Gemeinschaft

Leben in Pantoffeldistanz

Eine Initiative möchte die Welt mit autarken Nachbarschaften neu strukturieren. ­Wolfram Nolte sprach mit Fred Frohofer von ­»Neustart Schweiz«, der Keimzelle einer groß gedachten Nachbarschaftsbewegung.von Wolfram Nolte, Fred Frohofer, erschienen in Ausgabe #21/2013
Photo

Herr Frohofer, Sie sind im Verein »Neustart Schweiz« engagiert. Das klingt nach einem großen Aufbruch. Was passiert dort?

Es geht um drängende Fragen: Wie können wir in Wohlstand und Zufriedenheit leben, ohne den enormen Ressourcenverschleiß weiterzuführen? Was tun, wenn das Erdöl knapp wird oder das Finanzsystem kollabiert und der Weltmarkt zusammenbricht?
Als eine mögliche Antwort propagieren wir das urbane Nachbarschaftsmodell: Rund 500 Menschen betreiben gemeinsam eine Infrastruktur für den täglichen Bedarf, unterstützen einander und versorgen sich zum großen Teil selbst. In solchen Nachbarschaften können wir viel ökologischer leben und erreichen gar bedeutend mehr Lebensqualität als heute üblich: Essen, Arbeiten, Geselligkeit und Unterhaltung finden in »Pantoffeldistanz« statt.
So wird pro Nachbarschaft ein Mikrozentrum betrieben: Im Lebensmitteldepot bedient man sich, falls man selber kochen möchte. Andernfalls versorgt man sich aus der Großküche oder isst gleich im Restaurant. Weiter ist vielleicht eine Kinderbetreuung nötig, zudem können Werkstätten, eine Bibliothek oder etwa eine Sauna eingerichtet werden – was eben infrastrukturell in der unmittelbaren Nachbarschaft sinnvoll erscheint. Das alles ist nicht kommerziell ausgerichtet, sondern wird unter Beihilfe von Profis selbstorganisiert betrieben.
Der ökologische Gewinn besteht darin, dass private Nutzungen durch gemeinschaftliche ersetzt werden; zudem sind die Dinge des täglichen Bedarfs zu Fuß in rund einer Gehminute erreichbar. Dadurch werden enorm viel Energie und Ressourcen eingespart. Und: Niemand muss auf irgendetwas verzichten.
In der Schweiz könnten rund 14 000, weltweit etwa 14 Millionen solcher Nachbarschaften geschaffen werden – das Modell lässt sich überall anwenden. Rund zehn bis zwanzig Nachbarschaften ergeben ein Quartier oder eine Kleinstadt, wo etwa Grundschulen und Säle sowie Gesundheitsinfrastruktur vorhanden sind. Mehrere Quartiere bilden größere Städte, die unter anderem Stadien und Gymnasien betreiben. Die nächstgrößere Einheit sind die Regionen mit – je nach Topografie und Verflechtung – mindestens 200 bis 20 000 Nachbarschaften, in denen etwa Universitäten und Fachkliniken, aber auch staatliche Dienstleistungen angeboten werden.
Für eine sinnvolle Raumplanung empfehlen wir, in solchen Modulen zu denken.

Bleiben wir erst einmal bei der Nachbarschaft. Was macht das Zusammenleben in solchen Räumen nachhaltiger?

Essen müssen wir alle, täglich. Es lässt sich bereits enorm viel Energie einsparen, wenn man sich nicht selber sein Portiönchen kocht, sondern von der Großküche verpflegt wird. Doch da steckt noch viel mehr Potenzial drin, denn 28 Prozent der gesamten Umweltbelastung stammen heute von der Nahrungsmittelproduktion. Es werden auch im Schnitt für die Erzeugung einer Kilokalorie Nahrung zehn Kilokalorien Erdöl verbraucht. Das können wir uns künftig nicht mehr leisten. Wir müssen weg von Verschleißprodukten hin zu regional erzeugter Qualitätsware. So soll jede Nachbarschaft in maximal 50 Kilometern Entfernung ihr eigenes Agrozentrum haben, das sie mit dem Großteil der benötigten Nahrungsmittel versorgt. Die Nachbarschaften finanzieren den Anbaubetrieb, entscheiden und arbeiten dort mit, wenn sie das wollen. Dieses Modell feiert ja bereits weltweit als Community Supported Agriculture (CSA) bzw. als solidarische Landwirtschaft Erfolge.

