivs in Neukölln.

Gehen und Bleiben
Maja, die mit ihrem Sohn von Anfang an dabei ist, wird in diesem Herbst ihre Kisten packen. Sie zieht nun richtig aufs Land, möchte Leben und Arbeiten stärker verbinden. Bei Lichte Weiten hat Maja sich mit der Kommunikation hinter den Entscheidungsprozessen beschäftigt. »Unsere Gruppe hat eine Dynamik entwickelt, die eher zielorientiert ist«, reflektiert sie. »Ich selbst interessiere mich eher für den gemeinsamen Weg, der zum Ziel führt«. Im beschleunigten Großstadtleben sei es schwierig, sich diesem Weg zu widmen. Ihr scheint, dass die zeitintensive Selbstverwaltung die Mitbewohnerinnen vor allem in körperlicher Arbeit verbindet, innere Themen fänden zu wenig Raum. Majas Sohn ist fünf Jahre alt. Er will endlich mal mit seiner Mama allein sein.
Dass Einigkeit über die Kultur der Entscheidungsfindungsprozesse entsteht, scheint sehr wesentlich. Davon kann abhängen, ob Menschen zusammenbleiben oder erkennen, dass sie besser getrennte Wege gehen. »Ich wünsche mir manchmal, wir hätten von vornherein als Gruppe mehr Übereinkünfte gehabt«, sagt Jana. Die Hausnummer 104 habe sich eben seine Bewohnerinnen gesucht. Nicht, wie in der 103, wo es mit einem Freundeskreis begann. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter hatte Jana das Gefühl, ihr falle als Kleinfamilie die Decke auf den Kopf, und so suchte sie Gemeinschaft. Ihre anfängliche Sorge, in einem Wohnprojekt kein Privatleben mehr zu haben, löste sich schnell in Luft auf. Jetzt sitzt sie entspannt auf der Gemeinschaftsterrasse, ihre zweite Tochter nackt auf ihrem Schoss. Es sieht aus, als sei Jana mit ihrer älteren Tochter einer Meinung, hier niemals wieder wegziehen zu wollen. 


Leonie Sontheimer (21) sprang in diesem Sommer für zwei Wochen zwischen der Oya-Redaktion und dem Garten in Klein Jasedow hin und her. Ihr nächster Halt ist ein Studium der Philosophie und Biologie in Berlin.


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