Nachbarschaften mit landwirtschaftlicher Selbstversorgung sind für Neustart Schweiz offenbar der entscheidende Hebel für einen ökologischen und sozialen Wandel. Aber ist der notwendige Um- und Neubau nicht sehr aufwendig und teuer? Können kleine Initiativgruppen so etwas stemmen?

Wir bezahlen heute viel Geld fürs Wohnen in Renditebauten. Und das Essen kaufen wir meist börsennotierten Nahrungsmittelkonzernen ab. Dieses Geld kann neu kanalisiert werden, so dass die Lebensgrundlagen gefördert statt zerstört werden. Daran müsste jeder Staat Interesse haben. Warum sollte er – bei Schweizer Verhältnissen – nicht bereit sein, rund 800 000 Euro pro Nachbarschaft als Initialinvestition auszuschütten? Das beschleunigt den Umbau. Zudem würde diese staatliche Investition das lokale Gewerbe fördern, Beschäftigung für alle bringen, Probleme der Überalterung abfedern, den sozialen Zusammenhalt und die Solidarität festigen und die Abhängigkeit vom Ausland verringern.

Sie haben offenbar – vielleicht, weil Sie in der Schweizer Demokratie leben – ein gesundes Vertrauen in die staatliche Vernunft. Um so nachdrücklicher möchte ich fragen: Wie wollen Sie die Menschen für nachbarschaftliches Wohnen gewinnen?

Von oben herab kann man das nicht diktieren, die Initiative muss aus der Bevölkerung kommen. Es gibt aber bereits genug Interessenten, um erste Nachbarschaften umzusetzen. Derzeit fehlt es uns an geeigneten Grundstücken bzw. bestehenden benachbarten Bauten für rund 500 Leute. Aber wir sind ja immer noch ganz am Anfang.
Mit den Erfahrungen, die wir bei den ersten Umsetzungen sammeln, dürften wir weitere Menschen motivieren, auch wenn es ihnen nur ums zentrale Wohnen geht. Wir rechnen damit, dass ein Drittel der Bewohner partizipieren. Das genügt bereits, um die gemeinsame Infrastruktur zu betreiben. Da diese zweckorientiert, nah und sinnvoll ist, dürften sich die anderen beiden Drittel zusehends auch dafür interessieren.
Als überzeugender Faktor dürfte sich zudem erweisen, dass das Leben kostengünstiger wird. Der große Kostentreiber »Wohnen« reduziert sich, denn es wird weniger individuelle Wohnfläche benötigt: Das Leben findet ja vermehrt in der Nachbarschaft, etwa im Mikrozentrum, statt. Weiter lassen sich durch Selbstverwaltung Kosten einsparen. Mit CSA werden zudem die Lebensmittel preisgünstiger sein – und das bei viel besserer Qualität. In den heutigen Lebensmittelpreisen stecken ja durchschnittlich 50 Prozent Kosten für Transport und die meist nicht weniger unnötige Verpackung. Ein beachtlicher Teil sind zudem Zinsen und Renditen, die ja auch vom Verbraucher mitbezahlt werden müssen. Das alles fällt weg. Und organisiert man etwa die familienexterne Kinderbetreuung im Kollektiv, dann kostet so etwas kaum Geld, nur ab und an etwas Zeit.

Arbeiten Sie mit anderen gesellschaftlichen Akteuren wie Transition-Gruppen, Gemeinschaftsprojekten und Ökodörfern, NGOs, Parteien, Behörden zusammen?

Nur wenn aus den Ökodörfern Agrozentren für die Nachbarschaften werden, sehen wir eine Zusammenarbeit mit ihnen als sinnvoll an. Wer auf dem Land ökologisch leben will, lebt ein relativ isoliertes, lokal verwurzeltes Dasein mit wenig sozialem Austausch über die eigene Scholle hinweg. Ökodörfer verbrauchen zu viel Fläche und bedingen erhöhte Mobilität, daher sind wir gegen solche Wohnformen – gerade in der Schweiz, die sehr unter der Zersiedelung leidet.
Wir haben uns bisher stark auf die Entwicklung des Nachbarschaftsmodells konzen­triert, da blieb die Vernetzung leider etwas auf der Strecke. Doch haben wir letztes Jahr den Verein »Danach« gegründet, mit dem die Vernetzung aller am Wandel Interessierten vorangetrieben wird. »Danach« hat nicht nur den ökologischen Wandel im Auge, sondern auch Alternativen zum Finanz- und Wirtschaftssystem.

Um ganz konkret zu beginnen, haben Sie auch eine Bau- und Wohngenossenschaft in Zürich mitbegründet, die sich »Neustart Nachbarschaft, die Erste« nennt, abgekürzt NeNa1.

Ja, wir begannen letztes Jahr mit sieben Personen, der Minimalanzahl für Genossenschaften. Heute sind wir 43 Mitglieder in der Genossenschaft. Im nächsten Jahr wollen wir auf 420 Mitglieder anwachsen – mit deren Kindern wären wir dann bereits eine theoretische Nachbarschaft von 500 Menschen. Sobald wir an die Umsetzung gehen, dürften etliche weitere dazustoßen.

Haben Sie schon Grundstücke im Blick?

Wir möchten die erste Neustart-Nachbarschaft in Zürich errichten. Der bewohnbare Boden ist dort zwar ungemein begehrt, doch wird in den nächsten Jahren eine sehr zentrale Überbauung frei: die ehemalige Militärkaserne. An deren Stelle schlagen wir eine zwei Nachbarschaften umfassende Pio­nieranlage für die 2000-Watt-Gesellschaft vor. Dieses Modell der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hat die Züricher Bevölkerung bereits in einer Abstimmung befürwortet.
Damit haben wir uns in die öffentliche Ideenfindung für das Kasernenareal eingeklinkt. Die Idee einer »Schule für die 2000-Watt-Lebensweise« wurde von der Öffentlichkeit gut aufgenommen. Natürlich gibt es auch noch andere Ideen für das Areal. Doch wirklich sinnstiftend ist bisher nur unser Vorschlag. Wir bleiben dran. 

 

Fred Frohofer (50) lebt und arbeitet als Web-Publisher in Zürich. Er ist Gründungsmitglied und im Vorstand der Vereine Neustart Schweiz, Danach sowie der Genossenschaft NeNa1.

 

Weiterlesen und durchstarten
www.neustartschweiz.ch
www.nena1.ch
www.danach.info
www.2000watt.ch

Literatur:
Die letzten drei Bücher des Autors P. M. drehen sich um die hier besprochenen Ideen: 

• Neustart Schweiz. Zeitpunkt Verlag, 2010 
• Kartoffeln und Computer. Edition Nautilus, 2012 
• ­Manetti lesen. Edition Nautilus, 2012.

weitere Artikel aus Ausgabe #21

Photo
von Theresa Zimmermann

Nexthamburg (Buchbesprechung)

Gemeinsam mit vielen Menschen eine Bürgerinnenvision für Hamburg zu entwickeln, Ideen zu bündeln und Alternativen zur derzeitigen Stadtentwicklung zu artikulieren – das hatte sich das Team von Nexthamburg vorgenommen und erfolgreich verwirklicht. 2009 startete die

Photo
von Sylvia Buttler

Der unsichtbare Tropenhelm (Buchbesprechung)

Der leichtfüßige Titel und das handliche Format dieses Buches lassen zu Beginn der Lektüre kaum erahnen, welch schwergewichtigen Inhalt den Leser erwartet. Viel mehr als nur ein Denkanstoß, ist dies ein Buch, das lange nachwirkt.Der erste Teil untersucht die Geschichte des

Photo
Lebenswegevon Sabrina Gundert

Lachend zurück ins Leben

Zühâl Mohren ist Lachyogatrainerin, Kindertrauerbegleiterin und Hospizhelferin. Ihr Mann, ihre große Liebe, starb an einem Herzinfarkt, als sie 29 Jahre alt war. Jahrelang litt sie an Depressionen und hatte oft nur noch den Wunsch, zu sterben – bis sie aus purem Versehen in einer Lachyogagruppe landete. Damit begann ihr Weg zurück ins Leben. Gerade bereitet sie sich auf die Prüfung zur Heilpraktikerin vor. Ohne ihre Trauer zu unterdrücken, kann sie heute überall um sich herum Lebensfreude verbreiten.

Ausgabe #21
Im Ernstfall: Lachen!

Cover OYA-Ausgabe 21
Neuigkeiten aus der Redaktion